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Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert.

Hamburg: H. Goverts Verlag 1938. 238 S.

Zu den Widersprüchen, die heute in Deutschland nicht vereint sondern provisorisch verklammert werden, gehören die Reaktionen, die die Erinnerung der Ära Bismarck auslöst. Das Kleinbürgertum kam damals in eine Lehre, die sechzig Jahre später vom Nationalsozialismus aufgenommen und überboten wurde. Dagegen hatte das mittlere Bürgertum als Machtfaktor damals noch neben dem großen Platz. Erst als es abgetreten war, fand das Monopolkapital und mit ihm die nationale Erneuerung die Straße frei. Der Nationalsozialismus steht daher ambivalent zu dieser Geschichtsepoche. Er rühmt sich, mit ihrem Schlendrian aufgeräumt 2u haben, und er hat recht, wenn er an das Maß mittlerer Sekurität denkt, das den Untertanen damals noch garantiert wurde. Auf der andern Seite weiß die Partei sehr gut, daß sie am wilhelminischen Imperialismus festhält und die Glorie des zweiten Reiches in ihrem dritten zurückstrahlt. Auf diesem Bewußtsein ist ihre Dressur des Kleinbürgers aufgebaut. So gilt hier einmal der Blick nach oben, andererseits der kritische Vorbehalt. (Die Stellung, die die Führer des neuen Reichs denen des alten Heeres gegenüber einnehmen, illustriert diese Ambivalenz ausreichend.)

Denkt man sich diesen Sachverhalt abgespiegelt, das heißt symmetrisch verschoben, so hat man den Aufriß von Sternbergers Buch vor Augen. Ambivalent ist auch dessen Haltung. Aber sie ist es im Gegensinn. Wo er die kritische Sonde an die Epoche legt, da hat er eben die Züge im Auge, in denen man heute mit ihr solidarisch ist. Und wo er sich ihr liebevoll überläßt und sie dem Leser ans Herz zu legen scheint, da hängt er einem soliden und mittleren Standard der bürgerlichen Moral nach, von dem das heutige Deutschland nichts wissen will. Mit anderen Worten: der Kritiker in Sternberger kann seine Einsichten, der Historiker in ihm seine Sympathien nur mit größter Behutsamkeit an den Tag legen.

Das brauchte kein hoffnungsloses Geschäft zu sein. Aber es war dem Verfasser um mehr zu tun. Er wollte in eine Bresche springen. So üppig die Produktion gleichgeschalteter akademischer Forscher ist, so groß ist der Ausfall auf den Gebieten, die, von der zünftigen Wissenschaft unbeachtet, das Arbeitsfeld einer Avantgarde gewesen sind. Sie bevorzugte die Essaiform in ihren Schriften. Sternberger hat das Erstaunliche unternommen, Form und Thematik dieser Produktion festzuhalten. Wie der Titel des Buches andeutet, wollte er von seinem Forschungsgebiet keine Karte zeichnen sondern es souverän mit dem Blick durchstreifen. Die Abfolge der Kapitel bestätigt das. Im Bemühen, um jeden Preis die Fühlung mit der essaiistischen Produktion festzuhalten, greift der Autor nach vielen Seiten aus. Je weniger er in der Lage gewesen ist, methodisch seinen Gegenstand anzutreten, desto mehr verstieg er sich in seinen Vorwürfen, desto anspruchsvoller und umfassender wurden sie.

Ob die Gesichtseindrücke des Menschen nicht nur von natürlichen Konstanten, sondern auch von historischen Variablen bestimmt werden – das stellt eine der vorgeschobensten Fragen der Forschung dar, von der aus jeder Zollbreit Antwort hart zu erkämpfen ist. Sternberger nimmt das Problem im Vorbeigehen mit. Würde er es exakt visieren und zum Beispiel sagen: das Licht geht nur in solcher Weise in die Erfahrung ein, wie es die geschichtliche Konstellation erlaubt – man würde mit Spannung der Ausführung dieser These entgegensehen. Sternberger sagt das auch (S. 159), aber nur, um auch hier seinen Stein im Brett zu haben. Die entsprechende Fragestellung ist durchsetzt mit Appositionen, Nebensätzen und Parenthesen, in denen ihr Inhalt verloren geht. Er läßt sich zudem von dem gar nicht exponieren, der über das Interesse nichts sagen darf, mit dem diese Frage zusammen geht. Es ist das Interesse an der Erkenntnis, daß die natürlichen Bedingungen menschlicher Existenz durch die Produktionsweise der Menschen verändert werden.

Viel kommt zu Worte, nicht vieles zu seinem Recht. Oft wird man gut tun zurückzublättern, um auf die Stellen zu geraten, an denen Motive wie das des Genres, der Allegorie, des Jugendstils in verbindlichen Zusammenhängen entwickelt wurden. So hat Adorno im Schrifttum von Kierkegaard eine Spätform allegorischer Anschauung nachgewiesen; Giedion hat im historischen Genre das Bedürfnis des vorigen Jahrhunderts erkannt, seine konstruktiven Errungenschaften unter der Maske der Imitation zu bergen; Salvador Dali hatte den Jugendstil im Sinne des Surrealismus ausgelegt. Allen diesen Themen ist Sternberger nachgegangen. Aber wenn sie bei ihm Motive bilden, so im Sinne des Ornaments, das nach Willkür mit ihnen schaltet.

Der Essaiist fühlt sich gern als Künstler. So kann er der Versuchung anheimfallen, die Einfühlung (in die Epoche so gut wie in eine Denkweise) an die Stelle der Theorie zu setzen. Die Symptome dieses bedenklichen Sachverhalts sind in Sternbergers Sprache offenkundig. Zu einem gehobenen und prätentiösen Deutsch findet sich die gezierte Biederkeit, mit der der Familienroman der sechziger Jahre sich dem Leser anzuempfehlen liebte. Diese stilistische Mimikry führt zu den verschrobensten Bildungen. »Da denn überhaupt« ist eine bevorzugte Konstruktion des Autors; »derart und solchermaßen« gilt ihm als Übergang. Wendungen wie »es wird Zeit, die Einschaltung zu beschließen«, »hören wir indessen weiter«, »es würde dem Autor übel anstehen« komplimentieren den Leser durch dieses Buch wie durch eine hochherrschaftliche Zimmerflucht. Seine Sprache steht im Zeichen der Regression.

Die Regression in entlegene Sphären, die den politischen Eingriff nicht auf sich ziehen, ist in Deutschland verbreitet. Kindheitserinnerungen und Rilkekult, Spiritismus und romantische Medizin lösen als intellektuelle Moden einander ab. Sternberger hält in der Regression die Motive der Avantgarde fest. Sein Buch ist ein wahrer Schulfall der Flucht nach vorn. Es gelingt ihm natürlich nicht, der Kollision mit dem Gegner auszuweichen. Er muß vor allem mit denen rechnen, die ein kritisches Votum über die Gründerzeit im eigensten Interesse zu scheuen haben. Der Keim der heutigen Barbarei liegt in ihr bereits eingefaltet. Die Raubtierlust am Geleckten und Säuberlichen bestimmt ihren Schönheitsbegriff von Hause aus. Mit dem Nationalsozialismus ist auf die zweite Jahrhunderthälfte helles Licht gefallen. In ihr kam der erste Versuch zu Stande, das Kleinbürgertum zur Partei zu machen und für präzise politische Ziele einzuspannen. Er wurde von Stoecker unternommen, und zwar im Interesse der Großagrarier. Hitlers Mandat kam von einer anderen Gruppe. Sein ideologisches Kernstück blieb dennoch das der Stoeckerschen Bewegung vor fünfzig Jahren. Im Kampf gegen ein inneres Kolonialvolk, das jüdische, sollten sich die geduckten Kleinbürger als Angehörige einer Herrenkaste erkennen und ihrer imperialen Instinkte inne werden. Mit dem Nationalsozialismus trat ein Programm in Kraft, das für die Sphäre des deutschen Hauses, besonders für den Wirkungsbereich der Frau die Ideale der Gründerzeit, vom Weltbrand angeleuchtet, verbindlich machte. In der Rede, die das Oberhaupt der Partei am 18. Juli 1937 gegen die ›entartete Kunst‹ gehalten hat, wurde die Ausrichtung von Deutschlands Kulturniveau an seiner servilsten und subalternsten Schicht proklamiert und von Staats wegen vorgeschrieben. In der Frankfurter Zeitung (19. Juli 1937) nannte Sternberger diese Rede »eine Abrechnung ... mit Gesinnungen und Theorien, die das öffentliche Kunstleben der hinter uns liegenden Epoche bestimmten«. Diese »Abrechnung«, setzte er hinzu, sei »noch nicht beendet«. Er behauptete von ihr außerdem, daß sie »mit den Waffen scharfer Ironie wie mit den Mitteln philosophischer Erörterung« sei geführt worden. Von der vorliegenden Durchforschung ihrer entlegeneren geschichtlichen Hintergründe läßt sich das Gleiche nicht aussagen.

Sternbergers Buch ist verspielt und schwierig. Er sucht das Abgelegene beflissen auf, aber es fehlt ihm der Begriff, der es zusammenfügt. Er vermag nicht, zur Definition vorzustoßen.

Sternberger befindet sich in der bösen Lage, den Denkprozeß unterbrechen zu müssen, wo er sich als fruchtbar erweisen könnte. Das schädigt auf die Dauer sein Denkvermögen. Wie es mit dem bestellt ist, läßt sich gelegentlich einem einzelnen Satz entnehmen. »Über das, was ohnehin vergangen ist, zu lachen, ist allzu einfach, daher eigentlich als eine Verschwendung des Witzes zu betrachten, während der Witz doch durch Knappheit an Brillanz zu gewinnen pflegt.« (S. 158) – Im ersten Hauptsatz finden sich zwei Verstöße gegen eine klare Gedanken folge. Einmal ist das »ohnehin« fehl am Ort, da das Lachen die Zeitstelle seines Gegenstandes nicht verändert. Zweitens ist das »einfach« unangemessen. Denn es kann zwar allzu einfach genannt werden, über einen Gegenstand (zum Beispiel einen Trugschluß) zu lachen, der vielmehr in einem schwierigen Denkprozeß sollte ergründet werden. Dagegen kann es niemals »allzu einfach« sein, etwas Nichtiges zum Gegenstand des Gelächters zu machen. Denn das Lachen ist keine Aufgabe, bei der die Überwindung von Schwierigkeiten verdienstlich wäre. – Im Folgenden gäbe die Rede von einer »Verschwendung des Witzes« einen notdürftigen Sinn nur dann ab, wenn ›Witz‹ wie im achtzehnten Jahrhundert Verstand zu bedeuten hätte. Von einer Verschwendung des Verstandes ließe sich wohl reden, nur nicht vorstellen, daß das Gelächter des Verschwenders deren Effekt sein könnte. Aber wahrscheinlich liegt dieser altmodische Sprachgebrauch gar nicht vor. Mutmaßlich geht vielmehr bei Sternberger die Vorstellung, daß der Witz knapp sei, mit Mitteln haushält, mit der Vorstellung durcheinander, daß im gedachten Falle kein Anlaß zum Witzeln sei. Nun ist erstens nicht alles, worüber man lacht, ein Witz. Zweitens kann man keinesfalls mit Berufung auf die Knappheit, den Lakonismus des Witzes verlangen, es solle einer doch weniger Anlaß zum Lachen – sei es auch über Witze – nehmen. – Daß endlich der Witz durch Knappheit an Brillanz zu gewinnen pflegt, ist zwar deutlich, aber sprachwidrig. Von ›brillant‹ kennt das Deutsche nur eine einzige Ableitung: Brillantine.

Er liebt es um so mehr, die disiecta membra, in die sein Text zerfällt, dem Leser als bedeutendes Sinnbild auszugeben. Darin bestärkt ihn eine befremdende Fixierung ans ›Allegorische‹. Die Allegorie ist von Emblemen umgeben, die ihr als ›Stückwerk‹ zu Füßen liegen. Obwohl nun der Terminus keineswegs in so belastetem Gebrauche geläufig ist, verwendet ihn Sternberger umstandslos. Er mutet ihm Dinge zu, die es fraglich machen, ob er überhaupt mit ihm einen klaren Sinn verbindet. Unter dem Stichwort »Allegorie der Dampfmaschine« versammelt er eine Anzahl Floskeln, die die Lokomotive als adlerschnell, als Stahlroß, als den Renner auf Schienen preisen. Sie stiften, so meint er, »eine allegorische Poesie... in dem bestimmten Sinne, daß Elemente der Technik, zusammengefügt mit solchen der lebenden Natur, in den Metaphern der Sprache eine neue selbstmächtige Existenz und doppelgesichtige Figur gewinnen« (S. 26). Mit einer Allegorie hat das nichts zu schaffen. Der Geschmack, an den sich dergleichen richtete, entsprach dem Bedürfnis, einer Drohung sich zu entziehen. Man suchte sie in dem »Starren«, »Mechanischen«, das den technischen Formen eignet. (Sie war in Wahrheit von einer anderen Art.) Die Beklemmung, die von der Technik ausging, war allgemein. Und man flüchtete vor ihr gern zu den Kindergruppen von Ludwig Knaus, zu den Grütznerschen Klosterbrüdern, zu den Rokokofigurinen von Warthmüller oder zu den Dörflern von Defregger. Die Eisenbahn lud man in das Ensemble ein – mit einem Wort: ins Ensemble des Genrebilds. Das Genre belegt die verunglückte Rezeption der Technik. Sternberger führt den Begriff des Genres ein; aber er konstruiert ihn aufs Brüchigste.

»Beim Genre ist«, so meint der Verfasser, »das Interesse des Beschauers ... überall mit im Spiele. Ebenso wie die erstarrte Szene, das lebende Bild, der Ergänzung bedürftig ist, ebensosehr ist dieser interessierte Betrachter begierig,... mit den herausgeforderten Lüsten oder Tränen die Lücken auszufüllen..., die das Stückwerk des Bildes vorweist.« (S. 64) Der Ursprung des Genres liegt, wie gesagt, faßlicher. Als es dem Bürgertum nicht mehr gegeben war, die Zukunft nach großen Plänen zu konzipieren, sprach es dem greisen Faust sein »Verweile doch, du bist so schön« nach. Es fixierte im Genre den Augenblick, um das Bild seiner Zukunft loszuwerden. Das Genre ist eine Kunst gewesen, die sich von der Geschichte nichts wissen macht. Seine Vergaffung ins Momentane ist das präziseste Komplement zu dem Wahnbild des tausendjährigen Reichs. Hierin gründet denn auch der Zusammenhang zwischen den ästhetischen Idealen der Gründerzeit und den künstlerischen Hochzielen der Partei. Sternberger will dem Triumph des Genres bis in die Umwertungsschriften von Nietzsche folgen. Er spricht von einer »Wiederkehr des Genres« an dieser Stelle und hat damit ein konstruktives Moment ergriffen. Er bewältigt es aber nicht. Ihm entgeht die geschichtliche Signatur des »umgekehrten Genres«, mit welchem Nietzsche sich seinen Zeitgenossen entgegenstellte. Diese Signatur liegt im Jugendstil. Gegen die Lebendigkeit, die im Genre haust, setzt der Jugendstil seine mediumistische Blumenkurve; auf der Harmlosigkeit des Alltags läßt er den Blick ruhen, der noch eben in den Abgrund des Bösen tauchte; und dem süffisanten Philistertum stellt er die Sehnsucht gegenüber, deren Arme auf immer leer bleiben.

Das theoretische Monopol des Nationalsozialismus ist von Sternberger nicht durchbrochen worden. Es verbiegt ihm seinen Gedankengang, es verfälscht seine Intentionen. Das letztere kommt drastisch zum Vorschein, wo er zu dem Streit um die Vivisektion Stellung nimmt, welcher in die siebziger Jahre fällt. In den Pamphleten, die diese Kontroverse eröffneten, gibt die Entrüstung über bestimmte Verfehlungen der Vivisektoren einem verbissenen Ressentiment gegen die Wissenschaft überhaupt das Stichwort. Die Bewegung gegen die Vivisektion war ein Ableger kleinbürgerlicher Sekten, unter denen später die Impfgegner mit dem Vorstoß gegen Calmette zuerst so entschieden Farbe bekennen sollten. Diese Sekten lieferten »der Bewegung« Zuzug. Darin wird man den Anlaß zu Sternbergers kritischem Vorstoß zu suchen haben. Tierschutzgesetze wurden im dritten Reich in der Tat beinahe ebenso schnell erlassen wie die Konzentrationslager eingerichtet. Vieles ließe sich dafür geltend machen, daß man in jenen fanatisierten Zirkeln den sadomasochistischen Charakter im Stadium einer frühen Verpuppung vor sich hat. Eine Betrachtung, die das visiert, aber von dem Totenkopfschmetterling, der indessen aus dieser Puppe auskroch, nichts wissen darf, muß gewärtig sein, in Irrwegen zu verlaufen. Das ist bei Sternberger in der Tat der Fall. Er findet nämlich für seinen Angriff auf die Gegner der Vivisektion keinen anderen Weg als das Mitleid als solches zu diffamieren. Eine Diffamation des Mitleids dürfte von den Machthabern um so weniger störend empfunden werden, als der Tierschutz gewiß das letzte Refugium ist, welches sie dem Mitleid gelassen haben. Sie ließen ihm in Wahrheit nicht einmal das. Denn für sie gründet sich der Tierschutz vielmehr auf dem Mystizismus von Blut und Boden. Der Nationalsozialismus, der so viel Tierisches in dem Menschen aufruft, sieht sich von Tieren unheimlich dicht umzingelt. Sein Tierschutz geht aus einer abergläubischen Furcht hervor.

Man hat nicht nötig, mit Schopenhauer im Mitleid die Quelle der Humanität zu sehen, um eine Definition suspekt zu finden, nach der »Nächstenliebe von Mitleid ebensosehr unterschieden« sei »wie Offenbarung von Gefühl« (S. 84). In jedem Fall bliebe es wünschenswert, von der echten Humanität zu reden, ehe man die aus dem Mitleid fließende als eine »Genre-Humanität« (S. 229) belächelt. Wer das Kapitel, das unter dem Namen »Die Religion der Tränen« diese Dinge abhandelt, nach seinem philosophischen Gehalt durchgeht, wird wenig mitnehmen. Er wird sich mit der Behauptung begnügen müssen, daß Mitleid nichts anderes sei »als die innere Seite oder das Korrelat zu demjenigen Zorne..., welcher sich beim Betrachter der grausamen Szene ... einstellt« (S. 87). Der Satz ist dunkel. Desto klarer ist, daß Mitleid in der Tat eitel Schaum für den ist, der sich die Hände in Unschuld wäscht.

Das Unverwechselbare an diesem Buch, die Sache, der sich der Autor verschrieben hat, wird man mit einem Worte bezeichnen können: es ist die Kunst, Spuren zu verwischen. Die Spur der Herkunft, die seine Gedanken tragen; die Spur des geheimen Vorbehalts, der in seinen konformistischen Sätzen steckt; und zuletzt die Spur dieses Konformismus selbst, die sich freilich von allen am schwersten beseitigen läßt. Die Zweideutigkeit ist Sternbergers Element. Er erhebt sie zur Methode seiner Nachforschungen: »Bedingnisse und Taten, Zwang und Freiheit, Stoff und Geist, Unschuld und Schuld können in der Vergangenheit, deren unabänderliche Zeugnisse, wenn auch verstreut und unvollständig, vor uns liegen, nicht voneinander abgeschieden werden. Alles dies ist vielmehr stets ineinander verwirkt, und das Verwirkte kann beschrieben werden.« (S. 7) – Mit Sternbergers Gedankengut steht es so: er konfiszierte es und ihm wurde es konfisziert. Kein Wunder, wenn es zuletzt konfisziert aussieht – wie man von einer konfiszierten Visage spricht. Diese Ansichten vom neunzehnten Jahrhundert sind wie geschaffen, Einsichten des zwanzigsten preiszugeben.


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