Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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101.

Timaschwo, den 3. Oktober 1876.

Timaschwo ist kein Platz, der ein sonderlich buntes Reisebild zu liefern imstande wäre. Wie ein englisches Parlamentsmitglied dazu kam, sich hier in effigie anzusiedeln (er selbst lebt weislich anderswo), das hängt, wie Ihr wißt, mit einer glücklichen Pferdemilchkur zusammen. Für Augen, die nur wenig von transwolgaischen Verhältnissen gesehen, hatte die Sache wohl etwas Verführerisches. Eine zusammenhängende Fläche von 7000 Hektaren des besten Bodens, ein kleiner Fluß, der Kinel, mit einer Mühle und einer Wasserkraft von dreihundert Pferden, ein ziemlich großes Dorf, das genügend Arbeiter liefern könnte, und dies alles um einen nach englischen Begriffen spottbilligen Preis – das war die Versuchung. Das Gut wurde von einer Witwe verkauft, die 1500 Hektare für sich behielt und das Herrenhaus um keinen Preis hergab. Die Folge ist, daß vorläufig ein altes Blockhaus für den Direktor wohnlich eingerichtet werden mußte. Obgleich der geehrte Gast dieses Hauses, kann ich doch die Tatsache nicht verschweigen, daß ich allabendlich meinen Koffer auf den Fenstersims stellen muß, um die Fensterflügel aufzuhalten. Den Kampf mit den Mücken, meinen kleinen Feinden, und eine Reihe ähnlicher Annehmlichkeiten übergehe ich als selbstverständlich.

Zuerst einiges vom Geschäft. Meine drei Dampfpflüge sind in regelmäßiger Tätigkeit. Die Strohbrennerei läßt nichts mehr zu wünschen übrig. Die einsamen, stillen Felder haben bereits ein ganz andres, wirklich herzerhebendes Aussehen. Sechs Maschinen in voller Tätigkeit, jede mit einem Kometenschweif von Strohrauch hinter sich, sehen ermutigend genug aus. Eigentliche Schwierigkeiten waren kaum zu überwinden, und meine Engländer, die für diese Arbeiten hier sind, lassen mir wenig zu tun übrig, als sie selbst gelegentlich ins Gleis der Vernunft zurückzuschieben, das englische Arbeiter in der Fremde nur allzu leicht verlassen. So war es meine erste Aufgabe bei meiner Rückkunft von Petersburg, unangenehme Reibereien mit den Eingeborenen zu schlichten. Meine Leute hatten sich's angewöhnt, die gutherzig dummen Russen auf den Kopf zu klopfen, wenn sie dies verdienten; aber auch sonst. So prügelte einer seine Tagelöhner nur deshalb, weil sie an Fasttagen kein Fleisch essen wollten, was er zu ihrer körperlichen und geistigen Kräftigung für nötig hielt.

Die Reparaturwerkstätte und die Sägemühle wachsen munter aus dem Boden, während meine Hauptaufgabe – der Entwurf eines großen Bewässerungsplans – zugleich mein Hauptvergnügen ist.

Die Russen sehen diesen Unternehmungen mit Kopfschütteln zu. Unter den wenigen Reichen der Gegend scheint ein Glaubensartikel festzustehen: daß alles in die Landwirtschaft gesteckte Geld verloren ist. Wächst etwas aus den Feldern, so wird es gestohlen; wächst nichts, so müssen sogar die Spitzbuben hungern. Was jedoch sicher wächst, das sind die Schulden, die unausrottbar das ganze Land überwuchern. Die wirkliche Schuld liegt natürlich an den Leuten selbst. Sie haben oder hatten meist ungeheure Besitzungen, aber sie haben keine Idee von den Verpflichtungen, die ein solcher Besitz mit sich bringt. Sie verklimpern ihr Geld und verspielen ihre Zeit in Petersburg, Paris und Monako; dann wundern sie sich, daß alles schief geht. Aber wenn Mr. J. auch Geld genug hat: Zeit hat er offenbar für die Sache auch nicht. Kann aber ein Unternehmen gedeihen, wenn der Herr jahrelang und Tausende von Meilen weit entfernt ist? Auch zieht sich schon jetzt ein andres Wölkchen zusammen, klein »wie eines Mannes Hand«. Es ist nicht ganz zu verachten. Vor etlichen Jahren hatte sich Johnston den Ruf eines entschiedenen Russenfreundes erworben, teils durch ein tüchtiges kleines Buch, das Muster freundlicher Kritik russischer Verhältnisse, teils durch sein vernünftiges Auftreten gegen die Russophoben im englischen Parlament. Da führt ihn der Unstern in die Türkei und macht ihn zum ausgesprochenen Türkenfreund. Nun ist hier der Kuckuck los. Die tollsten Gerüchte gehen im Land um, zum Beispiel daß er unter den Tataren rebellische Flugschriften verteile, daß er insgeheim in Timaschwo sich als Spion aufhalte und dergleichen. Kurz, auch die Regierung tut Schritte, wie ich aus zuverlässiger Quelle höre, das gefährliche Treiben dieses verrückten Engländers zu beobachten. Hoffentlich werden diese Beobachtungen bald zeigen, daß hier lediglich nichts zu beobachten ist als der Kampf mit Elementen, mit denen sich die Menschheit seit Adams Zeiten beschäftigt hat.

Zu diesen elementaren Naturkräften gehören unstreitig auch die Bauern von Timaschwo. Wenn man nicht Russisch versteht, ist es natürlich unmöglich, sich in diesen dunkeln Tiefen zurechtzufinden, und noch unmöglicher, die Perlen zu erkennen, welche darin verborgen liegen mögen. Der erste Eindruck ist nicht ungünstig. Bedenkt man, wie ärmlich und hart diese Leute leben, so ist erstaunlich, wie kräftig sie doch noch sind. Fast ihre einzige Nahrung ist Brot und Schnaps. Die Verköstigung eines Tagelöhners berechnet sich täglich auf fünf Kopeken (sechzehn Pfennige). Ihre elenden, strohbedeckten Blockhäuser sind weder warm, noch luft- und wasserdicht. Gegenwärtig werden sie mit einer neuen Lehmschichte überstrichen, des nahenden Winters wegen, und bis an die niederen Fenstergesimse hinauf mit einem Wall von Dünger umgeben, um sie warm zu erhalten. Trotz alledem machen die Leute am Sonntag in der überfüllten Kirche keinen schlechteren Eindruck als eine ärmere Dorfgemeinde im südlichen Deutschland. Eine Anzahl dummer Bauerngesichter, aber auch andre, und unter den Weibern viele schöne Augen und manches gute Profil.

Ein Charakterzug springt in Rußland überall in die Augen: der religiöse Sinn der untern Volksschichten. Wie tief er geht, wie unklar er ist, läßt sich schwer sagen. Doch hängt ein ganzes Volk nicht an äußerlichen Zeichen und Formen mit solcher Zähigkeit ohne innerlichen Trieb. Das »absolute Abhängigkeitsgefühl« hat sich hier den Leuten vielleicht tiefer eingeprägt als anderwärts. – Dabei wird die Geistlichkeit keineswegs sonderlich verehrt. Woran ohne Zweifel die Geistlichen selbst schuldig sind, die sich mit jedem Bauern über den Preis von Taufe oder Heirat in der Sakristei zanken.

Neben dem religiösen Sinn ist die zweite bewegende Kraft im Leben des russischen Bauern der Schnaps, der von hoch und nieder stets mit jenem wohlwollenden Lächeln erwähnt wird, mit dem man die eignen süßen Schwachheiten betrachtet.

Der russische Dorfhumor dreht sich um Schnaps und kleine Diebstähle. Die Naivität in letzterer Beziehung ist so groß als die Leistungsfähigkeit in ersterer. Der Koch unsers Gutsdirektors stiehlt Bauerngänse für unsern Tisch, und die Bauern kommen zum Direktor, nur um sich darüber »zu wundern«. Der Diakonus des Geistlichen wurde gestern persönlich beim offenkundigsten Heudiebstahl erwischt. Und heute ist große Untersuchung, weil das halbe Dorf seit Wochen sich aus dem Wodkifaß meiner englischen Arbeiter erquickt hat. Man sieht daraus, erklärte der Dorfpope kopfschüttelnd, daß auch das Dampfpflügen seine übeln Folgen hat.


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