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Arnold Bennett, Konstanze und Sophie oder Die alten Damen. ([Roman.] Aus dem Englischen übers. von Daisy Brody.) 2 Bde. München: R. Piper u. Co. (1932). 414 S., 459 S.
Von Oscar Wilde erzählt man: Einmal fand er sich in einem Kreis von Leuten, und die Rede war von der Langeweile. Jeder hatte ein Sprüchlein; Wilde schwieg bis zuletzt. Erwartungsvoll sah man ihn an. Da sagte er: »Wenn ich mich langweile, dann nehme ich mir einen guten Roman, setze mich ans Kaminfeuer und schaue ihm zu.«
In der Tat, diese beiden passen gut zueinander: ein loderndes Kaminfeuer und ein aufgeschlagener Roman. Und weil wir einen solchen in Händen halten – jetzt, 25 Jahre nach dem ersten Erscheinen, ist das Hauptwerk Bennetts übersetzt –, wollen wir, ohne ihn zu schließen, einen Blick ins Kaminfeuer werfen. So phantasielos ist ja keiner, daß ihm beim Blick in den Kamin nicht etwas einfällt. Wir wollen sehen, warum das Schauspiel, das er eröffnet, uns ein Gleichnis des Romans ist. Der Leser von Romanen hält es anders als der, der sich in ein Gedicht vertieft oder der einem Drama folgt. Er ist vor allem einsam, wie nicht nur der Mann im Publikum, sondern auch der, der ein Gedicht liest, es nicht ist. Der eine ist in die Masse eingesackt und nimmt an ihrer Stellungnahme teil, der andere bereit, an einen Partner sich zu wenden und seine Stimme dem Gedicht zu leihen. Der Leser des Romans ist einsam, und für eine gute Weile. Mehr als das: in dieser Einsamkeit bemächtigt er sich seines Stoffes eifersüchtiger, ausschließlicher als jene beiden anderen. Er ist bereit, ihn gleichsam spurlos sich zu eigen zu machen, ja ihn förmlich zu verzehren. Denn er vernichtet, er verschlingt den Stoff wie Feuer Scheiter im Kamin. Die Spannung, die das Werk durchzieht, gleicht sehr dem Luftzug, der die Flammen im Kamin ermuntert und ihr Spiel belebt.
Dies Gleichnis zeigt ein anderes Bild, als man es meist in der Erörterung des Romans als Gattung erkennen wollte. Jene geht in Deutschland von Friedrich Schlegel aus. So blieb es denn nicht ohne Folgen, daß dieser nichts als die Kunstform im Roman – die Formen eines Cervantes oder eines Goethe – erkennen wollte, keinesfalls jedoch das breite Fundament des Epischen. Dies Fundament teilt der Roman mit der Erzählung, und am meisten tritt es bei den Engländern zutage: Scott, Dickens, Thackeray, Stevenson und Kipling bleiben auch als Romancier vor allem Erzähler. Erzähltes strömt durch sie ins Buch und strömt auch als Geschichte wieder aus ihm aus. Flaubert dagegen, der in dieser Sache den Widerpart verkörpert, mochte noch so oft sich seine Sätze selbst mit lauter Stimme vorlesen: die rhythmische Vollkommenheit, die er derart zu prüfen dachte, schließt den Leser nur um so schalldichter ins Innere seiner grandiosen Werke ein. Satz drängt in ihnen sich in der Tat an Satz wie Stein an Stein im Mauerwerk. Mehr hat es nicht bedurft, um – sehr zum Nutzen der anspruchsvollen Impotenz – die Mystik der »Konstruktion« mit ihrem Widerhall sonorer »Prosodie« in Kurs zu setzen. Wenn aber der Roman ein Bau ist, dann viel weniger im Sinn des Architekten als der Magd, die Hölzer im Kamin aufschichtet. Nicht haltbar, sondern brennbar soll er sein.
In einem Raum von mehr als fünf Jahrzehnten hat Bennett die Ereignisse geschichtet. Gleich locker bauen sich im gleichen Raum Generationen aufeinander: drei. Und diese ruhen sanft auf der Asche der vorangegangenen. Kaufleute waren es, die in den Five Towns ansässig waren. Ihr Geschlecht hat sich für jene fünf Jahrzehnte in zwei Schwestern verkörpert, deren jüngere kinderlos sterben wird, indes die ältere nur einen liebenswürdigen, verwöhnten Erben beider Vermögen hinterlassen wird. Die Five Towns, wo sie ihre Wiege und, am gleichen Fleck, dann später ihre Bahre zu stehen haben, sind unentbehrlich, »einzig in ihrer Art. Vom Norden bis zum Süden der Grafschaft stellen nur sie Zivilisation, angewandte Wissenschaft, organisierte Fabrikationsmethoden und das ganze Jahrhundert vor bis man nach Wolverhampton kommt. Sie sind einzigartig und unentbehrlich, weil man ohne die Five Towns nicht Tee aus Tassen trinken, ohne ihre Hilfe keine Mahlzeit mit Anstand verzehren kann. Deswegen ist die Architektur der Five Towns ein Aufbau von Brennöfen und Schloten; deswegen ist ihre Atmosphäre so schwarz wie der Schmutz und Dreck auf ihren Straßen; deswegen brennt und raucht es dort die ganze Nacht, so daß Longshaw manchmal schon mit der Hölle verglichen wurde.« Bennett eröffnet diese Hölle nicht wie Dickens die Hölle des frühindustriellen London im »Raritätenladen« sichtbar macht. Das Dasein seiner beiden Schwestern ist gegen sie abgedichtet; wenn er das nicht sagt, macht er es sinnbildlich, indem er sie in einem Modenmagazin aufwachsen läßt, für das sie beide schon von Anfang an bestimmt gewesen sind. Um welchen Preis weicht späterhin die jüngere dieser Bestimmung aus, und wie sehr scheint die Kraft, die sie aus diesem Hause reißt, der, die es schließlich untergräbt, verwandt. Denn gegen Ende des Romans beginnt die Stadt, in der die Väter es begründet haben, ihr Gesicht zu ändern. Die Daseinsform, in welcher Arbeit und Genuß sich einst die Waage hielten, das Geschäft rentabel, das Leben lebenswert gestalteten, stirbt aus. Der Schatten der Konzerne und der Trusts beginnt sich über die Five Towns zu lagern; gegen den Anfang des Jahrhunderts haben Konkurrenten, die mit Plakaten, mit Grammophonen und mit Schleuderpreisen ins Feld rücken, die alte Kaufmannschaft zurückgeschlagen. Das Leben der Schwestern fällt in eine Zeitenwende. Eine, die ältere, hält dem Hergebrachten noch Treue, übernimmt den Laden, bringt ihren Sohn zur Welt und hütet das Haus, in dem sie dreißig Jahre später die Schwester, welche heimkehrt, zu sich nimmt.
Mit diesem Hause hat es seine eigene Bewandtnis. Es ist der Schoß, in dem sich der Reichtum der Familie gebildet hat. Allmählich, in Jahrzehnten, ist es aus drei Wohnungen zu einem einzigen Labyrinth geworden, in dem Wirtschaftsräume, Laden und Behausung zu einem Bau verschmolzen sind, der dem Komfort nicht viel, doch um so mehr der unverrückbaren Gewohnheit bietet. An diesem Haus hat der Erzähler einen von seinen dichterischen Zauberstreichen verübt, an denen der Roman so reich ist. Es ist, trotz all der Schicksalstage, die der beiden Frauen darin harrten, doch im Grund nie etwas anderes als der Bereich, in dem das Dasein der beiden spielenden Geschwister und der beiden alten Frauen sonderbar, schwer unterscheidbar, ineinander spielt. »Das Gefühl der geräumigen Düsternis jener unteren Regionen, einer Düsternis, die oben an der Küchentreppe begann und in den unübersichtlichen Winkeln der Vorratskammern oder aber ohne allen Übergang in der Alltäglichkeit von Brougham Street endete – dieses eigenartige Gefühl, das Konstanze und Sophie in ihren Kinderjahren erworben hatten, geleitete sie fast unvermindert bis ins späte Alter hinein.«
Es ist ein trockenes Material, an dem sich das brennende Interesse des Lesers nährt. Was heißt das? »Ein Mann, der mit fünfunddreißig stirbt«, hat Moritz Heimann einmal gesagt, »ist auf jedem Punkt seines Lebens ein Mann, der mit fünfunddreißig stirbt.« Ich weiß nicht, ob das richtig ist; ich glaube und hoffe, es ist falsch. Doch im Roman ist es vollkommen richtig; ja, man kann das Wesen der Romanfigur nicht besser bezeichnen als mit diesem einen Satz. Er sagt, daß sich der Sinn ihres Lebens nur erst von ihrem Tode her erschließt. Nun aber sieht der Leser im Roman Figuren, an denen er den »Sinn des Lebens« abliest. Er muß daher, so oder so, im voraus gewiß sein, daß er ihren Tod erlebt. Zur Not wohl nur im übertragenen Sinn: das Ende des Romans; doch besser schon, im eigentlichen. Wie geben sie ihm zu erkennen, daß der Tod schon auf sie wartet, und ein ganz bestimmter, und dies an einer ganz bestimmten Stelle? Das ist die Frage, die den Leser so unwiderstehlich an seinen Roman bannt wie jene Flamme im Kamin ans Scheitholz. Er macht sich eigentlich mit dem Tod identisch, und er beleckt den Handelnden alsbald; wie Flammenzungen nämlich, die den Ast umspielen, ehe er endlich Feuer fängt.
Er soll zu Asche werden. Darum heißt dies Buch, das mit der Mädchenzeit der Schwestern einsetzt, dennoch »die Geschichte der alten Damen«. Bennett erzählt in einer Einleitung, die leider der deutschen, sprachlich mustergültigen Übersetzung fehlt, wie der Gedanke an dies Werk ihm lange, bevor er an die Arbeit ging, einmal beim Anblick einer alten Frau kam, die sein Pariser Stammlokal betrat. Gedanken, wie die traurige Erscheinung sie in ihm weckte, kann sich jeder machen. Ihm aber wurden sie zum Ursprung eines Lebens, das so gedichtet war, daß nichts von ihm verloren ging.
»Niemand«, sagt Pascal, »stirbt so arm, daß er nicht etwas hinterläßt.« Auch an Erinnerungen – nur daß die nicht immer einen Erben finden. Der Romancier tritt diese Erbschaft an. Und selten ohne tiefe Melancholie. Denn was die Überlebende der Schwestern hier von der Toten meint: »Sie hatte überhaupt nichts vom wirklichen Leben gehabt«, das pflegt die Summe aus der Hinterlassenschaft zu sein, die an den Romancier fällt. Ein ganzes Liebesschicksal hat die Tote in weltgeschichtlichem Dekor durchlebt. Wie arm erscheint es doch in dem Gedächtnis, das ihm der Dichter stiftet. Manchmal ahnt es die Lebende voraus. »Manchmal, in einem leeren Augenblick, überkam sie der Gedanke: ›Wie sonderbar, daß ich hier bin, daß ich gerade das tue, was ich tue!‹ Aber der regelmäßige Gang ihres Lebens riß sie gleich wieder mit. Zum Schluß des Jahres 1878, des Ausstellungsjahres, nahm ihre Pension schon zwei Stockwerke statt des einen ursprünglichen ein.«
Das Werk ist in vier Bücher eingeteilt; sein letztes ist überschrieben »Was das Leben bringt«. Und dessen beide Schlußkapitel heißen »Sophies Ende« und »Konstanzens Ende«. Das ist von allen Gaben, die es bringt, die sicherste: das Ende. Das zu sagen, braucht es Romane freilich nicht. Doch ist nicht darum der Roman bedeutend, weil er uns fremdes Schicksal darstellt, sondern weil dies unter der Flamme, die es frißt, die Wärme an uns abgibt, welche wir aus unserm eigenen nie gewinnen. Das, was den Leser immer wieder zu ihm zwingt, ist seine höchst geheimnisvolle Gabe, ein fröstelndes Leben am Tod zu wärmen.