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(Helmut Anton – Hansjörg Garte – Oskar Walzel – Alain: Stendhal – Hugo von Hofmannsthal – Hermann Blackert – Hermann Broch)

Helmut Anton, Gesellschaftsideal und Gesellschaftsmoral im ausgehenden 17. Jahrhundert. Studien zur französischen Moralliteratur im Anschluß an J.-B. Morvan de Bellegarde. Breslau: Priebatsch 1935. 126 S.

Hansjörg Garte, Kunstform Schauerroman. Eine morphologische Begriffsbestimmung des Sensationsromans im 18. Jahrhundert von Walpoles »Castle of Otranto« bis Jean Pauls »Titan«. Leipzig: Carl Garte 1935. 179 S. (Dissertation Leipzig.)

Oskar Walzel, Romantisches. I. Frühe Kunstschau Friedrich Schlegels. II. Adam Müllers Ästhetik. Untersuchungen. Bonn a. Rh.: Ludwig Röhrscheid-Verlag 1934. 253 S. (Mnemosyne. Arbeiten zur Erforschung von Sprache und Dichtung. 18.)

Alain, Stendhal. Paris: Les Editions Rieder 1935. 108 S.

Hugo von Hofmannsthal, Briefe 1890-1901. Berlin: S. Fischer Verlag (1935). 352 S.

Hermann Blackert, Der Aufbau der Kunstwirklichkeit bei Marcel Proust, aufgezeigt an der Einführung der Personen in »A la recherche du temps perdu«. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1935. 134 S. (Neue deutsche Forschungen. 45; Abt. Romanische Philologie, Bd. 2.)

Hermann Broch, James Joyce und die Gegenwart. Rede zu Joyces 50. Geburtstag. Wien: Herbert Reichner 1936. 32 S.

   

Antons Schrift, die den Stempel einer Dissertation trägt, gibt nichts als eine Sammlung von Exzerpten aus den Werken des Moraltheoretikers Morvan de Bellegarde (1648-1734). Sie ist in unsicherem, teilweise fehlerhaftem Deutsch geschrieben.

Mit der Schrift Gartes hat eine Gattung, die nach der positivistischen Epoche der Literaturwissenschaft für ausgestorben gelten konnte, einen interessanten Nachfahr erhalten. Einzelne Exemplare von dieser Gattung mögen noch in Erinnerung stehen; genannt sei R. M. Werners Buch »Lyrik und Lyriker«, das gegen Ende des vorigen Jahrhunderts eine Klassifizierung der gesamten Lyrik nach genera und species unternahm. Absicht und Gegenstand paßten da zueinander so schlecht wie möglich. Die gleiche Absicht paßt zu einem veränderten Gegenstand bei G[arte] so gut wie möglich. Und das, weil der Schauerroman, entgegen der vom Verf[asser] gegebenen Versicherung, durchaus keine Kunstform ist. Der Schauerroman gehört einer Gattung des Schrifttums an, die – wie Reise-, Erbauungs- oder Jugendliteratur – sich zureichend nicht in ästhetischen, sondern nur in gesellschaftlichen Kategorien erfassen läßt. Einer solchen Erfassung leistet eine beschreibende Klassifikation der Gattung wertvolle Dienste. G[arte] nimmt sie unter einfachen und konkreten Kriterien vor. Und weil er diese, ohne rechts oder links zu blicken, unmittelbar aus dem noch sehr unerschlossenen Stoff geschöpft hat, so muß man ihnen nicht nur Sachgemäßheit, sondern auch eine gewisse Originalität zubilligen. Sie inventarisieren den Schauerroman nach Hergang, Figuren und Schauplatz. Dabei ist G[arte]s glücklichster Griff die Aufteilung des letzteren in die Dreiheit Tartarus, Welt und Elysium. Auch weiterhin wird vernünftig und drastisch spezifiziert. Wenn wir im Begriffskreis des Tartarus u. a. Gang und Treppe, Friedhof, gotisches Schloß, Uhren und Falltüren finden, so in dem des Elysiums die Einsiedelei, die melancholische Landschaft, Arkadien, das Gartenhäuschen. – Die Vertrautheit mit Jean Paul, dessen Werk dem volkstümlichen Schrifttum und gewiß auch dem Schauerroman verpflichtet ist, ist förderlich für G[arte] gewesen. Dagegen ist sein Versuch, den »Titan« selbst als Schauerroman darzustellen, wohl nur aus der Absicht begreiflich, für diesen letzteren das Prädikat »Kunstform« in Anspruch zu nehmen. Dieser Versuch ist abwegig. Abzulehnen ist er viel weniger im Interesse irgendwelcher hierarchischer Ordnungen, die innerhalb der Literatur einen engeren Bereich der Kunstformen bestimmen mögen, als im Interesse des Schauerromans selbst. Er vereitelt nämlich dessen Deutung (und damit auch die gewisser ihm verwandter Dichtungen wie des »Titan«). Zu dieser Erkenntnis hätte der Verf[asser] gelangen können, wenn er der klassifizierenden Methode die ihr zukommende untergeordnete Rolle belassen hätte. Statt dessen sucht er seine Untersuchung zu einer Definition vorzutreiben, die notwendig nichtssagend ausfallen muß. »Ein Geschehen«, heißt es, »vergegenwärtigt sich im Roman nur mit Hilfe von Figuren, und sein Ablauf kann nur in Episoden oder Teilgeschehen mittels wechselnder Leitfiguren verdeutlicht werden.« – Es hätte einer Blickwendung auf die gesellschaftlichen Grundlagen des Schauerromans in der Zeit vom Aufstieg des Bürgertums bis zum Biedermeier bedurft, um aus der verdienstlichen Arbeit mehr als eine Vorstudie zu machen. Ganz von selbst hätten sich damit die historischen Fluchtlinien in die Vergangenheit und in die Zukunft verfolgen lassen: sie führen in der einen Richtung zum Ritterroman, zum Detektivroman in der anderen.

Walzels Schrift zerfällt in zwei Abhandlungen, die gegenständlich durch mannigfache sachliche und personale Beziehungen zusammenhängen. Die »Frühe Kunstschau Friedrich Schlegels« behandelt u.a. das Verhältnis des jungen Schlegel zu Hemsterhuis, dessen Physiognomie in der eigentümlichen Atmosphäre zwischen Sturm und Drang und Romantik, in der sie von W[alzel] gezeichnet wird, gut zur Geltung kommt. Dabei wird die Weltauffassung des Sturms und Drangs als eine haptisch gerichtete der optisch gerichteten der Romantik entgegengestellt. – Die Abhandlung über »Adam Müllers Ästhetik« ist nicht nur historisch interessant. Sie berührt in der Darstellung der »vermittelnden Kritik« Müllers, die sich zur Aufgabe machte, ohne Hinzuziehung von Wertmaßstäben zu bestimmen, »welche Erscheinungen der Kunst geschichtlichen Verstehens würdig sind, welche nicht« eine Debatte, die auch heute noch nicht zum Abschluß gekommen ist. – W[alzel]s Studien sind akademisch im besten Sinne, unter eingehender Berücksichtigung der Literatur verfaßt und scheinen, nach ihrem merkwürdigen Schlußsatz zu urteilen, dem Bildungsideal des vorigen Jahrhunderts die Treue halten zu wollen. »Er baute«, heißt es von Adam Müller, »mit an dem einen Gedanken, den dieses Jahrhundert vielleicht am dringlichsten durchzusetzen strebte, an dem Gedanken eines Dritten Reichs, wie es den Gesinnungsgenossen Ibsens vorschwebte.«

Alains Buch setzt Bekanntschaft mit Stendhal voraus. Es entwickelt Überlegungen, die aus jahrelangem vertrauten Umgang mit seinen Schriften erwachsen sind. Diese Überlegungen sind um einige wenige Motive gruppiert. »Der Ungläubige«, »Der honnête homme«, »Der Politiker«, »Der Liebhaber«, »Der Dilettant« und »Der Schriftsteller« machen sechs Portraitstudien, die A[lain] seinem Modell abgewinnt. Von ihrer Meisterschaft mögen einige Reflexionen über den Politiker Stendhal zeugen. A[lain] konfrontiert dessen Verfahren am Beispiel der »Chartreuse de Parme« mit dem der landläufigen Historiker, die über die Kunst verfügen, »furchtbare Vorfälle zu berichten, ohne an sie zu glauben, ja ohne auch nur an sie zu denken«. Demgegenüber gibt es in der »Chartreuse« – das zeigt A[lain] – kaum ein Geschehen, ja kaum eine Haltung, der nicht das Brandmal von dem aufgedrückt ist, was eine Despotie aus dem Menschen macht. Stendhal erweist sich als politischer Physiognom, der die Gewalt der Herrschaftsverhältnisse noch in der Art und Weise zum Ausdruck bringt, in der eine Bettlerin ihr Almosen entgegennimmt. Sie tut es bei Stendhal mit Worten, die, wie A[lain] sagt, »gewiß nie gesprochen wurden, die aber in dem Verhalten stecken«. Und weiter diese, die Kunst Stendhals im Zentrum treffende Maxime seines Auslegers: »Die Überlegungen (des politischen Romanciers) haben von dem auszugehen, was laut nie gesagt werden wird.« Weiterhin sieht A[lain], daß dies Nie-Gesagte in Stendhals Sinn weniger geheimnisvolle Vorgänge des Innenlebens als geheimgehaltene Pläne betrifft. Damit stößt der Verf[asser] auf das Militärische in Stendhals Ingenium, das eine Wahlverwandtschaft zwischen ihm und Napoleon, den er bewundert hat, stiften mag. »Niemals vielleicht – um mich genau zu fassen: seit Platon nicht – hat es einen Autor gegeben, der seine eigenen Argumente mit derart militärischer Strenge Revue passieren läßt.« In ähnliche Richtung weist dieses Wort: »Die unverwechselbare Genialität des Romanciers Stendhal steckt zunächst darin, daß sämtliche Figuren seiner Bücher von Hause aus als gleich vor ihm stehen.« Die eigene politische Schulung hat A[lain] in den Stand gesetzt, dem Politiker Stendhal die aktuellsten Aufschlüsse abzugewinnen. Dafür mag dieser letzte Beleg zeugen: »Es scheint mir sehr beachtenswert, daß die Herrschaft der Despoten so wie deren beständige Konspiration untereinander ... hier nicht als Folge eines ungeheuerlichen Hochmuts dargestellt wird, nein, sie erscheinen lediglich als strikte Notwendigkeit derjenigen, die ihre Privilegien aufrecht erhalten wollen.«

Die Auswahl der Briefe Hofmannsthals reicht bis zum Jahr 1901. Sie stellt ein Gegenstück zu der ebenfalls dem Nachlaß entnommenen Gedichtsammlung dar, die vor derselben Jahresschwelle haltmacht. Die Briefe geben einen Einblick in das Verhältnis des Dichters zum Elternhaus; sie sind weiter ein Zeugnis seiner frühesten literarischen Relationen. Mehrere Briefe – darunter ein besonders schöner, der von H[ofmannsthal]s erster, so folgenreicher Begegnung mit Otway erzählt, – haben Leopold von Andrian zum Adressaten. Mehrere sind dem Briefwechsel mit Schnitzler entnommen. Andere, von den interessantesten, hat Hermann Bahr empfangen, dem besonders wichtige Mitteilungen über H[ofmannsthal]s umfassende, aber seit jeher reservierte Beziehungen zu Frankreich gewidmet sind. 1900 tritt H[ofmannsthal] mit Rodin, Maeterlinck und Jules Renard in Verbindung, und gleichzeitig berichtet er Bahr über den Jugendstil, der damals in Paris herrschte. Weiterhin findet man in diesen Briefen Motive, die aus dem späteren Leben des Dichters bekannt sind, oft in besonders unverstellter Fassung. So kommt eine der Unterweisungen, welche der junge Mann aus vornehmem Hause bei Goethe fand oder zu finden glaubte, gelegentlich der Lektüre von »Dichtung und Wahrheit« in diesem Satze zum Ausdruck: »Es tut einem eben völlig genug, wenn man in großer Art darüber belehrt wird, daß gewisse Dinge eben nicht gut sind und einfach ignoriert werden müssen.« Die Lebensluft der österreichischen Aristokratie macht sich in diesen Blättern auch sonst geltend. Bald sind es Manöverberichte, die mit den Wendungen ihres kultiviertesten Nachfahren ein Bild von der Daseinsweise des Offizierskorps geben, bald Briefe an hohe Gönner, deren diplomatische Abfassung eine Vorstellung davon gibt, wie sich die gesellschaftliche Elite des Landes um 1900 mit Kulturfragen auseinandersetzte. Besonders aufschlußreich sind die Briefe, die auf H[ofmannsthal]s Habilitationsabsichten Bezug haben. Leider sucht man in den spärlichen Anmerkungen, die dem Bande beigegeben sind, über diesen wie zahlreiche andere Sachverhalte vergebens Aufschluß. Eine Einleitung vermißt man gleichfalls, und selbst von der Nennung des Herausgebers ist abgesehen worden. Zu ihren Ungunsten sticht die Edition dieser wichtigen und schönen Briefe von den treuen und respektvollen Briefausgaben ab, an die uns das 19. Jahrhundert gewöhnt hatte.

Blackerts Marburger Dissertation hat die modisch nächstliegende Auffassung ihres Gegenstandes – eine Zersetzung der Lebenserscheinung durch die ratio als Charakteristikum von Prousts Werk zu erweisen – mit Einsicht und Mut vermieden. Da sie andererseits aber den gesamten Komplex dieses Werks selbständig nicht zu bewegen vermochte, so erhält dessen positive Auslegung etwas Gewaltsames. Sie kommt bisweilen einer erbaulichen Betrachtung allzu nah. Sie ist mit umso größerem Vorbehalt aufzunehmen, als der Verf[asser] seine auf den Kern von Prousts Schaffen gerichteten Fragen ausschließlich auf Grund formaler Analysen glaubt beantworten zu können. Dazu führt ihn ein schemenhafter Begriff vom Kunstwerk, das durch die Bezeichnung »Kunstwirklichkeit« nicht greifbarer wird. In der Tat ist ein Hauptzug dieser »Kunstwirklichkeit« das Vermögen, »sich gegen jede wirkende Wirklichkeit abzusperren«. Der Autor hängt gänzlich von den ästhetischen Theorien des deutschen Idealismus ab. Ihn »interessiert nicht, was Proust gesehen und dargestellt hat, sondern wie er es dargestellt hat«. – Das formale Gesetz von Prousts Werk erblickt der Verf[asser] in einer dem Roman bisher unbekannten Bestimmung seines gesamten Blickfeldes durch das schreibende und zudem unter der Arbeit in Entwicklung befindliche Ich. Man wird ihm nicht zugeben können, daß die damit eröffneten Einsichten wesentlich über die von Curtius in seiner Darstellung des Proustschen Perspektivismus gegebenen hinausgehen; B[lackert]s Verdienst liegt allenfalls in einer stärkeren Betonung des zeitlichen Elements. Wenn er sich im übrigen gegen jede psychologische Interpretation jenes Ichs verwahrt, so scheint er nicht abgeneigt, ihm eine existentielle angedeihen zu lassen. In ihr sucht er den aufbauenden, gleich weit vom Intellektualismus wie vom Impressionismus entfernten Charakter des Werks von Proust. Es »ist Form gewordene neue Wirklichkeitsexistenz ..., eine Weltanschauung jeder menschlichen Existenz überhaupt«. Wenn schließlich in solchen Gedankengängen das Werk in die Nachbarschaft der Action Française gerückt wird, so muß man sich fragen, ob dieser Versuch, die tiefste Schicht in Proust aufzuweisen, geglückt ist.

Die Auseinandersetzung mit dem Werk von James Joyce wird durch die Schrift Brochs wohl nur wenig gefördert werden. So zutreffend einzelne Umschreibungen sind, mit denen sie auf dies Werk Bezug nimmt, so bestätigt sie doch die alte Wahrheit, daß bloßer Enthusiasmus umso weniger Einsicht gewährleistet, je mehr Bedeutung sein Gegenstand hat. B[roch] erblickt im »Ulysses« von Joyce das »Totalitätskunstwerk« unserer Zeit. Er sucht, dieses Buch als »zeitgerecht« zu erweisen. Diesem Versuch dienen eine Reihe mehr oder minder glücklicher Einfälle, die das Verfahren von Joyce dem Leser durch Analogien in der Malerei (Futurismus), der Physik (Relativitätstheorie), der Seelenkunde (Psychoanalyse) verständlich zu machen bestrebt sind. Es spielt der richtige Gedanke hinein, daß »das Dichterische in die Sphäre der Erkenntnis zu heben«, eine gerade unserer Zeit zufallende Aufgabe sei. Hätte sich der Verf[asser] die Mühe genommen, die technische Position von Joyce innerhalb der heutigen Romanproduktion zu bestimmen, so hätte er einen Beitrag zur Lösung dieser Aufgabe geleistet. Er hat sich dagegen vielfach mit Improvisationen begnügt, wie sie z. B. der Vergleich zwischen Joyce und Picasso darstellt. Das wird teilweise in der beiläufigen Veranlassung dieser Schrift begründet sein. Es kommt hinzu, daß die methodische Schulung des Autors für die Behandlung seines schwierigen Gegenstandes nicht ausreicht. Seine Definition der totalitätserfassenden Dichtung, »die über jeder empirischen oder sozialen Bedingtheit steht und für die es gleichgültig ist, ob der Mensch in einer feudalen, in einer bürgerlichen oder in einer proletarischen Zeit lebt«, beweist das.


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