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Arnold Hirsch, Bürgertum und Barock im deutschen Roman.

Eine Untersuchung über die Entstehung des modernen Weltbildes. Frankfurt a.M.: Joseph Baer u. Co. 1934. 240 S.

Es ist ein in doppeltem Sinne vernachlässigtes Gebiet, dessen sich Hirsch angenommen hat. Einmal ist die Romanliteratur des deutschen Barock überhaupt bisher wenig durchforscht worden; eine Fülle ihr angehöriger Werke werden bei Hirsch zum ersten Mal bibliographisch registriert. Zweitens hat die Periode des Übergangs zwischen Barock und Rokoko, die an bedeutenden Hervorbringungen nicht reich ist, ihrer Sprödigkeit wegen nur selten eine eingehendere Behandlung erfahren; und Hirsch ist es gerade um diese Übergangsperiode zu tun.

Sache der wissenschaftlichen Routine ist es, den spröden Stoff wie jeden anderen abzuhaspeln; Sache der echten Wissenschaft dagegen, dem Stoff die Sprödigkeit durch eine Verschiebung der Fragestellung zu nehmen. Es gibt ja keinen, der bei einer angemessenen nicht fähig wäre, intensivste Teilnahme zu finden. Hirsch hat für eine solche jedenfalls zu werben gesucht. Er hat nach den gesellschaftlichen Bedingungen der neuen Prosaliteratur gefragt, die in Gestalt des politischen Romans und des Schäfer-Romans vor 1700 in Deutschland auftaucht. Bezüglich des ersteren hat er erkannt, daß für das aufstrebende Bürgertum »die rationale Gestaltung des Diesseits nicht an die Hofkarriere gebunden« ist. »Was für den Adligen der Hof ist, das wird für das Bürgertum nun der Staatsdienst, das politische Leben.« Und so erscheinen die »politischen Staatsromane« der Weise und der Riemer als weitschichtige Anweisungen für zukünftige Beamte des aufgeklärten Absolutismus. Entsprechend hat Hirsch auch dem Schäfer-Roman seinen sozialen Standort anzuweisen gesucht und diesen im kleinen Landadel gefunden, der, wenn nicht immer den Verfasser, so jedenfalls stets den Schauplatz dieser Erzählungen stellt; seine geringere Verflochtenheit mit den Hofkreisen erlaubte ihm, früher von den politischen und theologischen Denkformen des Hochbarock sich zu lösen.

Mit diesen Feststellungen hat Hirsch sich wertvolle Ausgangspunkte für eine Stilanalyse seines Gegenstandes gesichert. Wenn diese dennoch kein eingreifendes Ergebnis gezeitigt hat, so ist daran ein Anlagefehler schuld, der bereits aus der Formulierung des Titels ersichtlich ist. Dieser stützt sich auf den Begriff des »modernen Weltbilds«. Man ersieht ohne weiteres, daß mit dieser Kategorie an Präzision verlorengehen muß, was Hirsch durch die gesellschaftliche Fragestellung sich gesichert hat. Der Begriff des »modernen Weltbilds« entspricht dem vielberufenen des »modernen Menschen«, der ja bekanntlich vom heiligen Franziskus – den Thode vor zwanzig Jahren als seinen ersten Vertreter bezeichnet hat – bis zu den Pietisten – die kürzlich von Gebhardt in gleichem Sinne vorgestellt worden sind – haltlos durch die Geschichtsepochen schwankt. So scharf Hirsch seinen Gegenstand nach rückwärts profiliert, so unzureichend zeigt sich die Bestimmung seiner Entwicklungsrichtung aufs »Moderne«. Sie führt zu einer Stilanalyse, deren Unzulänglichkeit sich bereits in ihren Stichworten verrät. »In diesen Gesellschaftsszenen bringt das Einzelne nicht ... mahnend eine religiöse Weltdeutung zu Bewußtsein. Das Einzelne ist ›bloß‹ der selbstverständliche Niederschlag des unmittelbaren Besitzes.« »Der Realismus, der seine Wirklichkeit selbstverständlich, ruhig und sicher besitzt, ist das bestimmende Lebensgefühl der bürgerlichen Kultur des 18. Jahrhunderts, die dem Menschen in der Bearbeitung diesseitiger Lebensaufgaben einen neuartigen Lebensinhalt anbietet.«

Über so nichtssagende Formulierungen könnte man hinweggehen, legten sie nicht eine grundsätzliche Feststellung greifbar nahe: Innerhalb der Stilgeschichte ist die Entgegensetzung von Stil und Natur unter keinen Umständen statthaft. Es kann vielmehr im geschichtlichen Ablauf stets nur ein Stil den anderen ablösen. In der Spannung zwischen verschiedenen Stilen bewegt sich eine geschichtliche Dynamik, die sich in keinerlei Realismus je beruhigt. Realismus ist nichts als der Anspruch, mit dem von dieser oder jener Seite her jeder Stil der Natur gegenübergetreten ist. Die entscheidende Aufklärung über das literarische Rokoko, die man dem Gegenstandsbereich dieser Studie nach hätte erwarten dürfen, hat der Autor mit seinem Begriff des neuen Realismus vereitelt. Sie wird dennoch, nicht zuletzt wegen ihrer soliden bibliographischen Grundlagen, bei künftigen Untersuchungen zu Rate zu ziehen sein.


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