Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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110.

An Bord der »Colima«, den 26. Januar 1878. (Zwischen San Franzisko und Panama.)

In einem brillanten Hotel, in einer großen lärmenden Stadt, auf einer bunten Reise um die halbe Welt ist man einsamer als im kleinsten Nestchen, in dem man auf ein halbes Dutzend Jahre kleben bleibt und sich dabei festsaugt. Das ist eine der Ursachen, die mir das Reisen zur Leidenschaft gemacht haben; denn ich bin ein geborener Einsiedler.

Freilich entsprach die Einsiedelei, die ich in San Franzisko bewohnte, den gewöhnlichen mittelalterlichen Begriffen schlecht. Das Palacehotel rühmt sich, das größte der Welt zu sein. Möglich, daß dies wahr ist. Jedenfalls kann es gegen tausend Gäste ohne Gedränge oder Getümmel beherbergen. Dabei beklagt sich der Wirt bitter über schlechte Zeiten. Es ist wohl noch zu groß für die Stadt und ihren Fremdenverkehr. Immerhin wäre es einen eignen Brief wert. Doch nicht heute, denn ich habe in den letzten Wochen zu viel Neues gesehen, das mehr wert ist als ein Gasthof.

Zum Beispiel eine merkwürdige Stadt, in wundervoller Umgebung, die nur ein Jahr älter ist als ich selber und über 300 000 Einwohner zählt. Dann habe ich größere technisch-landwirtschaftliche Ausflüge ins Innere des Landes gemacht, nach Norden und Süden, in die Sümpfe um Sakramento, in die wasserarmen Wüsten des San-Joachim-Tales und nach den Silberbergwerken von Nevada, und bin beladen mit Notizen und einer wohlverdienten, jedoch unbedeutenden Erkältung zurückgekommen. Nebenbei beschäftigte ich mich jeden Morgen und Abend mit den öffentlichen und sozialen Verhältnissen des jungen Staats unter Beistand eines der Dutzende von Zeitungen, die täglich in allen Tonarten ihr »garstig politisch Lied« singen. Meine eignen technischen Aufgaben haben in dieser halb tropischen Welt üppige Schößlinge angesetzt. Aber wo soll ich anfangen, zu beschreiben und zu erzählen, selbst wenn der Stille Ozean mir Zeit und Raum genug gewährte?

Unser Leben ist Stückwerk. Kann, was wir daraus berichten, etwas andres werden, wenn wir wahr bleiben wollen? Mit diesem Trost gehe ich ans Werk und lasse mich von den Wellen der Erinnerung schaukeln, unbekümmert, wohin sie mich führen.

Es war bei meiner Ankunft in »Frisko« ein sonnenheller Morgen, etwas frisch für unsre neue Haut aus Panama, aber ohne Ahnung, daß es irgendwo in der Welt Dezember sein könne. Die See hatte gestern ein trübes Grün angenommen; heute wimmelt sie von tausend glockenförmigen Polypen in der Größe eines guten Schwamms, die wie schwimmende Glasmassen mit den Wellen auf und ab tanzten. Alles sah nach Norden; denn wir hatten insgesamt unsre Seefahrt in der »City of Panama« von Herzen satt. Das Schiff war unbehaglich und zu klein für die Anzahl der Reisenden, und diese selbst hatten sich nicht zusammengefunden. Als ausnahmsweise erträglichen Passagier muß ich mich selbst erwähnen, indem ich meistens harmlos beschäftigt halbfertige Skizzen auf einem leeren Wasserfäßchen zu drei Viertel fertig machte. Sodann war ein Livländer da, der schon jahrelang in Kalifornien und Ceylon Landbau getrieben hat und die halbe Einwohnerschaft von – Blaubeuren kennt! So klein ist die Welt; – meine alte Klage! Ferner zwei junge adelige Damen vom Rhein; Geheimratstöchter, Generalsnichten, zurzeit Schulmeisterinnen aus San Salvador, wo sie achtzehn Monate lang dreißig halbwilde Mädchen zu kultivieren versucht hatten, es aber nimmer länger aushielten: auch ein Bild des Kampfs ums Dasein in unsrer Zeit. Was würdet Ihr sagen, wenn ich zwei Geheimratstöchter wäre? Engländer waren nicht an Bord, und Amerika, namentlich das weibliche Amerika, war in unliebenswürdiger Weise vertreten. So standen wir denn alle an jenem Sonntagmorgen auf den Zehenspitzen, unsrer Erlösung harrend, die hinter dem zurückweichenden Nebelschleier lag, welcher »das Goldene Tor« verhüllte.

Die Einfahrt ist herrlich, aber man muß seetüchtig sein, um sie zu genießen. Nirgends in der Welt habe ich eine so majestätische Brandung gesehen. Trotz des schönsten Wetters rollen die Wogen in langen, feierlichen Reihen haushoch, mitten in der See sich überstürzend und ihren regenbogenglänzenden Schaum gen Himmel spritzend, in den Meerbusen hinein, dem wir uns nähern. Eine halbe Stunde lang hat man sich an Takelwerk und Reeling anzuklammern, wenn man stehen will. Dann aber wird es plötzlich ruhig. Links und rechts erheben sich Hügel und Berge, an deren felsigem Fuß die Wogen zerschellen. Ihre Gipfel sind nur spärlich bewachsen. Ein großes weißes Gebäude mit dem Riesenschild: »Cliffhouse« ist das erste Zeichen amerikanischen Geschmacks. Hierauf folgen vereinzelte Signalstationen, Batterien und Schanzen. Während wir durch die reizende Meerenge fahren, die in die Bucht von San Franzisko führt, erscheint hoch oben über den Sandhügeln ein großes Kreuz und tausend schimmernde Grabsteine. Es sind die Friedhöfe der Stadt, die uns zuerst begrüßen. Nun öffnet sich die innere Bucht, ein spiegelglatter See, über den in der Ferne weiße Dampfer hingleiten wie Schwäne. In der Mitte liegt eine befestigte Insel, mit Brücken und Toren, Batterien und Kasematten, nett und niedlich, gleich einer Zuckerbäckerarbeit. Hinter der Insel blaue Berge. Am rechten Ufer wird es immer lebendiger. In großem Bogen fahren wir um die südliche der beiden Landzungen, welche das Goldene Tor bilden. Hügel um Hügel tritt hervor, kahl und sandig zunächst, aber gleich darauf mit Häusern und Palästen, mit Türmen und Kirchen bedeckt. Eine große, wunderlich aufgebaute glänzende Stadt!

Es braucht immerhin Zeit, bis ein größerer Dampfer landet, und so wurde es Dämmerung, ehe die hundert Hotelkommissäre der Versicherung glaubten, daß man bereits wisse, wohin man wolle und bis die Zollbeamten ihre unangenehme Pflicht erfüllt hatten. Mein Freund aus Ceylon und ich wurden im Hof des Palacehotels abgesetzt, dessen sechs Stockwerke von Säulengängen, die in feierlicher Stille auf uns herabsahen, dem Namen alle Ehre machten. Wie ich mich an dem gleichen Abend noch durch die Chinesenviertel schlug und schließlich in einer schwäbischen Bierhalle mein Ende fand, muß wohl für immer flüssige Tinte bleiben.

Das eigentümlichste entlang der ganzen Westküste Amerikas blieb für mich auch hier die Chinesenfrage. Schon in Peru mit seinen Tausenden von chinesischen Leibeigenen wittert man hinter den wunderlichen Gestalten mit leisem Grausen deren welthistorische Bedeutung. Die seltsame Lage der Sache dort, wo das ganze Land fast verzweifelnd nach den »mandeläugigen Mongolen« schreit, und die entgegengesetzten Verhältnisse hier, wo der Staat am Rand einer sozialen Revolution steht, deren Endziel es ist, die nämlichen Mongolen einfach totzuschlagen, macht das Studium der Sache doppelt interessant.

Der Aufschwung, den Peru während der letzten zehn Jahre genommen hat, erzeugte naturgemäß ein Bedürfnis nach Arbeitskräften, dem die spanisch-peruanische Bevölkerung in ihrer Zahl und Faulheit nicht entfernt gewachsen war. Sie erzeugte ferner das Bedürfnis nach einer Art von Arbeit, welche die weiße Rasse nicht zu leisten vermag. Das Beispiel Kaliforniens und Westindiens wurde daher auch dort nachgeahmt, aber in einer Weise, welche der Sache sofort ein eigentümliches Gepräge gab. Europäische Unternehmer, unter denen sich namentlich auch etliche Deutsche einen übeln Ruf und viel Geld erworben haben, rüsteten Schiffe aus, welche chinesiche Einwanderer nach Peru brachten. Die Leute wurden in Macao eingeschifft, wo sie mit Hilfe chinesischer Beamten angeworben oder richtiger: angekauft wurden. Die schlauen Chinesen schafften sich auf diesem Weg hauptsächlich ihre Verbrecher und ihr schlimmstes Gesindel vom Hals, das vom Augenblick der Einschiffung an um kein Haar besser behandelt wurde als Sklaven, bis endlich unter dem Einfluß Englands der ganze Handel vor fünf Jahren aufhören mußte. In Peru verkauften sodann die Unternehmer ihre Ware an die Plantagenbesitzer, das heißt sie ließen sich für den Kopf zweihundert bis vierhundert Dollar bezahlen, was ihre eignen Auslagen deckte und einen hübschen Nutzen abwarf. Die Leute selbst verpflichteten sich durch Verträge auf acht Jahre. Der Mann erhält Nahrung, Kleidung, Wohnung und monatlich vier Dollar. Nach Ablauf von acht Jahren ist er frei. Während der Dienstzeit ist er zu jeder Arbeit verpflichtet, die sein Herr verlangt, und jeder Behandlung unterworfen, die derselbe für gut findet. Auf diese Weise versahen sich die Plantagen mit der nötigen Anzahl von Arbeitern. Je nach der Größe des Gutes findet man auf demselben von fünfzig bis dreizehnhundert Mann, die förmliche, wenn auch sehr eigentümliche Chinesenkolonien bilden.

Noch vor etlichen Jahren wurden die Leute da und dort barbarisch behandelt. Dagegen darf nicht vergessen werden, daß viele derselben wirkliche Verbrecher, und die meisten ohne Zweifel der Auswurf Chinas waren. Noch jetzt ist die Peitsche im Gebrauch, wie ich es weder in Indien noch in Ägypten gesehen habe. Doch wird in den meisten Fällen für die Leute wenigstens so weit gesorgt, als es die richtig verstandenen Arbeitsinteressen des Gutes verlangen.

Man muß freilich Zivilisation und Christentum in seinen Gedanken weit hinter sich lassen, wenn man mit Anbruch der Nacht in einen der gewöhnlicheren sogenannten Gallpons eintritt. So nennt man die gemeinschaftliche Wohnung der Chinesen, die in der Regel mit einer haushohen Mauer umgeben ist, hinter der die Leute von acht Uhr abends bis fünf Uhr morgens eingeschlossen bleiben. In derselben befindet sich eine Anzahl kleinerer Hallen. In jeder Halle stehen dreißig bis vierzig Betten, das heißt gemauerte Bänke, auf denen eine Matte liegt. Auch das Kopfkissen ist aus Backsteinen. Wenn sich das Auge an das Halbdunkel gewöhnt hat, welches ein paar Laternen an der Decke und da und dort ein schüchternes Privatlämpchen hinter einer spanischen Wand chinesischer Bauart erzeugt, wenn ebenso die Nase sich mit dem durchdringenden Opiumgeruch vertraut gemacht hat, der alles Chinesische umgibt, so erscheint allmählich ein düsteres, unheimliches Bild, dessen Einzelheiten sich schwer vergessen lassen.

Die größere Zahl der Betten steht noch leer. Dort in der Ecke ist ein dichtes Gedräng um einen rohen Tisch. Es ist die niemals fehlende Spielhölle des Platzes. Zwei Croupiers sitzen sich gegenüber; zwischen ihnen steht eine Schüssel voll Bohnen. Der eine greift mit beiden Händen hinein und legt einen Haufen auf den Tisch. Das Publikum wettet und setzt Geld oder Marken, welche Geld bedeuten, auf »Gerade oder Ungerade«. Tout comme chez nous. Der zweite Croupier fängt hierauf an, mit echt chinesischer Gewandtheit und einem Holzschäufelchen die Bohnen zu zählen.

Die Intelligenz, die Gier in den gelben Gesichtern ist fast erschreckend. Auch eine gewisse äußerliche Ruhe, die manchem europäischen Spieltisch zum Muster dienen könnte. Wenn man sich unter die Leute mischt, so lachen sie freundlich und machen höflich Platz, jedoch ohne Zeichen sklavischer Unterwürfigkeit.

In einer andern Ecke hat einer einen Kaufladen errichtet, der fleißigen Zuspruch findet. Er verkauft Streichhölzer, Lichter, Tücher, Schnüre, Papier, Tusche und Schilfpinsel, aber vor allem Opium. Der braune, dickflüssige Stoff ist in einem Kaffeetäßchen aufbewahrt und wird mit einer Goldwage ausgewogen. In kurzen Zwischenräumen kommen die Kunden herangeschlichen, ein stehendes mattes Lächeln der Entschuldigung auf den Lippen, wenn sie sich beobachtet fühlen. Sie zahlen ihren halben Real und schleichen dann mit der Beute, in der Größe einer Erbse, nach ihren steinernen Betten zurück. Da liegen sie, der eine sorgfältig seine Bambuspfeife zurecht machend, der andre mit geschlossenen Augen rauchend und schon offenbar weit entfernt von allem irdischen Elend, ein dritter mit halboffenen Augen und offenem Mund, ein schlaffes Bild des lebendigen Todes. Neben ihm sitzt ein Gelehrter, eine große blaue Brille auf der Nase, der murmelnd ein chinesisches Buch studiert. Die zerriebenen, schmutzigen Blätter beweisen, wie eifrig der seltene Schatz von Hand zu Hand gewandert sein muß. Dort malt einer auf einen abgerissenen Fetzen Papier, das Lämpchen zwischen sich und seinem Pinsel, chinesische Wörter, welche sein Nachbar mit tiefem Ernst betrachtet, bis ein triumphierendes Lächeln des Erkennens das gelbe, stumpfe Gesicht überstrahlt. Es ist alles in allem ein trübes Bild und muß oft genug eine wahre Hölle auf Erden sein. Die Leute sind tatsächlich ohne Aufsicht über Nacht und können tun, was sie wollen. Fast in allen Gallpons sind Chinesen aus verschiedenen Provinzen, deren Rassenhaß schon förmliche Schlachten veranlaßt hat, so daß die Aufseher am Morgen ein halbes Dutzend Tote herauszuschleppen hatten. Haß und Freundschaft führen in diesen dunkeln Verließen zum Schlimmsten, was die Menschheit kennt.

Um so merkwürdiger ist es, die Leute bei Tag in ihrer Tätigkeit zu sehen. Es sind meist gesunde, kräftige Gestalten, intelligente, gutherzige Gesichter, durch kein Klima, durch keine Arbeit umzubringen, durch keine Behandlung ganz zu entmenschen. Auf vielen Gütern wird daher auch neuerdings für sie gesorgt, soweit es die Verhältnisse erlauben und soweit sie für sich sorgen lassen wollen. Aber Opium lassen sie sich nicht nehmen, und in ihrem kleinen, barocken Tempel, mit dem Bild des Konfuzius, der in keinem Gallpon fehlt, steht gewöhnlich an der Seite des Altars der stets benutzte Spieltisch. Die Nahrung ist für Chinesen reichlich, zwei Pfund Reis des Tags, drei Pfund Fleisch die Woche, Gemüse im Überfluß. Ihre Kleidung ist vernünftig für die Verhältnisse. Auch hat jedes Gut ein Krankenhaus, die meisten sogar einen eignen Arzt. Freilich habe ich auch in einigen dieser Hospitäler Fälle gesehen, welche die Unmenschlichkeit der gebräuchlichen Strafen in ihrer ganzen Unglaublichkeit bewiesen. Selbstmorde sind daher nicht selten, und fast stets mißlingende Fluchtversuche an der Tagesordnung.

Unter all diesen Tausenden von Arbeitern befindet sich kein einziges Weib, so daß alle Familienbeziehungen vollständig fehlen. Dies und die Folgen davon ist die schwärzeste der Nachtseiten des ganzen Bildes.

Was aus Peru werden soll, wenn in etlichen Jahren der letzte Schub chinesischer Arbeiter frei oder gestorben ist, weiß kein Mensch. Heute sind zwei peruanische Herren mit mir an Bord, die während der letzten Monate versuchten, in Kalifornien Rekruten anzuwerben. Aber die dortigen Chinesen, obgleich zwanzigtausend arbeitslos sein sollen, weigern sich standhaft, den peruanischen Versprechungen Glauben zu schenken. Die Werber kehren unverrichteter Dinge zurück. Ob, was jetzt versucht werden soll, freie Einwanderung aus China eingeleitet werden kann, muß die Zukunft zeigen.

Aber so geht's! Ich wollte eigentlich das Chinesenviertel von San Franzisko beschreiben und seine wunderlichen Bewohner, ihre Läden und Rasierstuben, ihre Wirtschaften und Theater, ihr Tun und Treiben in den Waschhäusern, Küchen und Kinderstuben der Stadt, ihre landwirtschaftlichen Arbeiten im Sakramentotal und ihre Tätigkeit als Bergleute in Nevada. Dann wollte ich die ganze soziale Frage, den großen Kampf zwischen der mongolischen und kaukasischen Rasse auf dem friedlichen Gebiet der Arbeit schildern, einen Kampf, den die zivilisiertere und christliche Seite in diesem Augenblick in Kalifornien mit Feuer und Schwert zu entscheiden droht, und siehe da, ich bin nicht einmal aus Peru hinausgekommen und muß all das ein andermal wieder aufnehmen. Vielleicht schon in Panama. Denn in dem Glutofen, dem wir uns nähern, liegt man gewöhnlich auf ein paar Tage fest, bis die Dampfer des Atlantischen Ozeans die weichgekochten Reisenden erlösen. In wenigen Stunden wird es sich zeigen, um wieviel Tage die Schiffe auf der östlichen und westlichen Seite der Landenge sich diesmal verfehlt haben.


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