Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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98.

Petersburg, den 7. August 1876.

Es ist kein Katzensprung von Timaschwo bis hierher. Doch setzte ich mich mit zufriedenem Gemüt abends acht mit Mr. Johnstons Direktor Isdebsky in dessen Staatskutsche, um am Morgen in Samara den dortigen Dampfer abzufangen. Es war eine Nachtfahrt nicht ohne milde Abenteuer; denn wir verloren den Weg mehr als einmal und tappten mit den Händen auf dem Boden herum, um aus dessen Erzeugnissen zu ersehen, ob wir uns auf einem Weg, in der wilden Steppe oder auf bebautem Erdreich befänden.

Morgens um vier Uhr war Samara erreicht, eine scheinbar neue Stadt, fast etwas amerikanisch im Stil, mit einem schönen, teuern Hotel, in dem ich für anderthalb Stunden Schlaf auf einem Sofa fünf Rubel bezahlte. Unmittelbar vor der Stadt, die einen nicht unbedeutenden Hügel bedeckt, strömt groß und breit die Wolga. Im Norden hohe, blaue Berge, die letzten Ausläufer des Ural. Nach Süden und Osten sanftes Hügel- und Flachland, da und dort mit Wald bedeckt, aber weitaus mehr in das glänzende Gold einer reifenden Ernte gekleidet.

Das Boot ging um acht Uhr flußabwärts, nach Susran, der nächsten erreichbaren Eisenbahnstation. Nach zwei heißen Tagen mit einer Dampfpflugmaschine ist eine Dampfschiffahrt auf der Wolga ein Labsal; desgleichen nach einem halben Jahr in Leeds das bloße Atmen unter dem glänzenden Himmel, in der freien, offenen Welt, selbst wenn sie russisch wäre. Beschreiben läßt sich übrigens nicht viel; denn einzelne Punkte fesseln nicht, wie am Rhein, und der Charakter des Bildes ändert sich kaum merklich auf der ganzen Strecke. Überall der gewaltige, glänzende Strom, erstaunlich belebt von Dampfern und Schiffen aller Art, die bald an die Themse und den Rhein, bald an den Mississippi, noch öfter ans Kaspische Meer mit seinen Kirgisen und Tataren erinnern. Überall freie, weite Flächen, frischgrün und goldgelb, überall Wald und Feld; da und dort, nicht gerade zu häufig, weitgedehnte Dörfer, mit ihren weißen, glänzenden Kirchen und grünen oder auch (in den Städten) strahlend goldenen Kuppeln. Überall endlich der tiefblaue Himmel und eine köstliche Luft. Das Bild stimmt nicht mit unsern Begriffen von Rußland. Aber es ist so.

In Susran jagte ich über Hals und Kopf dem etwas abgelegenen Bahnhof zu; denn es geht nur ein Zug täglich, den ich mit Schmerzen verfehlt hätte. Doch gelang's, und nach kurzer Zeit trieb ich, mit der Aufschrift Moskau versehen, im gewohnten Eisenbahnwagen meinem fernen Ziele zu.

Zwei Nächte und anderthalb Tage. Man sieht fast nichts als die oberflächlichste Oberfläche des Landes, und lernt nichts, als wo Bahnwirtschaften sind und was sie bieten. Die erstere wird von den unabsehbaren Feldern und Wäldern der fruchtbarsten Provinzen des Reiches gebildet. Die letzteren verdienen gleichfalls alles Lob. Ausgezeichneter Tee, vortreffliches Bier, Eßwaren aller Art in der reinlichsten, ja elegantesten Ausstattung. Keine Batzenwürste, kein Backsteinkäs à la russe. Das Reisen mit Dampf ist in keinem Lande so bequem gemacht wie hier. Langsam freilich geht's, und die Entfernungen sind riesig. Aber die Zeit wird pünktlich eingehalten, und so weiß man wenigstens, was man zu erwarten hat.

Moskau. Morgens um neun Uhr. Hotel Billo. Waschen, Rasieren, Frühstücken. Wiederkehrendes Gefühl, daß man Mensch und nicht bloß Warenballen ist. Kreml, Findelhaus und so weiter. – Aber Ihr mutet mir nicht zu, mein Reisehandbuch abzuschreiben, dem ich gewissenhaft zwei Tage lang folgte. In eine große fremde Welt mit Verständnis einzudringen, dazu sind zwei Tage Baedeker denn doch nicht genügend.

Meine Berechnungen stimmten aufs Haar. Vorgestern abend, als ich in Petersburg ankam, erschien auch das Schiff mit meiner Maschine vor Kronstadt. Morgen sollte sie unter meinen Händen sein. Aveling, unser ruheloser Konkurrent in Straßenlokomotiven, hat die seine schon seit drei Wochen hier.


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