Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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165.

Leeds, den 13. September 1881.

In diesen Zeiten allgemeiner Notlage fängt man auch in England an, sich nach der Decke zu strecken und versucht da und dort mit seinem Reichtum sparsamer umzugehen. Das versteht man auf dem alten Festland weit besser als hier, und so kam ich in den letzten Wochen zu einer Studienreise, von der ich mir zuvor nicht hätte träumen lassen. Vor Jahrzehnten war es ein alltägliches Vorkommnis, daß deutsche Ingenieure nach England pilgerten, um nach Haus zu nehmen, was sie erwischen konnten. Sollte mit der Zeit die umgekehrte Bewegung einsetzen?

Greig schwärmt in Ermanglung von etwas Besserem seit Wochen für Kohlenwäschen: große, fabrikartige Anlagen, in denen die Steinkohle von dem ihr anhaftenden Gestein und Schmutz gereinigt wird. Die Einrichtungen sind in England verhältnismäßig unbekannt. Man saß zu sehr wie der Vogel im Hanfsamen. In Belgien, Deutschland und Frankreich sollen sie in hohem Grad entwickelt sein, und so erhielt ich den Auftrag, eine Entdeckungsreise anzutreten und alles Wissenswerte auf diesem Gebiet heimzubringen. Damit mir die Sache nicht allzu leicht werde, wurde mir der kleine Jem Greig, des Hauses vierter Sprößling, mitgegeben, der bei dieser Gelegenheit lernen sollte, wie man sich auf technischen Forschungsreisen mit Takt und Frechheit durchschlägt. Es war keine Kleinigkeit, das Bürschchen in Ordnung zu halten.

Belgien, Nord- und Südfrankreich und vor allem das Ruhrgebiet in Deutschland boten uns alles Wünschenswerte. Schwarz wie ein verkommener Kohlenbrenner, aber voll von Skizzen, Notizen und Berechnungen kam ich zurück, nachdem ich allerdings meinen kleinen Pflegebefohlenen in Brüssel verloren hatte. Er ist soeben, ohne einen Heller in der Tasche, wieder aufgetaucht und bat mich geheimnisvoll, ihm doch Wege und Mittel anzugeben, wie er die kleinen Schulden bezahlen könne, die er als Denksteine seiner Anwesenheit auf der Heimreise da und dort hinterlassen habe. Der Junge ist sichtlich nicht auf den Kopf gefallen und kein schlechter Kerl, aber ein »Früchtchen« kann er werden, wenn er in dieser Weise weiterstudiert.

In Lüttich hatte er schon auf der Ausreise, trotz unsers kurzen Aufenthalts, ein betrübendes Abenteuer, das mich sehr erheiterte. Er ist nämlich, allerdings etwas frühzeitig, den zartesten Empfindungen der menschlichen Seele zugänglich und hatte in Leeds eine gewisse Polly zurückgelassen. Dies ist der süße Name der meisten Gegenstände jugendlicher Zärtlichkeit in England sowie auch aller Papageien im Land. Er wie ich hatten unsre Briefe postlagernd nach Lüttich bestellt, und da wir wenig Zeit hatten, schickte ich meinen jungen Freund mit meiner Karte nach der Post, während ich Gepäck und Eisenbahnkarten nach Köln besorgte. Blau vor Zorn und der Verzweiflung nahe kam er nach einer Viertelstunde zurück und wollte sich nicht trösten lassen. Das Geschick hatte ihn allerdings schwer geprüft, und zwar so:

Aus Gründen, die nur einem liebenden Herzen erklärlich sein mögen, hatte sich der kleine Spitzbube unter einem falschen Namen schreiben lassen – »James Graham, Esquire«, statt einfacher und wahrheitsgetreu: Jemmy Greig. Das Vorzeigen meiner Karte verschaffte ihm sofort die von mir erwartete Kunde, daß für mich nichts da sei. Man ist es in Leeds schon längst gewohnt, mich in schwierigen Tagen zappeln zu lassen, so gut ich kann. Darauf fragte er mit der Keckheit des jugendlichen Verbrechers nach Briefen für James Graham, Esquire, und o Glück! – sie hatte geschrieben! Der Postbeamte hielt ohne Herzklopfen und mit dummem Zaudern die süßen Zeilen zwischen seinen verknöcherten Pfoten. »James Graham, Esquire – oui!« brummte er. »Haben Sie eine Karte?« Der arme James Graham, Esquire, hatte aber keine Karte. »Haben Sie irgendeinen Brief, eine Unterschrift, irgend etwas Schriftliches, das Ihre Identität nachweist?« – Der unglückliche Mr. Graham hatte die Tasche voll Briefe und Dokumente, einem gewissen Jem Greig gehörig, aber auch nicht einen Fetzen von oder für Graham, Esquire, und der Barbar hinter dem Briefladengitter blieb unerbittlich. James Graham, Esquire, konnte Pollys niedliche Handschrift durch das Fensterglas betrachten, solange er Lust hatte, aber er bekam das Briefchen nicht. Alles, was der Unmensch zu tun versprach, war, es nach Köln zu schicken, wo Jem hoffen mochte, einen Postbeamten von weicherem Gemüt zu finden.

Nachdem ich mich von Lüttich bis Köln an seiner Verzweiflung geweidet hatte, beschloß ich, ihm zu helfen. Wir konnten in Köln einen Rasttag machen. Noch am Abend, nach unsrer Ankunft im Hotel, ließ ich Jem einen leeren Briefumschlag an »James Graham, per Adr. Mr. M. Eyth, Hotel Viktoria, Köln« adressieren, den wir sogleich in den Hotelpostschalter warfen, der denn auch am andern Morgen gebührend und feierlich ankam. Mit dem gestempelten Briefumschlag ausgestattet, erhielt nun Jem am Abend den richtig von Lüttich angekommenen Brief seiner Polly ohne Anstand, und die brausenden Wogen seines schwergeprüften Herzens legten sich.

Was sonst über Kohlenwäsche zu berichten wäre, will ich lieber dem achtbaren Haus John Fowler & Cie. anvertrauen, als dem heute etwas leichtfertigen Postpapier.


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