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Alfred Zander, Leben und Erziehung in Pestalozzis Institut zu Iferten. Nach Briefen, Tagebüchern und Berichten von Schülern, Lehrern und Besuchern. Aarau: Verlag H. R. Sauerländer u. Co. [1932]. X, 214 S.
»Erzieher der Menschheit zu Iferten« – so heißt es auf Pestalozzis Grabstein mit der schönen, klaren Gliederung seiner Lebensperioden. Das Institut zu Yverdon, die letzte große Gründung Pestalozzis, stand, wie wohl jedes seiner Werke, unter einer eigenen Paradoxie. Als Pestalozzi, fast sechzigjährig, von Münchenbuchsee fortging, galt ihm sein praktisches Wirken für abgeschlossen. Für Iferten hatte er eine Kommission ernannt, der die Leitung der Schule obliegen sollte. Als aber unter deren Mitgliedern eines der maßgebenden sich zurückzog – und dies Ereignis ließ nicht lange auf sich warten – fiel alles wieder auf Pestalozzis Schultern zurück. Da stand er nun in seinem siebenten Jahrzehnt und auf der Höhe seines Ruhms, eine gewaltige Autorität, ein Lehrer Europas, und dennoch war und blieb es seine Sache, wie in der Frühzeit, auf dem Neuhof, einem werdenden Gemeinwesen von seiner Wirtschaftsordnung bis zu seinen Andachten aus dem Gröbsten herauszuhelfen. Wohl möglich, daß die von jeher zerrissene Persönlichkeit des Mannes unter der Wirkung solcher Widersprüche ihre schroffsten, aber auch erhabensten Formationen annahm. Es kennzeichnet die Zuverlässigkeit und Treue von Zanders Arbeit, daß sich in seiner Schilderung das Institut gewissermaßen als die Projektion eines großen Charakters in einem begrenzten Gemeinwesen darstellt. Und von keiner Seite dürfte dieses Gemeinwesen fesselnder, ja zuletzt von keiner auch noch heute pädagogisch lehrreicher sein.
Iferten war ein pädagogischer Kongreß in Permanenz. Seine Abgeordneten – Schüler, Lehrer, Besucher – kamen aus aller Welt. Aus Hannover, München, Königsberg, Würzburg so gut wie aus Klagenfurt oder Wien, Paris, Marseille, Orleans, Mailand, Neapel, Madrid, Malaga, Riga, Smyrna, London, Philadelphia, Baltimore und Kapstadt. Im Unterricht wie in allen Erziehungsmaßnahmen sah Pestalozzi niemals anderes als Versuche, und ein jeder hatte zu ihm Zutritt. Nicht nur daß Fremde im Laufe des Unterrichts eintraten, um ein Weilchen zuzuhören, – die Lehrer selbst waren mehr als einmal angewiesen, unter die Lernenden sich einzureihen. Erwachsene auf den Schulbänken zu finden, war daher ein ganz gewöhnlicher Vorfall. Man hört in den Quellen hin und wieder Klagen über solche Belastung des Unterrichts. Viel üblicher, aber auch viel kennzeichnender war offenbar, daß die Lernenden mühelos den Fremden unter sich aufnahmen. Es handelt sich ja nicht um Klassen in unserem Sinne. »Die beständige Bewegung der Zöglinge während des Unterrichtes, ihr Sitzen, Stehen, Gehen und Kommen, das Bilden und Lösen von Schülergruppen hat manchen Besucher überrascht.« Nicht selten waren ganz verschiedene Arbeitszirkel in ein und demselben Raum vereint und die vielen repetierenden Abteilungen, so berichtet man, machten in dem Saale ein Gesumme wie die Bienen in einem Bienenstock. Gewiß hat Pestalozzis Natur, die unberechenbare Abfolge seiner Impulse, der blitzartige Liebesblick aus den Augen, die oft wie Sterne hervortraten, ringsum Strahlen werfend, oft wieder zurück, als blickten sie in eine innere Unermeßlichkeit, dann wieder sein plötzliches Verstummen im Zorn – gewiß hat all dies Anteil an dem großartigen, bisweilen die Grenze des Erträglichen hart streifenden Bereitschaftszustand aller Glieder dieses Internats, in dem es keine Ferien gegeben hat. Der andere Ursprung dieser Ordnung aber war die Not. Die Lebensverhältnisse in Iferten waren spartanisch. »Sein Vermögen sei ein Schrank auf der Hausflur, ein Pult im Zimmer, wo die Kleinen wohnen, ein Stuhl und ein Bett im Schlafsaal der Kleinen«, schreibt ein Lehrer. In solchem Zimmer schliefen sechzig Kinder. Und wenn sie des Morgens um sieben nüchtern und ungewaschen aus der ersten Unterrichtsstunde kamen, dann stellten sie sich vor eine der langen hölzernen Röhren im Hof, wo jedem Schüler aus einem Loch ein Strahl von kaltem Wasser entgegenschlug. Waschbecken gab es nicht. Aber das ist nun wieder eine der großen fruchtbaren Paradoxien von Pestalozzi, daß dies Spartanische gänzlich frei von allen kriegerischen Ambitionen war; keines der Ressentiments, die sich heute hinter dem Ideal der Wahrhaftigkeit so gern verbergen, hatte da eine Stelle. Die Gesinnung in Iferten war die spartiatische der eben sich befreienden Bürgerklasse. Die Härte, die die Kinder dort zu spüren hatten, war niemals die von Menschen, sondern nur die von Holz, Stein, Eisen oder irgendeinem der Materialien, mit deren Bearbeitung sie späterhin ihre Stelle unter den Mitbürgern in Ehren sollten einnehmen können. »Gymnastique industrielle« nannte Pestalozzi den Werkunterricht, den er so dem Humanismus, wie er ihn verstand, aufs engste verband. Und das war überhaupt die Art des alten Pestalozzi, zu problematischen Erscheinungen, wie die »Buchgelehrsamkeit« der neuen Humanisten ihm eine sein mochte, Stellung zu nehmen. Statt gegen sie zu streiten, modifizierte er sie im stillen. Er war ein großer Ironiker: Wir haben gar keinen Anlaß, in der Belohnung, die er jährlich seinen besten Schützen unter den Kindern zudachte, etwas anderes als eine sehr hintergründige Maßnahme zu sehen: sie bekamen Schäfchen zu hüten.
Im Jahre 1808, zur Zeit der Blüte des Instituts, schreibt Pestalozzi an Stapfer: »Freund, aber wir glaubten, ein Korn zu säen, um den Elenden in unserer Nähe zu nähren, und wir haben einen Baum gepflanzt, dessen Äste sich über den Erdkreis ausbreiten.« So schlägt er den Bogen, wahrhaft einen Regenbogen, über seiner Lebensarbeit. Er hatte den Neuhof, wo er, unbekannt, an den Kindern der Armen getan hatte, was er in Iferten, vor den Augen der Gelehrtesten und der Herrschenden, an den Kindern der Reichen tat, nicht vergessen. »Seine alte Sehnsucht war es, eine Schar armer, verwahrloster Kinder um sich zu sammeln, um ihnen Vater sein zu können. Statt dessen mußte er Direktor eines weltberühmten Institutes werden. Wie litt er oft unter diesem Verzicht, wie träumte er gerne von seiner Armenschule! Der greise Pestalozzi war überglücklich, als Schmid 1818 es zustande brachte, eine Armenanstalt in der Nähe von Iferten, in Clindy, zu gründen.« Das ist es, was man sich vergegenwärtigen soll, wenn die Rede von Pestalozzi und mehr noch von »Persönlichkeitserziehung« ist. Denn er meinte es anders als seine Nachbeter. Sein Bild von der Persönlichkeit war nicht gewonnen im Umgang mit den Kindern der privilegierten Schichten. Ihn hatten die Armen und Gebrechlichen gelehrt, wie unbequeme Züge sie haben und vor allem in wie sehr ungelegenen Augenblicken sie sich Bahn brechen kann. Diese unwirsche, spröde, ja bedrohliche Persönlichkeit, die er so gründlich in sich selbst zu spüren hatte, war es, deren Hervorbrechen er mit unablässiger Aufmerksamkeit, ja mit Zittern erwartete. Pestalozzi hatte nichts Beispielhaftes. Was er den Kindern, ohne welche er nicht leben konnte, gab, war nicht sein Beispiel, sondern die Hand: die Handbietung, um mit einem seiner Lieblingsworte zu sprechen. Diese Hand lag immer bereit, ob sie bei Spiel und Arbeit half oder unversehens an die Stirn eines vorübergehenden Kindes fuhr. Davon enthält seine Lehre manches, das Beste aber die Praxis, der er in Iferten mit betonter Ausschließlichkeit seine letzte Kraft widmete. Mehr läßt sich denn auch über das Verdienst des Werkes, das dieser Praxis erstmals wirklich nachging, nicht sagen.