Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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85.

Stawischtsche, den 25. Oktober 1874.

Gestern ist der erste Regen gefallen, seitdem ich hier bin. Heute stürmt es schon winterlich über die öden Steppen. Nächsten Sonntag kehre ich dem stummen Land den Rücken, in dem auf Meilen und Meilen nichts den müden, staubgetrübten Blick festhält als da und dort ein Totenhügel aus der Zeit der Völkerwanderung.

Aber ich tue der Gegend vielleicht unrecht. Ein Brief, der aus einem bessern Monat stammt und nach längerem Umherirren übel zugerichtet soeben zu mir zurückkommt, erinnert mich daran. Man muß die Hochflächen der Ukraine sehen, wenn das wogende Meer der Kornfelder der Sichel zureift, wenn sich, soweit das Auge reicht, der goldene Segen dieses wunderbaren Gaus ausbreitet, und nichts auf der Welt zu sein scheint als ein blauer Himmel und die goldgelbe, dankbare Erde. Auch hat die Ukraine ihre Tälchen, ihre Teiche, ihre versteckten Wäldchen, wahre Schmollwinkel der Schönheit der Natur, in welche sie sich versteckt zu haben scheint, und aus denen sie nur um so reizender, weil oft so ganz unerwartet, hervorlächelt. Dann hat sie ihre Sonnenuntergänge, glühend in wirbelndem Staube, der jedem bewegten Wesen folgt wie ein Schatten, und dann ihre stillen Sonnenaufgänge –

Ja, still ist das Land und stumm. Man hört nichts, man sagt nichts. Die Welt draußen mag sich um Bismarck oder den Papst müde toben, die Karlisten mögen Madrid nehmen und die Madrider Kuba verlieren: man weiß es nicht, und wenn man's erfährt, scheint es so unwichtig, daß man kaum den Mut hat, es weiter zu erzählen. Als ob alles Interesse am Leben der großen Welt am Erstarren wäre! Und man fühlt jeden Augenblick, daß es ein unsichtbarer Druck von außen und von oben ist, der die Erscheinung verursacht. Die Leute stellen sich tot, aber man merkt, wie unbehaglich es ihnen dabei ist.

Ich war in andern Ländern, die unter einem politischen Druck lagen. Wie anders machte sich die Sache dort! Knirschende Zähne, Wutgeschrei, geballte Fäuste. Es war recht häßlich. Aber die Menschen blieben dabei doch am Leben. Hier ist es unheimlich, wie auf einem Kirchhof lebendig Begrabener.

Was mich überrascht, ist die gewaltige Ausdehnung des Polentums. Hier in Kleinrußland glaubte ich das alles schon längst verschwunden. Es blüht und wuchert – würden die Russen sagen – in aller Stille aufs üppigste.

Die letzten Wochen waren eine Reihe harter Arbeitstage, die in Fastow begannen. Nachdem die Maschinen unter mannigfachen Fährlichkeiten ausgeladen waren, zeigte sich die Überführung nach Stawischtsche förmlich erfinderisch an Schwierigkeiten aller Art. Dem Wassermangel mußte mit einer ganzen Karawane von ochsenbespannten Wasserfässern begegnet werden. Für Brücken und Brückchen führte ich zwei Wagenladungen von Balken mit, um Übergänge notdürftig stützen zu können. In den Dörfern nahm die männliche Bevölkerung da und dort eine bedrohliche Haltung an, so daß ich meine kleine Mannschaft für ein Handgemenge bereithalten mußte. Die Weiber geleiteten uns mit Jammern und Heulen von End zu End ihres Dorfes, in Todesangst vor den sprühenden Funken der Maschine, die ihre Strohdächer bedrohten.

Eine besondere Landplage bildete die Judenschaft, die, von unendlicher Neugier getrieben, sich in hellen Haufen einfand. Anderseits waren diese Leute aber auch unermüdlich, alles herbeizuschleppen, was ich irgend nötig haben konnte: Holz, Kohle, Öl, Putzlappen, Kleider und Nahrungsmittel, ja sogar ein hierzuland seltenes Kunsterzeugnis: Seife. Ich hätte ohne die Juden diese drei Tage kaum überlebt.

Endlich waren wir am Ziel. Es ist in Rußland kein Spaß, selbst einen gewöhnlichen Dampfpflug in Betrieb zu setzen. Soll man zugleich nicht bloß etwas Neues einführen, sondern für das Neue erst hier die nötigen Erfahrungen sammeln und diese sogleich praktisch verwerten, so wird die Sache ein »Kampf ums Dasein« der ernstesten Art. So war es mit der Strohbrennerei. Unsre Versuche in Leeds waren nur stundenlange Spielereien gewesen. Hier hatte ich die wirkliche Aufgabe vor mir, und dabei ging's denn auch, bei aller Umsicht, drunter und drüber.

Wir feuerten zuerst, um die Leute einzuüben, mit Holz, dann mit Repsstroh, schließlich mit gemeinem Weizenstroh. Erst hierbei zeigten sich ernste Schwierigkeiten.

Einem verzweifelten Freitag folgte ein triumphierender Samstag. Am Sonntag posaunte ich Viktoria nach England und Deutschland. Ich hatte zu früh geblasen. Das Wesentliche der Feuerungsanlage bestand in einem beweglichen Rost, der das brennende Stroh schüttelt, das ohne dieses Schütteln in eine feste, unverbrennliche Masse zusammenbackt. Am Montag brachen infolge der Hitze fünf Roststäbe, am Dienstag drei, am Mittwoch vier. Jedesmal wurden Änderungen vorgenommen; nichts wollte helfen. Ich verbrannte Roststäbe so schnell als Stroh, was sich nicht wohl bezahlen konnte. So warf ich schließlich mit schwerem Herzen den beweglichen Rost, auf den ich mir viel zu gut getan hatte, ganz weg und ließ das Stroh mittels der einfachsten aller Maschinen, einer Strohgabel, einführen und in Bewegung setzen. Dreimal mußte auch dann die Einrichtung verändert werden, bis die Sache anstandslos ging. Zur Abwechslung entstand gelegentlich eines sturmartigen Windes eine Strohfeuersbrunst in unserm berghoch aufgehäuften Brennmaterial. Einer meiner Engländer steuerte die schwer bedrohte Maschine mutig aus dem Flammenmeer heraus und verbrannte seinen Bart nicht übel. Mir selbst wachsen die neulich abgebrannten Kopfhaare langsam, aber erfreulich nach. Indessen, an diesem Tage trat der Wendepunkt ein. Am folgenden ging es den ganzen Tag so flott, als ob wir Kohlen hätten. Die Gefahr für den Rost war beseitigt. Zwar der Teufel ist verschmitzt und versteht mit Feuer zu hantieren, sogut wie einer. Aber ich sehe nicht, wie und wo er mir diesmal wieder ein Bein stellen könnte.

Und nun denke ich mit fröhlichem Herzen an den Abschied. Hätte ich sonst nichts zu tun, so wäre es freilich am besten, ich bliebe, bis wir eingeschneit sind. Denn der Kampf der letzten drei Wochen hat natürlich auf das unverständige Publikum einen schlechten Eindruck gemacht. »Wie ihr es macht, das ist uns einerlei; der Kaiser wünscht, daß alles fertig sei!« So denken in der Tat die meisten Kaiser und sagen alle Kämmerlinge. Dagegen ist nur mit Taten zu antworten. Dies geschieht denn auch zum Glück seit einer Woche in erfreulichster Weise und wird bis zum Anfang des Winters geschehen; denn die beiden englischen Arbeiter lasse ich hier.

In Wien winken mir ein paar Ruhetage. Ich muß mich waschen, kämmen, neu bekleiden und ein wenig Luft schnappen. Das verbrannte Stroh und der unglaubliche Staub dieser Steppen steckt mir in allen Gliedern. Dann geht's nach Südungarn, wo Erzherzog Albrecht nun schon sechs Dampfpflüge in fröhlichem Gang hat; von dort in die Umgegend von Agram, wo es auf Thurn und Taxisschen Gütern noch etwas wild zugehen soll. Folgt Seelowitz in Mähren, Kollin, Prag, Regensburg, Frankfurt, Köln, Lüttich, London – überall ist, bei zehn Minuten Aufenthalt, ein Dampfpflug zu besuchen. Ich habe in den letzten fünf Jahren doch nicht umsonst den Heiden das Evangelium gepredigt.


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