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R[obert] C[edrici] Sherriff, Badereise im September. Roman. Deutsch von Hans Reisiger. Berlin: S. Fischer Verlag (1933). 342 S.
Der kleine Mann aus London macht seine Badereise. Es lohnt sich, sie zu schildern, denn es ist, seit zwei Jahrzehnten, genau die gleiche. Und neben Stevens, dem Familienvater, lohnen auch Frau und Kinder die Beschreibung. Wie gehen sie in dieser Badereise nicht alle auf! Und wie entfalten sie alles, was farbig, liebenswert an ihnen sein mag, so unscheinbar und zuverlässig wie Teeblumen auf einer Wasserfläche ihre bunten Ränder.
Liebenswürdig ist die Angst, mit der Frau Stevens Jahr für Jahr dem Wagenwechsel in Chapham Junction entgegensieht; und pittoresk in ihrer Unbeholfenheit die große, alljährliche Begrüßung der Frau Huggett, die das Haus »Seeblick« in Bognor führt, durch die auf ihrer Schwelle stehende Familie. Diese Familie ist in allen ihren Gliedern bewandert in der Kunst, sich ihr Vergnügen auf denkbar praktische Manier zu schaffen und andererseits nicht weniger geschickt, aus ihrer praktischen Geschäftigkeit sich eine Art Vergnügen zu gestalten. Vor allem aber hat es seinen Zauber für diese Handvoll Menschen, Jahr für Jahr sich dichter in Gewohnheit einzuspinnen. Vielleicht spielt mit, daß dieses simple und bescheidene Familienleben vor bedeutenderem, bewegterem Hintergrunde etwas Enges und Ärmliches bekommen könnte, indessen es vor dem soliden, den ihm Landschaft und Gesellschaft dieses kleinen Seebades geben, selbst hin und wieder einen Anflug von Abenteuer und Exotik annimmt. Wie weniges gehört dazu! Ein grauer und sturmbewegter Tag am Meer. Auf der Promenade war man eben noch beisammen; da fehlt die Mutter. Auf den Wellen, in der Ferne – ist das nicht ihr blauer Hut? Er ist es nicht. Nach wenigen Schritten wird die Mutter in dem nahen, verglasten Unterstand gesichtet. Aber so wenige Sekunden sind genug gewesen, das Bild einer Familienkatastrophe auf den Prospekt von Bognor hinzuzaubern.
Wenn Sommerwochen an der See als hohe Zeit der Träumereien und Versunkenheit in Geltung stehen, so werden sie nicht bald einen verläßlicheren Schilderer als Sherriff finden. Er ist ein Meister jener flüchtigen Gebilde, die man »Tagträume« genannt hat. Und sind es die Geschöpfe, die er darstellt, denn weniger? Wer verstünde sich vielmehr auf solche Träumereien besser als der kleine Mann aus unseren großen Städten? Das Leben hat ihm mehr versagt, als es ihm gab; er hat gelernt, in seine Arbeit in Büro und Garten, ins Zeitunglesen und ins Stadtbahnfahren viel tröstliche Traumstückchen einzulegen. Tröstlich noch, wenn sie traurig sind. Herr Stevens kann nicht ohne Traurigkeit des Tags gedenken, da der Fußballklub nach jahrelanger treuer Arbeit, die er für dessen Sache geleistet hat, das Protokoll in andere Hände legte. Doch eben diese Traurigkeit, die den Gekränkten selten, aber dann unabweisbar, überkommt, spinnt dieses Mißgeschick mit jedem Jahr zärtlicher seinem Lebenslaufe ein.
Das ist ja wohl das Geheimnis des kleinen Mannes: das meiste wird ihm »Stoff zum Träumen«. Die Kraft oder das Werkzeug, es zu etwas anderem zu gestalten, besitzt er nicht. Sogar die seltenen Male, da ihm Gelegenheit geboten scheint, das Schicksal fest in seine beiden Hände zu nehmen, lassen nichts zurück als Dunst. Und dieser Dunst verbindet auf dem langen, einsamen Herbstspaziergang des Herrn Stevens sich mit dem Morgendunst, aus welchem sich die Stimme der Erinnerung zu ihm findet: »›Nicht etwa als ob wir irgendwie mit Ihnen unzufrieden wären, Herr Stevens – im Gegenteil, wir betrachten Sie als einen unserer wertvollsten Mitarbeiter. Aber wir müssen mit der Zukunft rechnen: wir haben schwerste Konkurrenz zu gewärtigen. Wir müssen neue Märkte finden, und Herr Wolsey hat ausgedehnte Erfahrungen im Detailhandel. Wir sind überzeugt, daß Herr Wolsey ein Mann ist, unter dem Sie ausgezeichnet werden arbeiten können.‹ – Das eine Wort im letzten Satz – das Wort ›unter‹ – hatte ihn wie ein Peitschenschlag getroffen. – Für einen Augenblick hätte er ihnen am liebsten empört den Fehdehandschuh hingeworfen und um seine Entlassung gebeten – aber dann fiel ihm ein, was im Fußballklub geschehen war – und hier ging es um seine Lebensstellung – nicht nur um Sport –, und der Direktor hatte auch gleich wieder von etwas ganz Alltäglichem gesprochen – .« So geht der kleine Mann in kräftigen Schuhen durchs regennasse Gras im Wald und nimmt sein Leben durch.
Früher einmal war der Schäfer der Held der Idylle; heute ist es der kleine Mann. Und die besondere Art seiner Naturverbundenheit verrät, wie einst die schäferliche, einiges über den Zustand der Gesellschaft, aus dem sie stammt. Ein kleiner, sentimentaler Vorbehalt, ein Trick, kennzeichnet dies Verhältnis zur Natur. »Über allen« – so schildert Sherriff seine kleinen Leute vom Strand von Bognor – »lag ein Geist fröhlicher, ungezwungener Freiheit ... niemand fragte danach, wer oder was seine Mitmenschen wären: lächelten sie, so lächelte man auch –, redeten sie, so redete man auch – redete von dem, was hier um einen her war, und nicht von dem, was hinter oder vor einem lag.«
Nun – eben diese Haltung ist es, welche heute in jenen Schichten der Gesellschaft, die nicht gerne, was vor und hinter ihnen liegt, betrachten mögen, die Neigung zur Idylle gefördert hat. Auch dieses Publikum zieht vor, mit dem, was es um sich herum gewahrt, sich zu befassen. Besonders, wie wir auch in Deutschland wissen, mit jenen kleinen Angestellten, die seit kurzem in die Romane eingezogen sind. Sie haben da bisweilen – und gewiß bei Sherriff – fast die Rolle übernommen, die im achtzehnten Jahrhundert die Bewohner Otahaitis und, noch später, die schwarzen Kinder der Natur auf den Plantagen, auf denen Onkel Tom zu Hause war, gespielt haben. Die in dem Kampfe der Interessen und Ideen Verwickelten neiden – so scheint es manchmal – dem kleinen Mann die Möglichkeit, sich seinen grauen Alltag mit alltäglichen Träumen zu vergolden.