Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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92.

Wien, den 11. Juni 1875.

Mit dem Staub der Ukraine und Podoliens auf den Stiefeln und mit drei Eisenbahnnächten in den Gliedern kam ich gestern hier an.

In Kiew wurde ich drei Tage lang aufgehalten, um einen russischen Millionär zu sprechen, der in unsre Stricke zu fallen geneigt ist. Er sollte seit einer Woche mit jedem nächsten Zug kommen. Schließlich gab ich ihn auf, zahlte meine Rechnung, fuhr an den Bahnhof, nahm meine Karte nach Wien und gab mein Gepäck auf. Zehn Minuten vor der Abfahrt des Wiener Zugs kommt einer von Moskau an. Darin saß mein unbekannter Gönner, was mir ein Kind Israels verriet, das den Millionär sofort gerochen hatte. Mit Blitzesschnelle und Hintansetzung von Hab und Gut war ich wieder am Grand Hotel, das ob meiner Wiederkunft nicht wenig erstaunte.

Die Besprechung mit dem russischen Nabob war nicht belehrend. Er spricht nichts als Russisch, ich alles andre eher. Wir mißverstanden uns deshalb nach wenigen Worten und trennten uns mit der stummen Versicherung beiderseitiger Hochachtung. Die Hauptsache ist jedoch, wie mir sprachkundige Gelehrte mitteilen, soviel als abgemacht. Nur will der Herr erst nach Stawischtsche gehen und dann gleich zwei Apparate kaufen, anstatt bloß einen einzigen, wie andre vernünftige Menschen.

Am nächsten Tag machte ich meinen zweiten, erfolgreicheren Versuch abzureisen.

Wer jedoch die Unvorsichtigkeit hat, dem diensteifrigen Portier des Grand Hotel mitzuteilen, daß er mit einem bestimmten Zug abzugehen wünsche, ist sicher, sich und sein Gepäck eine Stunde zu früh auf dem Bahnhof zu finden. Das russische Volk wird gegenwärtig zum Begriff der Zeit erzogen. Was auch in Deutschland kein Schulstecken zustand gebracht hat, bringt etwas Kohle und Wasser, in richtiger Weise angewendet, spielend zuweg. Die Lokomotive pfeift, und sie tanzen alle in leidlich richtigem Takt.

In Kiew ist übrigens das Zufrühkommen eine lohnende Unterhaltung. Auch kostet das Aufgeben des Gepäcks fast ebensoviel Zeit wie in Österreich. Mehrere Mathematiker in einem Glaskasten sind eifrig beschäftigt, die Kosten festzustellen, die dann mit Beihilfe der überall umherstehenden Söhne Judas dem Reisenden deutlich gemacht werden, der schließlich hilflos dem Kassier sein alles darbietet, mit dem Wink, sich gütigst selbst zu bedienen. Es ist nur gerecht, daß Menschen, die auf russisch nicht bis auf fünf zählen können, bei dieser Gelegenheit für ihre Unwissenheit eine Kleinigkeit zu entrichten haben. Dabei wissen sich Droschkenkutscher, Gepäckträger und all dieses Volk das Ansehen ruhiger, gutmütiger Billigkeit zu geben, die wohltuend wirkt und es sicher verdient, daß man ungefähr zweimal soviel bezahlt, als recht und billig ist.

Trotzdem schlossen die vier Wochen, die ich diesmal in Rußland zubrachte, in befriedigender Weise. – Man muß sich's allerdings nicht verdrießen lassen, gelegentlich ein andres Ziel zu erreichen als das gewollte. Wenn es nur ein Ziel ist!

Von Leeds und London, die sich schon im September in ihre herbstlichen Nebel hüllen, ging's nach den rebenumrankten Geländen Oberitaliens, um diese sonnige Welt mit Straßenlokomotiven zu beglücken! Selbst mein Gewissen regte sich, und ich war fast froh, wenn ich daran dachte, wie unansehnlich sich die zwei schwarzen rauchenden Ungeheuer, die ich in die Gegend von Bergamo verpflanzte, angesichts der schneegekrönten Bergkette ausnehmen würden.

Dann ging's nach meinem Hauptreiseziel, nach Ferrara, wo mich in meiner alten Stella d'oro der alte Kellner mit Freuden und dem alten schlechten Französisch begrüßte. Ich war sein einziger Gast, und dazu scheinbar ein Inglesi.

Welcher Unterschied zwischen heute und dem letzten Dezember! Damals saß ich bei einem erbärmlichen Licht, den Tisch dicht an das elende Holzfeuer gerückt, das keinen Hund erwärmt hätte, in der Stadt der Eftes, Tassos und Ariosts, und draußen war's still wie in einer Totenkammer. Der Schnee lag zollhoch in den Straßen, und keine italienische Nase wagte sich unter dem Kalabreser und dem romantisch umgeschlagenen Mantel hervor.

Jetzt stand alles im Festgewand des sonnigen Herbstes. Rebengirlanden, meilenlang von Baum zu Baum gezogen, wiegten sich in üppiger Zierlichkeit in der milden Luft. Das einzige Hindernis für den ungestörten Naturgenuß war der stechende Geruch modernder Hanfstengel, die um diese Jahreszeit das unangenehmste Ernteverfahren durchmachen, das die Natur kennt.

In Ambrogio, wohin ich übersiedeln mußte, um dem Dampfpflug näher zu sein, ist von all der Herrlichkeit allerdings nichts mehr zu sehen. Eine unabsehbare, fast baumlose Fläche; nur im Norden ein kleiner duftiger Hügel. Darüber die blaue Halbkugel, ohne Wechsel und ohne Trübung bis herab an die fast mathematisch kreisförmige Linie des Horizonts. Drei Meilen von unsern Feldern lag das Dörfchen und darin mein Bauernhäuschen, von Moskitos und Skorpionen und von friedlichen Banditen bewohnt, die für ein Stübchen mit Familienhimmelbett, wackligem Tisch und wackligem Stuhl die Hotelpreise von Wien und für ein paar Eier einen Frank fordern. Bei Tisch die Gesellschaft von Hunden, Katzen, Tauben und Hühnern.

Auch das Klima ist unerfreulich. Überall riecht und spürt man Sumpfluft, Sumpfwasser, Sumpffieber. Bei den Wohlhabenden gehört Chinin zur täglichen Nahrung. Das einzig Tröstliche ist, daß eigentlich niemand an diesem Übel stirbt und daß die Leute sich achtzig Jahre lang schütteln und den Fieberschweiß von der Stirne abtrocknen. Die heißen Tage, die kaltfeuchten Morgen und Abende, der Geruch von faulen Pflanzen und stehendem Grundwasser verrät alsbald, was der Neuling zu erwarten hat.

Trotz alldem hatte der Dampfpflug wacker gearbeitet, und meine neue Maschine zum Gräbenziehen war angekommen. Es war mir deshalb besonders lieb, daß endlich auch die Abordnung von Turin erschien, um unsre Arbeiten zu besichtigen. Ich weiß nachgerade mit solchen Besuchen umzugehen. Je geschwinder man den Leuten zeigt, was ihnen gefällt, um so glücklicher sind sie. Ich hatte daher alles auf einem einzigen Felde zusammengestellt. Den Pflug fanden die Herren in flotter Tätigkeit. Hundert Schritte davon arbeitete eine Dampfegge und ein Kultivator. Dort war auch ein Entwässerungsgraben über die Hälfte des Feldes gezogen. Die Maschine stak im Boden begraben, bereit, ihre Arbeit fortzusetzen. Die beiden Lokomotiven stampften stöhnend dem Graben zu. Es ist ein gruseliges Vergnügen, sie über den schlammigen Urbrei der Erde laufen zu sehen, den nur eine schwache, härtere Kruste bedeckt. Die meterbreiten Ränder gehen wie auf Kautschuk, und der Boden bewegt sich wie eine große Woge vor und hinter ihnen. Nun stehen sie, Rücken gegen Rücken, hundertundfünfzig Schritte vor der Grabmaschine. Die nächsten fünf Minuten sind der Hauptspaß des Tages. Meine Engländer nehmen in diesem feierlichen Augenblick die Lokomotiven in die Hand, die beide gleichzeitig die Grabmaschine zu ziehen haben. Ich selbst stelle mich zum Steuern auf die letztere, eine ausgesteckte Linie zwischen mir und den Dampfmaschinen, hinter mir der bereits mit Wasser sich füllende, drei Fuß tiefe, fünf Fuß breite Graben. Ein Pfiff der Maschinen, ein Zeichen mit dem Hut meinerseits und los geht's. Die Maschinen keuchen zu Anfang in unregelmäßigen Stößen, die Drahtseile spannen sich und scheinen selbst vor Aufregung zu zittern. Der Gräber, der wie für ewige Zeiten in einem Erdberge eingerammt schien, zuckt ein paarmal, wie wenn er sich besänne, ob's wirklich ernst sei. Der Boden, vier, fünf Schritte vor ihm, zittert in jähem Schrecken mit, und dann geht's vorwärts, langsam, regelmäßig, unaufhaltsam, im Tempo eines Parademarsches. Ich habe keine Zeit, nach hinten zu sehen; denn ich bemühe mich, die ausgesteckten Stäbe genau mit der Spitze des Gerätes zu überfahren, und zugleich lausche ich, wie auf die lieblichste Musik, auf das regelmäßige Puffen der Maschinen, das mir anzeigt, daß wir jedenfalls noch nicht an der Grenze unsrer Kraft angekommen sind. Hinter mir öffnet sich der Graben; die Erde steigt in zwei gewaltigen Wogen aus der feuchten Tiefe und legt sich in regelmäßigen, glattgestrichenen Hügeln auf beide Seiten des neuen Kanals. In fünf Minuten ist diese Szene abgespielt. Jetzt sollten die Maschinen um weitere hundertfünfzig Schritte versetzt und die Seile aufs neue ausgezogen werden. Aber seit einer Stunde schon hat es stetig geregnet; wir alle sind pudelnaß. Die Abordnung heuchelt die höchste Befriedigung und rettet sich ins Trockene.

Am folgenden Tag nahm ich Abschied von Ambrogio. Es hatte auch mich schließlich gepackt. Eine Nachtfahrt von Bologna nach Turin, mit einem gesunden, jungen Fieber im Leib, ist nicht angenehm, so landesüblich es sein mag. In Turin war ich deshalb wenig betrübt, als ich erfuhr, daß der Präsident der Ferrareser Gesellschaft abwesend sei und frühestens am andern Tage eintreffen könne. Ohne Federlesens legte ich mich zu Bett und machte Gedichte. »Schilflieder«, wie sie Lenau nennen dürfte, und »flott aus dem Leben gegriffen«, wie die Rezensenten sagen würden, wenn sie wüßten, was ein Sumpffieber aus der Gegend von Ferrara ist. Das erste lautet also:

Ich lieg' in fremdem Lande krank
– Zum Kuckuck Po und Tiber! –
In allen Kleidern den Sumpfgestank,
In allen Gliedern das Fieber.

Sie deponierten mich in Turin,
Im trefflichen »Hotel Feder«,
Und sagten: »ein Glück sei's immerhin,
Daß meine Natur von Leder«.

Ich hab' mit Erfolg in der Fische Revier
Gepflügt und Gräben gezogen,
Und Frösche und Kröten hab' ich um ihr
Historisches Recht betrogen.

Mit Schweiß und Blut und Dampfeskraft
Schuf ich Felder im sumpfigsten Tale;
Jetzt heißt es: es bleibe doch zweifelhaft,
Ob sich die Geschichte bezahle.

Doch sicher ist: ich liege krank,
Vom Fieber gründlich gemeistert,
Und sicherer des Teufels Dank,
So oft man sich begeistert.

Beim letzten dieser Sumpfliedchen war mir schon etwas besser:

Was willst du? Wo öde die Brandung braust,
Da läßt mit friedlichen Waffen
Der alte Goethe den blinden Faust
Kämpfen und graben und schaffen.

Alle Lebensweisheit und alles Genie
Wußten's nicht weiter zu bringen,
Als im Wasser zu stehen bis an das Knie
Und zu graben, zu schaffen, zu ringen.

So läßt er ihn graben im grauen Haar,
Bis er sein Grab sich gegraben;
Und das war der Menschheit weisestes Paar!
Willst du es besser haben?

Nach zwei Tagen hörte glücklicherweise das Dichten auf, denn ich war wieder gesund und mußte so rasch als möglich sehen, über Triest nach Wien und Ungarn zu kommen, wo die Verwaltung des Erzherzogs Albrecht, der es mit Steinkohle zu gut geht, mit Torf pflügen möchte.


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