Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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115.

Paris, den 28. Mai 1878.

Das Ausstellungsfieber, wie die meisten vernünftigen Krankheiten, nimmt seinen geregelten Verlauf. Während der ersten Tage und Wochen zeigen sich Aufregung, Krämpfe, selbst Delirium. Jetzt schon ist bei den meisten Ausstellern Erschlaffung eingetreten, in heftigen Fällen tagelange Besinnungslosigkeit, in den leichteren ein unbehagliches Gefühl des Ärgers und nervöser Angegriffenheit, namentlich aber schmerzhafter Leerheit in den Taschen, die bedenklichste Erscheinung von allen.

Beim Publikum nimmt die Krankheit natürlich einen andern Verlauf. Sie ist weniger akut und hat viel mit gewöhnlichen Kinderkrankheiten gemein. Die Kranken haben den großen Vorteil, daß sie sich durch Luft- und Ortsveränderung dem übeln Einfluß der Ausstellungsmiasmen entziehen können, und machen hiervon schon jetzt ausgiebigen Gebrauch. Die Pariser kommen zwar noch in Scharen; der letzte Sonntag brachte wieder hunderttausend Menschen auf das Marsfeld. Sie stecken überdies seit dem 1. Mai Flaggen aus allen Fenstern und wollen sie offenbar nicht mehr einziehen. Die Fremden dagegen wollen sich zunächst noch nicht anstecken lassen und strömen nur mäßig. Kein Wunder; denn seit dem 1. Mai lassen sich die Pariser ihre Flaggen auch bezahlen. Fast sämtliche Gasthöfe schickten kleine Briefe von ausgesuchter französischer Höflichkeit an ihre Gäste, um ihnen mitzuteilen, wie sie es aufs tiefste bedauerten, von diesem Tag an ihre Preise verdoppeln zu müssen. Gerade wie in Wien, nur etwas schlimmer und mit mehr »Schick«.

Daß es jedoch ebenso schlecht enden wird, wie dort, ist nicht anzunehmen. Denn hundert Ursachen sichern dem modernen Babylon seine Opfer, selbst wenn sie wissen, daß sie schließlich nur mit der bloßen Haut davonkommen. So viel wollte niemand für das gemütliche Wien daransetzen.

Aber trotz aller Miasmen lohnt es sich, unsern »Tempel« der Industrie zu betreten, wie wir ihn in periodischen Anfällen von Größenwahn und moderner Religiosität zu nennen belieben. Er ist ein Viereck, wie einst der der Diana von Ephesus; die meisten der Priester – wir Aussteller – sind Spitzbuben, auch ist, was auf unsern Altären steht, zumeist Spitzbüberei, wie einst im fernen Altertum. Alle Schätze der Welt sind unter den Glasdächern dieses Tempels vereinigt, zum Teil in natura, meistens jedoch in gefälschten Nachahmungen. Das macht aber nichts, es bleibt doch ein Tempel, und unsre Diana ist größer als die von Ephesus.

So erscheint das Marsfeld, wenn man es durch eine blaue Brille ansieht. Doch brauchen wir diese ja nicht immer aufzusetzen. Dann ist in allen großartigen menschlichen Torheiten, in den Kreuzzügen wie in den Weltausstellungen, immerhin auch viel wahrhaft Menschliches zu finden, über das man sich harmlos freuen kann, fast wie über Hunde, Eichhörnchen und wilde Affen.

Dahin gehört zum Beispiel die Nationenstraße, die sich dreiviertel Kilometer lang mitten durch das Hauptgebäude des Marsfeldes zieht.

Ein malerischeres Durcheinander läßt sich nicht denken. Alles einzelne gehört zum Schönsten, was die Architekten von Rußland bis Japan auszuklügeln wußten. Gegen das Ganze in seiner verwirrenden Sinnlosigkeit läßt sich freilich nur auch alles einwenden. England, Amerika, Italien, Norwegen, Japan, China, Spanien, Österreich, Schweiz, Belgien, Dänemark, Zentralamerika, Birma, Tunis, Luxemburg, Monako, Portugal, Holland, in dieser Reihenfolge zusammengestellt, machen den Eindruck, als ob die Göttin der Baukunst verrückt geworden wäre. Nur ein Jahrhundert des Dampfes befähigt den Menschen, diesem Wahnsinn zu widerstehen.

Was mich in Paris außerhalb der Ausstellung ärgert, ist, daß es offenbar keinen Platz gibt, wo man an einem Werktagsabend eine ruhige Stunde zubringen kann. Das wissen die Engländer doch besser einzurichten. Die Lesezimmer, die Schachklubs, die »mechanics' institutes«, die Klubs aller Art, die man in jedem rauchigen Nest und für alle Klassen der Gesellschaft findet, sind eine Wohltat, die man in der Stadt des Lichts nicht kennt. Das Unbehagliche der Theaterabende, das Getriebe und die Aufregung der Boulevards, das Gefühl der Heimatlosigkeit, das mich in einem Café nie verläßt, tut auf die Länge weh. Niemand scheint hier je »etwas Gutes« zu lesen. Alle Welt läuft auf den Boulevards spazieren. Das ist recht nett, eine Woche lang. Aber wie man's das ganze Leben hindurch aushalten kann, vermag nur ein Franzose zu verstehen. Geschäftlich gaben zum Glück die letzten Wochen einiges zu tun. Verhandlungen ohne Ende mit Militärbehörden, damit Kolonisten aus Algier, mit Leuten, die damit anfangen, ganz Frankreich dampfpflügen zu wollen. Es bedarf der Geduld, dem Gedankengang solcher Herren zu folgen. Keiner läßt sich herbei, einen Schuhnagel in seines Nachbars Stiefel zu schlagen, ohne sich und seinen Freunden vorzurechnen, wieviel Schuhnägel dreiunddreißig Millionen Franzosen im Jahr verbrauchen und welch riesiges Geschäft er deshalb mit seinem Schuhnagel einleite. Man läßt sich das, wie alle Eigenheiten, ein- oder zweimal gefallen. Wenn man jedoch das Multiplikationsbeispiel bei jeder Gelegenheit wieder vorgerechnet bekommt, so verliert es für den Nicht-Franzosen etwas von seiner stärkenden Kraft. Aber man hat den Unsinn lächelnd auszuhalten, ob man will oder nicht. Die französische Höflichkeit wirkt klettenartiger als alle Gewalt und Derbheit teutonischen Schlages.


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