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1932

Privilegiertes Denken
Zu Theodor Haeckers »Vergil«

Theodor Haecker, Vergil. Vater des Abendlands. Leipzig: Jakob Hegner 1931. 148 S.

»Vergil. Vater des Abendlands« heißt ein Buch, in dem Theodor Haecker die Wahrheiten, Lehren, Mahnungen aus dem Schaffen Vergils darlegt, die ihm nach dessen zweitausendjähriger Vollendung die zeitigsten scheinen. Der Verfasser, obwohl Katholik, ist Schüler von Kierkegaard, und zwar nicht nur als Theolog sondern ebensosehr als Polemiker. Ihrer polemischen Absicht nach ist auch diese Schrift zu betrachten. Es geht Haecker um zwei Hauptgegenstände: die Auflösung der überkommenen Wertung, die Vergil in den Schatten Homers stellt, und die Vernichtung jeder untheologischen, genauer noch: unkatholischen Interpretation des Dichters. So unverwechselbar das Buch durch die Doppelheit dieser Absicht in der übrigen Jubiläumsliteratur steht, so ist es mit ihren wichtigeren Werken doch einig in dem einen Bestreben, außerhalb Homers, außerhalb nicht nur des Griechentums, vielmehr der reinen Dichtung überhaupt den Standort zu suchen. Wie grundlegend sich, gewiß zum ersten Male seit ein paar hundert Jahren, die Dinge hier geändert haben, beweist ein Blick in irgendeine der landläufigen Literaturgeschichten um die Jahrhundertwende: »Vergil«, so heißt es da schlankweg, »war kein großer Dichter.« Demgegenüber hat sich in den verschiednen Schriften zum Feierjahr eine höchst positive Einschätzung des Dichters hervorgetan und auch, daß sie vom Religiösen ihren Ausgang nimmt. »So haben wir«, schreibt etwa Wjatscheslaw Iwanow, »in der Vergil'schen Darstellung der Irrfahrten und Kriegsmühen des ›pater Aeneas‹ statt einer rühm- und leidvollen Heldensage alten Schlages, die auf eine mythologische Begründung des betreffenden Heroenkults hinausliefe, eine Art an Bibelgeschichten gemahnendes Heiligenleben vor uns, das eine unabsehbare Folge von Taten, die schon nicht mehr von ihm selbst, sondern erst von den Erben seiner Sendung vollbracht worden sind, einleitet und nur als Auftakt dient zu einer unermeßlichen Schicksalsentfaltung, angesichts deren er sich nicht so sehr als ihr Urheber denn als Vorläufer des verheissenen Heils und als Gottes Werkzeug fühlt.« »Mithin stellt sich Vergils Geschichtsdeutung zeitlich zwischen die Bibel und des heiligen Augustin Meisterwerk De Civitate Dei.« Es trifft sich, daß diese Worte eine durchaus brauchbare Umschreibung von Haeckers Grundkonzeption geben. Ihre weitere Entfaltung bei diesem ist freilich an einen eigentümlichen Aufbau gebunden. Haeckers Buch besteht aus Kapiteln, deren die meisten einen Vergilschen Halbvers zum Motto und zugleich zum Gegenstand ihrer Interpretation haben. Diese ist demnach im wesentlichen Exegese einzelner Redewendungen, ja Worte, wie das bei einem Sprachmystiker, der Haecker ist, nicht überraschen kann. Ohne Härte geht es bei keiner Auslegung, geschweige denn der theologischen ab. Sie kann die dichterische Fügung sprengen, um so zu mächtigeren Grundgehalten vorzustoßen und doch zugleich dem Text im Wortkern die fruchtbarste Entfaltung angedeihen zu lassen; sie kann theologisch sein, ohne die Philologie darum preiszugeben. Haeckers Deutung aber, die weniger den epischen als den römischen Zusammenhang sprengt, um die Worte in einer allen philologischen Gehalten fremden Sphäre ad majorem Dei gloriam zur Entfaltung zu bringen, ist gewalttätig. (Wäre hier der Ort, das Haeckersche Lehrgebäude darzustellen, so hätte diese geschichtsfremde idealistische Sprachmystik ein Hauptinteresse zu beanspruchen. Selbst diese Darstellung wird ihr im folgenden nicht gänzlich aus dem Wege gehen können.) Das mystisch-interpretative Verfahren gibt dem Haeckerschen Werk den Charakter eines Traktats und dazu paßt ebenso die gehobene Sprache wie die autoritäre Bestimmtheit, mit der christliche Dogmen oder Dicta an jeden Vers oder Halbvers sich anschließen, sei es, daß die Schlußzeile der Aeneis eine Pascalsche Wendung bekommt oder in dem berühmten »sunt lacrimae rerum« der Rechtfertigungsgedanke beschworen oder die »Fülle der Vergilischen Humanität« interpretiert wird als die Bereitschaft, »das Mysterium zu ehren, also zu glauben an ein göttliches Fatum ohne Beeinträchtigung des freien Willens und der Verantwortung des Menschen«, um dann genauer bestimmt zu werden als doppeltes Mysterium, das erfüllt sei »durch das Christentum im beneplacitum des trinitarischen Gottes, der Geist ist und Leben, in einem beneplacitum Dei, das unerforschlich, unzugänglich ist wie das alte Fatum, aber nicht dunkel durch Nacht, sondern dunkel durch Licht, nicht Leiden bringend aus Willkür, sondern aus Weisheit, nicht bloß vollkommene Gerechtigkeit, sondern Glut und Flamme der Liebe«. Einige weitere theologische Reflexionen, so ist das wieder ins Ästhetische zurückgeflossen: »Gott ist wahr und gut und schön; sobald ein Dichter nur an den Saum der Schönheit Gottes rührt, womit er zugleich auch an den Saum des Wahren und Guten rührt, ist in seinem Werke notwendig ein Absolutes und Unvergängliches.« Gewiß kann man in diesem Buche Tieferes und Gründlicheres über Vergil finden. Das ändert nichts daran, daß die entschlossene Vernachlässigung einer profanen – d. i. eigentlichen – Vergilphilologie den Verfasser ganz außerstand setzt, solche Theologumena als das zu erkennen, was sie sind: Schablonen aus der Hinterlassenschaft der schöngeistigen Spätromantik.

Man mag die Invektiven, mit denen Haecker den Vergilübertragungen von Rudolf Alexander Schröder entgegentritt, an mancher Stelle gegründet finden – dennoch ist es unzweifelhaft, daß dessen »Marginalien eines Vergillesers«, die ungefähr gleichzeitig mit dem Werk Haeckers erschienen sind, einen besseren Weg gehen. Auch Schröder hat die Bedeutung der pietas für Vergil erkannt. Indem er sie aber in ihrer historischen Konkretion und Fülle erfaßte, stieß er auf einen neuen und befruchtenden Begriff des Synkretismus und war imstande, mit allem, was er von dem Wert Vergils für seine Nachwelt sagt, auch etwas über dessen eigenes historisches Bild auszumachen, wogegen Haecker sehr bezeichnender-, aber auch sehr anstößigerweise über den individuellen Seelenraum des Dichters, die anima naturaliter christiana, nie hinauskommt, den Durchblick auf die römische religio nie gewinnt. So heißt es bei Schröder: »Gewiss kann eine religiöse Anschauungswelt, die alle irdische Erscheinung, alles irdische Tun und Lassen in einer kaum merkbar erhöhten Geistesebene gleichsam redupliziert erscheinen lässt, dem gemeinen Sinne zum rohen Animismus, dem des gläubigen Aufschwungs Unfähigen zu einer Wirrsal mehr oder minder skurriler Observanzen entarten. Aber dahinter steht doch ein Gesamtbegriff von weltbewegender und weltbefruchtender Tiefe, nämlich der, dass ein Ehrfurcht gebietendes Heilige auch dem Unheiligsten der Erscheinungswelt innewohne ... Der Gottesdienst, der neben Laren und Penaten dem Grenzstein, dem Geschäft des Pflügens und Säens, dem Genius der Eröffnung und des Schliessens und so manchen andern ... Fixierungen des schwebend entschwebenden Momentes Kranz und Spende weihte, mochte nicht in jedem einzelnen Fall oder in jeder einzelnen Person sich mit dem Bilde einer durchweg vergeistigten und vergotteten Welt durchdringen. Trotzdem war dies Weltbild als eine eigene Entelechie jedem seiner einzelnen Bestandteile eingeordnet.« Wie dürr und blaß dagegen Haecker: »Uns interessieren nicht mehr lebendig – das geht allein die Wissenschaft an – die äußeren Praktiken der römischen Staatsreligion, noch überhaupt der ganze Götterhimmel, der in der Hauptsache – außer den Bauerngöttern – bei Vergil schon schöne Dichtung ist von äußerlich symbolischer Bedeutung nur.« Und in gleichem Zusammenhange, den Gegensatz von Staatsreligion und Frömmigkeit kennzeichnend: »Im reinen Geist ist nicht der mögliche Gegensatz zwischen äußerer Frömmigkeit, die keine ist, und innerer, die die äußere verachtet oder verleumdet, denn in ihm ist alles innen: Form wie Inhalt; im Menschen aber ist dieser Gegensatz.« Der unscheinbare Hilfsbegriff des »reinen Geistes«, der hier auftaucht, verdient Aufmerksamkeit. Denn niemand anders als er ist der Inhaber der sonderbaren Privilegien, die ein Denken, wie Haecker es praktiziert, kennzeichnen. Es hat sich schon gezeigt, daß dieses Denken autoritär ist. Nun hat es aber mit der Autorität eine besondere Bewandtnis. Stark und unerschütterlich muß sie sein – gewiß. Aber auch einladend muß sie sein und gewinnend. Weithin sichtbar, wenn man will eine Veste – aber mit tausend Toren. Das Besserwissen ist auch eine feste Burg, nur daß man das Privileg hat, sie allein zu bewohnen.

Es hat in Deutschland immer viele Leute gegeben und gibt heute besonders viele, die meinen das, was sie wissen und daß sie es wissen, das stelle nun den Hebel der Verhältnisse dar und von da aus müsse es anders werden. Auf welche Weise aber diesem Wissen nun etwa Kurs zu geben sei und mit welchen Mitteln man es könne unter die Leute bringen, darüber haben sie nur die schattenhaftesten Vorstellungen. Man müsse es eben sagen, betonen. Ganz fern liegt ihnen der Gedanke, daß ein Wissen, das keinerlei Anweisung auf seine Verbreitungsmöglichkeiten enthält, wenig hilft, daß es in Wahrheit überhaupt kein Wissen ist. Und sagt man ihnen, daß jedes wahre Wissen seine Wahrheit historisch daran allererst erprobt, daß es zu neuen Unwissenden sich auf den Weg macht, so wird man sie kopfscheu machen. Nichts kennzeichnet ja ihre Hilflosigkeit, ihren Mangel an Wirklichkeitssinn so kraß wie die klägliche Unmittelbarkeit, mit der der »reine Geist« in ihnen ohne viel Federlesen an »den Menschen« sich wendet. »Der Mensch« und »der Geist« haben in diesen Köpfen eine Gespensterfreundschaft geschlossen, und so vereint begegnen sie auch hier. Die Einleitung bereits erklärt in einer, vielleicht überflüssigen, Verteidigung des »Menschen« oder des »Menschlichen«, die ja ohnehin alle Ehren von Modewörtern genießen: »Es wird kaum einer, der die zahllos verschiedenen Arten der Pflanzen und Tiere betrachtet und eben auf die Verschiedenheit dieser Arten sein Hauptaugenmerk lenkt, darüber vergessen oder leugnen, daß es die Pflanze und das Tier gibt mit ewigen unveränderlichen Merkmalen, während es heute wohl solche gibt, die an eine radikale Wesensänderung des Menschen im Laufe der Zeiten zu glauben scheinen.« Bei einem scholastisch Geschulten, wie Haecker es selbstverständlich ist, bedarf eine solche Aussage einer ungewöhnlichen Freiheit von intellektuellen Skrupeln. Denn nirgends ist die Frage, ob es solche Gattungswesenheiten gibt – ob sie ante rem seien, wie das in der Schulsprache hieß –, mit ähnlicher Erbitterung ausgefochten worden wie im Universalienstreit, den die Nominalisten gegen die Realisten führten. Man wird nun eine so angelegentliche Parteinahme post festum seitens des Verfassers, zumal an dieser Stelle, vielleicht kurios finden. Doch nur, solange man nicht erfaßt hat, was sie zum Schutze der besagten Privilegien leistet. Und damit kehren wir nochmals zu »dem Menschen«, wie »der Geist« ihn schaut, zurück. »Wir müssen sagen«, so heißt es in späterem Zusammenhange, »daß der abendländische Mensch seit über 2000 Jahren das Prinzipat gehabt hat über alle anderen Völker und Rassen; das will, auf die letzte Formel gebracht, sagen, daß er die prinzipielle Möglichkeit, die er faktisch oft genug nicht verwirklichte, gehabt hat, alle anderen Menschen zu verstehen, worin eingeschlossen ist seine faktische und seine mögliche politische Herrschaft. Und diese Möglichkeit und Wirklichkeit hat er gehabt durch seinen ›Glauben‹.« Es ist nicht unsere Schuld, wenn der Verfasser das realpolitische Äquivalent seiner »Idee des Menschen« in so peinliche Nähe rückt: jenes, im drastischen Sinne privilegierte, Verständnis der nichtabendländischen Völker, welches gekennzeichnet ist durch das Ineinanderwirken von Ausbeutung und Mission. So pflegt nun einmal die Kontrebande auszuschauen, die in das Musselin des reinen Geistes gewickelt, die Reisenden nach Wolkenkuckucksheim mit sich führen.

Am allerwenigsten sollte die Theologie ein solches Wolkenkuckucksheim sein. Es sind denn auch in der Tat theologische Denker gewesen, die gerade in unserer Generation erschienen, um den Kampf gegen die Idolatrie des Geistes aufzunehmen: der Jude Franz Rosenzweig von der Sprache, der Protestant Florens Christian Rang von der Politik her. Nun hält allerdings auch Haecker sich für einen Sprachdenker so gut wie er ein Politiker ist, wennschon er vielleicht vorzieht, nicht dafür zu gelten. Aber das eben schließt ihn aus der Reihe der echten theologischen Denker aus, daß er die Philosophie der Sprache wie der Politik vom Geiste aus handhaben zu können meint, ohne weder mit der Philologie noch mit der Ökonomie näher sich einzulassen. Freilich – und so erst rückt der Sachverhalt ins rechte Licht – bei Rosenzweig und vollends bei Rang handelt es sich um häretisch gestimmte Männer, denen es nichts Unmögliches ist, die Tradition auf ihrem eigenen Rücken zu befördern, statt sie seßhaft zu verwalten. Der Moderantismus ist es, der Haecker um die Frucht seiner Bemühungen bringt. Denn was hilft ein noch so radikaler Rückgang auf die Quellen, die noch so große Kunst der Auslegung, wenn das Bewußtsein selber an die Konvention sich klammert, deren verräterischstes Kennzeichen in diesem Falle die dilettantische Fragestellung ist, was uns Vergil sei. Gewiß entspricht sie aufs Haar der falschen Unmittelbarkeit, mit der der Geist sich an den Menschen wendet. (Es ist die große politische Bedeutung der Lehre von der Erbsünde, dieser Art Unmittelbarkeit und Innerlichkeit den Garaus zu machen.) Wäre Haecker zur echten, mittelbaren Fragestellung vorgedrungen: was die Geschichte der Vergilschen Dichtung und ihrer Erforschung in einem Zeitpunkt uns lehrt, da beide ihren unfreiwilligen Abschluß zu finden drohen, er hätte seine glänzenden schriftstellerischen Gaben unter Beweis gestellt, ohne die Aufmerksamkeit auf seine sehr bescheidenen denkerischen zu lenken. An Vorbildern auf solchem Wege fehlte es nicht. Man denke an die wissenschaftliche Bescheidung, mit welcher Bezold das »Fortleben der antiken Götter im mittelalterlichen Humanismus« untersucht hat und wird verstehen, wieviel bedeutsamer nicht allein Vergil sondern die Scholastik in einer Darstellung der Einbettung des Dichters in das mittelalterliche Schrifttum zu ihrem Recht gekommen wären, indessen Haeckers Formeln im Grunde nur jene wiederholen, mit denen einst der »Zauberer Vergilius« beschworen wurde.

»Ein der Theologie entleerter Humanismus wird nicht standhalten«, sagt der Verfasser. Aber der Spaß geht zu weit, einem Zeitalter, dem dieser Humanismus denkerisch und tatsächlich gleich kompromittiert ist, den Thomismus zu dessen Rettung anzuempfehlen. Haecker lebt in einem elfenbeinernen Turm, aus dessen oberstem Fenster er schmälend herausblickt. Und das schlimmste ist, daß der Grund, auf dem dieser Turm errichtet ist, nachgibt. Wie ist es anders möglich, daß einer den Begriff des »adventistischen Heidentums« wie eine landläufige Redensart handhabt und doch nichts spürt von dem auf ihn und unsere Tage Zukommenden, das ein Adventistisches ist, auch wenn es marschiert; daß einer »eine bloß philologisch-ästhetische Erklärung Vergils« als »ein Falsum, eine Zersetzung des Ganzen, ausgeführt durch zersetzte Geister« bezeichnet und dennoch nirgends Worte für die barbarischen Bedingungen findet, an welche jeder heutige Humanismus gebunden ist. Es ist die Unaufrichtigkeit und der Hochmut der Geistigen, die an dieser Unstimmigkeit schuld sind; dieselben Züge, die es ihnen erlauben, die Bezeichnung als »Geistige« ohne Schamröte und aus keinem anderen Grund hinzunehmen, als weil sie nicht imstande sind, sich Rechenschaft von ihrer Stellung im Produktionsprozeß zu geben. Täten sie's: ein Essayist vom Range Haeckers könnte nicht umhin, das Problem jeder wahrhaft aktuellen Vergilinterpretation – die Möglichkeit des Humanisten in unserer Zeit – ins Auge zu fassen. Und die Betrachtung der Privilegien, kraft deren es einer noch ist, würde ihn von deren härtester Ablagerung befreien: jenem privilegierten Wissen um den rechten Weg, das die verhängnisvollste Metamorphose des Bildungsprivilegs darstellt.


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