Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

111.

An Bord der »Mosel« bei St. Thomas, Westindien, den 12. Februar 1878.

In Panama war es fünf Tage lang fast zu heiß, um atmen, geschweige denn schreiben zu können. Es ist noch heute zu warm, um die Pracht der westindischen Inseln zu schildern, wie sie es verdient. Zur Not geht es jedoch, sich noch einmal in die schattigen Winkel des Chinesenviertels von San Franzisko zu versenken, in die ich Euch zu führen gedachte, ehe ich der Stillen-Ozean-Seite Amerikas für immer den Rücken kehrte.

Zurück also nach San Franzisko! Es ist halb acht Uhr abends, und das späte, nicht allzu leichte Mittagessen des Palacehotels verlangt Luft und Bewegung. Kearny Street ist mit einigen Schritten erreicht – eine breite, glänzende Straße voll Leben, namentlich nachts, die Boulevards ins Kalifornische übersetzt. Breite Trottoirs, hübsche Läden, Theater in der Nähe und was irgend an Tingeltangeln hier zu haben ist, eine betrübte Nachahmung trauriger Originale. Die Straße senkt sich leicht in der Länge einer englischen Meile und steigt dann wieder plötzlich, wie die meisten Straßen der Stadt, dachgäh hinauf, einer unerforschten Wildnis entgegen. Je näher man ihrem tiefsten Punkte kommt, um so tiefer sinkt man auch in gesellschaftlicher und moralischer Beziehung. Die Cafés werden Matrosenkneipen, und das Publikum ist die Blüte der sogenannten »hoodlums«, der rohesten Lumpen und Taugenichtse der Stadt. Das Benehmen dieser Leute ist übrigens äußerlich anständiger, die öffentlichen Ausbrüche von Roheit und Trunkenheit weniger bemerklich als in England oder auch in Deutschland, was mir ein Kalifornier zu erklären wußte. Er meinte: Derartige Ausbrüche seien in Frisko zu gefährlich für ihre Helden; ein Mensch, der sich dieselben nicht abgewöhne, finde innerhalb der Straßenlänge von Kearny Street gar bald das Ende seiner irdischen Laufbahn.

Aber wir biegen jetzt in eine der Seitenstraßen ein und sind mit einem Schlag in einer andern Welt. Die Straßen und Häuser haben zwar noch denselben Charakter; denn sie gehörten ursprünglich zu der gleichen Stadt, die wir soeben verließen, und wurden von der gleichen Rasse erbaut. Aber die Verzierungen, der Schmutz, der Geruch, das Gewimmel und Gedräng, die eigentümliche Ordnung in der grausigen Unordnung – das alles ist fremd und neu und unheimlich, und, was ich in diesem Augenblick besonders fühle, es ist keine Kleinigkeit, sich mit einer Stahlfeder durch das bunte Gewirr hindurchzuschlagen.

Man sieht nur Männer. Selten begegnet das Auge einem Geschöpf, dessen beschwerlicher Gang und bemaltes Gesicht die Vermutung aufdrängt, daß man es mit einem Wesen weiblicher Gattung zu tun habe. Die Tracht ist merkwürdig einförmig. Eine dunkelblaue Bluse ohne Gürtel, vorn zugeknöpft; weite Hosen aus ähnlichem Stoff; Schuhe aus schwarzem Zeug mit zolldicken Filzsohlen. Auf dem Kopf ein schwarzer runder Filzhut oder ein rundes Käppchen ohne Schild mit einem Knopf oben. Diese Kleider sind fast ohne Ausnahme sauber gehalten und scheinbar kaum einen Tag alt. Vom Hinterkopf hängt der lange Zopf, halb Haar, halb schwarze Fäden, welche ihm die nötige achtbare Länge geben. Häufig ist derselbe um den Kopf geschlungen und unter Hut oder Käppchen vor den Gefahren des Straßengetümmels geschützt. Der Körperbau der Leute ist klein, ihr Aussehen kräftig und gesund, die Gesichtszüge aufgeweckt, aber unaufdringlich und freundlich. Unter einem Dutzend lachen oder lächeln acht. Die Stimmen, oft reine Fistel, stets um ein paar Töne höher als die unsrigen, stoßen zerhackte Worte aus. In ihrem Sprechen wie in ihren Bewegungen ist ein Zweck ersichtlich, der sich durch nichts irremachen läßt.

Das ist der erste Eindruck, den die Chinesen auf mich machten. Ihre Läden und Kellerwohnungen scheinen aus einem Stück mit der Gasse zu bestehen, namentlich die letzteren. Es gehört einige Überwindung dazu, in diese Höhlen hinabzusteigen. Barbierstuben, Küchen, Wirtschaften, Waschanstalten, Zigarren-, Hut- und Pantoffelfabriken, alles Mögliche und einiges Unmögliche scheint in den dunkeln Löchern heimisch zu sein. Kein Zoll Raum ist unbenutzt. Hier auf einem Tisch liegen dicht gedrängt in musterhafter Ordnung Teepakete, Zündhölzchen, Messer und tausend andre Kleinigkeiten. Es ist der tragbare Laden eines kleinen Kaufmanns. Neben demselben steht das schmutzige Waschbecken eines Barbiers und hängt der triefende, kahle Schädel seines Kunden. Hinter dieser Gruppe speien zwei eifrige Wäscher staubförmige Wasserstrahlen über geheimnisvolles Weißzeug, ein Verfahren, das dem chinesischen Bügeln vorangeht. Immer dunkler, immer schmutziger wird der undurchdringliche Hintergrund. Dort wird vermutlich gekocht. Namenlose Würste werden über den Barbier und den Wäscher hinweg nach der Straße heraufgereicht. Aber der stechende Geruch, der hinter den Küchen hervorkommt, ist nicht das Aroma der schuldlosen Knackwurst meiner Heimat. Dort auch, im tiefsten Dunkel, qualmt hinter einem Bretterverschlag das teure Opium. In diesem Loch träumt ein Geschöpf, das eine Menschengestalt hat, von seinem Himmel.

Im Erdgeschoß des Hauses wird es besser. Indessen, auch hier ist die peinlichste Ausnutzung von jedem Fleckchen Raum das auffallendste. Es liegt dies nicht in der Notwendigkeit eines engbegrenzten Ghettos, sondern scheint seinen Grund in dem Charakter der Chinesen zu haben. Alles, was sie einrichten, hat etwas Puppenstubenartiges; alles, was sie berühren, wird mit einer ins Aschgraue gehenden Pünktlichkeit gemacht, die bewundernswert ist. Das bemerkt man auch an den tausend chinesischen Kleinigkeiten, die in diesen engen Buden aufgehäuft sind. Reichtum und Geschmack ist hier nicht zu finden; die Läden dienen dem Bedürfnis einer Arbeiterbevölkerung der ärmsten Klasse; aber dem einfachen schwarzen Fächer, dem geschmacklosen Teebüchschen sieht man doch eine gewissenhafte Gründlichkeit an, welcher wir in unsern europäischen Erzeugnissen gleicher Art selten begegnen. Ihr seht, ich habe es fast zu einer gewissen Begeisterung für China gebracht.

Dieselbe wird freilich etwas abgekühlt, wenn wir in die Sackgäßchen und in das Innere der Häuser dringen, wenn wir unter dem Schutz eines Schutzmanns sehen, wie die Leute essen und trinken, namentlich aber, wie sie wohnen und schlafen. Ein Bleisoldat in seiner Schachtel, ein toter Hering in seinem Faß hat es bequem. Wie Tausende von Menschen in dieser Weise leben, ja vergnügt aussehen können, übersteigt unsre Begriffe. Ich will kein Wort von dem geistigen Einfluß solcher Zustände auf sichtlich mit Vernunft begabte Wesen sagen; als eine rein physische Frage ist das Ding unfaßlich. Ekel und Seuchen würden uns überzivilisierte Kaukasier in ein paar Wochen erlöst haben. Und diesen Mongolen ist's dabei wohl wie dem Fisch im Wasser!

Aber sieh, dort drängen sie sich um den unansehnlichen Eingang eines größeren Gebäudes. Meterlange chinesische Aufschriften, Gold auf Schwarz, hängen von einem buntgeschmückten Balkon. Es ist ihr Theater und war eigentlich auch das Ziel unsers Spazierganges, aber, wie gewöhnlich, kommen wir nicht vorwärts. Ein großer Saal nimmt uns auf. In dem halbdunkeln Parterre stehen Reihen von Schulbänken, die vordere Hälfte dicht besetzt von der dunkelgekleideten bezopften Zuhörerschaft. Auf der einzigen Galerie sitzt ein Dutzend chinesischer Frauen mit ihren Kindern, keine Schönheiten nach unserm Geschmack. Die Bühne an dem einen Ende des Saals ist ungefähr acht Fuß höher als das Parterre. Kulissen fehlen. Der Hintergrund besteht aus einer hölzernen Wand, deren einzige Dekoration etliches ornamentale Geschreibsel bildet. In dieser Wand ist rechts und links eine Türe. Zwischen beiden Türen sitzt auf der Bühne das Orchester, etliche acht Mann stark, mit Trommeln, Stöcken, Pfeifen und Saiteninstrumenten, noch unbenamst in sanskritischen Sprachen. Welche Musik! Welch eigentümliches Lärmen! Nur manchmal ahnt das Ohr ein paar Töne, die einen faßbaren Zusammenhang haben, und wo dies der Fall ist, sind es, ganz im Ernst gesprochen, Anklänge an Wagner. Sonst ist alles lediglich Lärm und Kreischen. Jeder der Künstler scheint ganz nach eignem Wissen und Gewissen zu spielen, wobei übrigens insoweit auf den Sinn des Schauspiels Rücksicht genommen wird, daß sentimentale und heroische Szenen durch zwei verschiedene, stets wiederkehrende Arten von Lärm eingeleitet werden: die Leitmotive eines chinesischen Ur-Wagners. Die Schauspieler sind sämtlich Männer, wenn nötig als Weiber gekleidet und bemalt. Ihre Anzüge sind nicht bloß barock, sondern auch reich und geschmackvoll im höchsten Grad; keine Theaterzeuge, sondern echte Stoffe der besten Art. Ich hatte in Lima, wo ich eine halbe Nacht »hinter den Kulissen« zubrachte, Gelegenheit, mich hiervon zu überzeugen.

Die Schauspieler kommen zur linken Türe des Hintergrunds herein, treten ins Proszenium, sprechen und tun, was zu tun ist, und gehen zur rechten Türe wieder ab. Mehr als acht bis zehn Personen kommen nie auf die Bühne. Feindliche Heere bestehen aus einem General und drei Soldaten, Monologe sind häufig und oft sehr lang. Die Handlung ist scheinbar gering, wenn nicht Schlachten oder Kriegstänze stattfinden, bei denen es wild genug zugeht. Wunderlich, fast so wunderlich wie auf unsern Theatern, ist der Gang der Helden, der etwas truthahnartig Läppisches hat, und noch weit mehr ihre Stimme, indem sie sich in halb singendem Ton ausschließlich der Fistel bedienen. Als eine weitere kleine Eigentümlichkeit (es wären noch hundert andre zu bemerken) sei erwähnt, daß die Damen bei großen Klagemonologen nicht so sehr Tränen fließen lassen, als vielmehr das Naß der Nase. Indem sie sich laut jammernd vorbeugen, lassen sie (Verzeihung der unschönen Wahrheit!) einen stets länger werdenden Klunker aus ihren Nasenlöchern wachsen, der melancholisch hin- und herschwankt und, wenn er eine Länge von ein bis zwei Fuß erreicht hat, nun durch seine Schwere abbricht, um einem neuen kleinen Schmerzenseiszäpfchen Platz zu machen, das dann sofort wieder mit vieler Kunst großgeweint wird. Dies war mir neu. Was aber eigentlich gespielt wurde, bin ich nicht imstande zu erzählen. Erstens war das Stück, das gegeben wurde, fünf bis sechs Tage lang; sodann verstand ich natürlich nicht ein Wort. Es handelte sich scheinbar um Frauen, die vor einem Richter um einen gemeinschaftlichen Mann stritten. Natürlich, wie jede Sache, die man nicht versteht, wurde auch diese bald langweilig. Vielleicht wäre sie es auch, wenn ich sie verstanden hätte. Das Chinesenpublikum lauscht mit ruhiger Aufmerksamkeit, ohne das leiseste Zeichen des Beifalls oder der Mißbilligung, nächtelang der sich endlos fortspinnenden Geschichte. Mir selber wird der musikalische Teil der Vorstellung noch in manchem Traum grausam mitspielen. So viel von der chinesischen Oberfläche San Franziskos. Es würde mich ein Buch kosten, wollte ich mich mit der ernsteren Seite der gelben Eindringlinge befassen. Ihr Arbeiten in Stadt und Land, und das Verhältnis, in welchem sie zur weißen Bevölkerung stehen, sind Probleme, die ein Ausländer beobachten mag, deren Lösung jedoch über dem Horizont der meisten liegt, namentlich derer, die sich augenblicklich in gewalttätiger Weise damit beschäftigen.


 << zurück weiter >>