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1934

Rückblick auf 150 Jahre deutscher Bildung

Zu dem Buch »Die Problematik des ästhetischen Menschen in der deutschen Literatur« von K. J. Obenauer

K[arl] J[ustus] Obenauer, Die Problematik des ästhetischen Menschen in der deutschen Literatur. München: C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung 1933. X, 412 S.

Die Fragen, denen Obenauer sich zugewandt hat, stehen im Mittelpunkt der neuesten deutschen Literaturgeschichte, sofern sie ihrem Gegenstand mit lebendigem Zeitbewußtsein sich nähert. Die vielgenannten Prägungen, in denen Schiller das Recht der Anmut gegen den uneingeschränkten Anspruch der Würde, welchen Kant vertritt, erhebt, mit denen Goethe der schönen Seele des Pietismus den ästhetischen Adelsbrief verlieh, die Romantik die Ironie als Blüte der männlichen Besonnenheit feierte, und der schöne Schein, der noch bei Keller sein Lebensrecht dem Alltag abzutrotzen sucht – sie alle gehören der geistigen Auseinandersetzung an, die seit der klassischen Bewegung nicht mehr zum Stillstand gekommen ist.

Was der Volksmund mit einer ebenso bündigen wie weitherzigen Wendung als »Lebenskunst« anerkennt, das hat in der deutschen Bildungsgeschichte der letzten anderthalb Jahrhunderte seine historische Problematik. Mit ihr hat der Verfasser es zu tun. Und zwar ist seine Darstellung in der Hauptsache eine literarhistorische, »mehr konkrete Seelen- als konstruktive Geistesgeschichte, d.h. weniger Geschichte einer abstrakten Idee als einer ganz bestimmten Form des Menschen«. »Beiträge zur geheimeren Seelengeschichte der letzten Jahrhunderte« nennt der Verfasser sie in einer vielleicht nicht ganz unbeabsichtigten Anlehnung an Geister- und Liebesromane des Biedermeier. Jedenfalls fehlt es auch seiner Darstellung nicht an weitgespannten Verflechtungen, überraschenden Zwischenspielen und bedeutungsvollen Entwirrungen.

Er hat es auf sich genommen, das Schicksal der humanistischen Bildungsidee im Wandel ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit aufzuzeichnen. Er läßt erkennen, »wie sehr in den vergangenen Jahrhunderten ästhetische Kultur, die Formwerdung des Volkes bedeutete, doch immer an die Entwicklungshöhe einzelner Stände gebunden war«. Der ganze hier visierte Zeitraum bekommt derart seine Gliederung und Profilierung. Es öffnet sich die Kluft zwischen den Ardinghello und Hyperion, die in den großen Resten der Antike den Aufruf der Vergangenheit an ihre, die eigene Gegenwart vernahmen, und jenen Klassizisten, die in Rom nur darum eine letzte Sehnsucht stillten, weil sie die Kunst um der Kunst willen suchten. Die Haltung des späten Goethe, der »in den letzten Büchern der Lehrjahre an die hohe ästhetische Kultur des Adels positiv anknüpft«, hebt sich von den in Rousseaus Farben gehaltenen Sozialgemälden Jean Pauls ab. Und Büchners politisch genährte Verzweiflung, die im Spiel Leonces und Lenas ihre Zuflucht sucht, wird ganz mit Recht in eine andere Landschaft eingetragen als die, in der die schwelgerische Schönheit der Lucinde zu Hause ist.

Nicht ohne Sinn für Schwellen und Nuancen ist der Verfasser diesen Gebilden und Bewegungen nachgegangen. Und ohne Auseinandersetzungen zu suchen, weiß er die eigene Haltung scharf genug von der der früheren Forscher abzuheben. »Niemand«, so sagt er, »wünscht im unklaren darüber gelassen zu werden, wo die Grenzen der ästhetischen Lebensidee liegen. Diese ins Bewußtsein zu erheben, ist heute die Aufgabe. Wir haben nur noch geringe Sympathien für diesen Typus, wir können selbst Kierkegaard zustimmen, der den ästhetisch Lebenden in nihilistischer Schwermut enden läßt.«

– Leider sind die Zitate nicht immer genau. So lautet der Schluß von Georges »Jahrhundertspruch« (S. 403) richtig: »In jeder ewe / Ist nur ein gott und einer nur sein künder.«


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