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Die Völker haben gewöhnlich nur ein unklares Bewußtsein davon, wie sie sich ineinander spiegeln. Durchaus getreu ist diese Spiegelung niemals. Am meisten sind sie sich augenblicklich in ihren technischen und sportlichen Leistungen gegenwärtig. Unschärfer wird der Befund, je mehr es auf künstlerische und literarische Bereiche zugeht. Nur allzu selten stößt man hier auf gültige Zeugnisse dessen, was vom eigenen Volk in dem Bewußtsein eines fremden lebendig ist. Das vorliegende deutsche Lesebuch für norwegische Gymnasien stellt ein solches Zeugnis dar.
Es läßt in jeder Hinsicht einen Schluß auf weit und ernsthaft vorgetriebene deutsche Studien an diesen Schulen zu. Der Umfang des Buches ist imponierend: siebenunddreißig Bogen deutscher Gedichte, poetischer und geschichtlicher Prosa. Noch kennzeichnender für die Gründlichkeit, mit der man an den Stoff herangeht, sind beigegebene sprachliche, biographische, statistische und kartographische Erläuterungen. Diese alle auch ihrerseits in deutscher Sprache gehalten.
Es wäre verfehlt, ein Buch wie das vorliegende kurzerhand nach literarischen Maßstäben oder auch nach pädagogischen Erfordernissen, die für deutsche Schulen gelten, zu beurteilen. Stets sind die Funktionen eines gegebenen Schrifttums in fremdem Land nach gewissen Seiten umfassender als die Aufgaben des gleichen Schrifttums in seinem eigenen. Norwegische Schüler sind darauf angewiesen, den deutschen Texten, mit denen man sie vertraut macht, viele Realien zu entnehmen, die den deutschen geläufig und vertraut sind. Daher bringt man gerade für den dritten und letzten Teil des Buches, der die »Historische Prosa« umfaßt, dem im Programm des Lesebuchs enthaltenen Rückgang auf die Quellen besonderes Vertrauen entgegen. Je ferner nämlich nach Kolorit und Stil die Texte unseren modernen stehen, desto greifbarer lassen sich die Realien, die in sie eingesenkten Sachgehalte, an ihnen aufweisen.
Wie dem nun sei – die Auswahl dieses dritten Teils erfolgte leider lediglich an Hand des Stoffs. Die Quellentreue dagegen ist vollständig preisgegeben. Weder Juliana von Stockhausen noch Zdenko von Kraft, weder Wychgram noch Haenisch können als Meister bezeichnet werden. Gerade in diesem Teile hätte es sich darum gehandelt, Quellen, die in Briefwechseln und Gedenkreden, Tagebüchern und Chroniken reichlich fließen, zu ihrem Rechte kommen zu lassen. Freilich sind sie dem Zugriff weniger parat; doch hätte die bedeutende anthologische Arbeit, die Hofmannsthal und Borchardt im Rahmen der Bremer Presse geleistet haben, hinreichende Anhaltspunkte gegeben. Mit unbestreitbarem Gewinn würde Loewenbergs Aufsatz über die Grimmschen Märchen der Vorrede zu diesem Buch selbst Platz gemacht haben. Die Darstellung Beethovens »nach« H. v. d. Pfordten gibt sehr viel weniger, als was Stücken aus Gesprächen oder dem Heiligenstädter Testament zu entnehmen gewesen wäre. Und Haenischs Aufsatz über August Bebel würde man nicht ungern durch eine von dessen Reichstagsreden vertreten sehen.
Bei solcher Durchführung des Quellenprinzips hätte sich ein Nebengewinn ergeben, der nicht zu verachten ist: nämlich eine gewisse bibliographische Unterweisung des Lesenden. Mehr als geschah hätte sich jedenfalls hier tun lassen; in den sehr genauen und begrüßenswerten »Erläuterungen«, die einen eigenen Band ausmachen, ist die bibliographische Seite zu kurz gekommen. Um so dankenswerter ist andererseits die Beigabe von »Liedern mit Klavierbegleitung« in einem zweiten Heft. Es ist ein guter Gedanke gewesen, die erste Berührung mit den Dichtungen einer fremden Sprache unter das Protektorat der Musik zu stellen. Und dazu fügt sich ausgezeichnet, daß die Auswahl auch dem Volkslied eine Stelle eingeräumt hat. Ja, gern gäbe man für weitere Stücke im Sinn des »Wunderhorns«, fürs »Bucklichte Männlein«, für Rückerts »Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt« den neuesten Teil der Auswahl preis. Die Gefahr allzu geringer Sprödheit gegen das, was jeweils als modern in Geltung steht und die für Bücher solcher Art stets fühlbar ist, besteht auch bei der Prosaauswahl. So sehr die Weite zu begrüßen ist, in die man mit ihr eintritt – selbst Meisterleistungen des Journalismus aus der »Frankfurter Zeitung« und anderen Blättern haben Platz gefunden – so wenig kann man es verstehen, wie Sudermann, Frenssen oder Bloem in eine engere Wahl von noch nicht dreißig deutschen Prosaisten geraten konnten. Dagegen vermißt man nicht nur den »Armen Mann im Tockenburg«, dessen Prosa, in seiner Lebensbeschreibung, den schönsten Volksliedern an die Seite zu stellen ist, nicht nur Ernst Moritz Arndt mit seinen nie genug geschätzten Märchen, sondern sogar Johann Peter Hebel, dessen »Kannitverstahn« mit Recht zum eisernen Bestand der deutschen Lesebücher zählt, von seinem »Herrn Charles« und seinem »Unverhofften Wiedersehen« zu schweigen.
Das hindert natürlich nicht, daß unter den verbleibenden Stücken sogar dem Kenner dies oder jenes wenig bekannte und bemerkenswerte begegnen kann. Auch ist die Sammlung vielfältig genug, um ihre schließliche Bestimmung durch den Lehrer zu erfahren, der sie handhabt. Wichtiger als das alles ist der Beitrag, den sie zum Bild des deutschen Schrifttums, wie es sich in norwegischen Augen darstellt, liefert. Und da liegt der Vergleich mit einem Panorama nahe, in dem die prächtigen Alpengipfel ein wenig zu massiv und zu gedrängt sich aneinander reihen, dergestalt, daß Blicke in die Täler nur selten glücken. Dabei verstehen wir unter diesen Tälern das Fundament des Volkstums, aus dem die Gipfel künstlerischer Schöpfung sich erheben. Wenn für die hoffentlich bald bevorstehenden Neuauflagen dieses Lesebuches ein Wunsch bleibt, so der: den Blick des Lesers hin und wieder in die geheimeren Schluchten namenlosen oder doch unscheinbaren Schrifttums hinabzuziehen, die sich zwischen den klassischen Höhen auftun.
»Die Meister«, ein Lesebuch für Gymnasien, wurde herausgegeben von Josef Georg Lappe bei Fabritius und Sonners Forlag, Oslo. Dazu erschienen: »Erläuterungen und biographischer Nachtrag zum Lesebuch«; sowie: »Lieder mit Klavierbegleitung«. Beide Heftchen haben den gleichen Herausgeber.