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Julien Benda, Discours à la nation européenne.

Paris: Librairie Gallimard (1933). 239 S. (Les Essais. 8.)

Es wird sobald sich keiner finden, der nicht ein – zumindest ästhetisches – Gefallen an der sonderbaren Spielart des Rationalismus hätte, den Julien Benda in seinen Schriften zum Ausdruck bringt. Es ist ein Rationalismus, der weniger auf die rationellen Meriten der ratio als auf eine desinteressierte Liebe zu ihr gegründet scheint. Die ratio – von Hause aus doch wohl eine fürs Wirkliche – hat bei Benda ihre Schönheit, ihre Würde, fast möchte man hinzufügen: ihren Zweck in sich. Auf alle Fälle hat sie, nach Benda, eine eigene Kaste ihr zugeschworner Diener zur Verfügung. Das sind die clercs. Die clercs haben sich mit den Angelegenheiten der Öffentlichkeit im Sinn der ratio zu befassen. Mögen sie Anwälte oder Künstler, Journalisten oder Naturforscher sein – als Geistige haben sie den Dienst der ratio zu versehen. Und zur Zeit ist deren oberstes Anliegen die Erschaffung der nation européenne. Warum gerade dieser? Und warum soll das Friedensreich, das Benda in dieser Form herbeiruft, so enge Grenzen haben? Die Leser seines »Discours« werden das sehr bald herausfinden, wenn auch der Verfasser es kaum ausdrücklich sagt.

Dies Friedensreich ist nämlich nach dem imperium romanum geformt, wie das katholische Mittelalter es plante. Die Grenzen dieser neuen nation européenne sind die Grenzen des abendländischen Katholizismus. Dessen Heraufkunft in seiner neuen verweltlichten Gestalt ist nun leider, nach Benda, an eine Reihe von Verhaltungs- und Denkweisen geknüpft, die samt und sonders denen zuwiderlaufen, die den clercs seit hundert Jahren die gewohnten sind. Das heißt, daß der Verfasser ihnen Umkehr predigt. Unter seinen Sermonen gibt es beherzigenswerte. Kennzeichnend für die Unabhängigkeit, Treffsicherheit der Formulierungen ist es, wenn der Autor folgendermaßen sich an die Geistigen wendet: »Clercs de toutes les nations, si vous voulez faire l'Europe, il vous faudra mourir à la religion barbare de l'invention, de la création, de l'originalité. Allez au fond de vous-mêmes et vous reconnaîtrez que l'idée de création implique nécessairement l'idée de violence, de discontinuité, de chose imposée au monde par un acte arbitraire. Le dieu créateur qu'adore la bible devait devenir nécessairement le dieu des armées... Il ne s'agit point, ici, de déshonorer la puissance créatrice; il s'agit d'enseigner que d'autres sont au-dessus d'elle. Vous ne ferez une terre de paix qu'en proclamant, avec les Grecs, que la sublime fonction des dieux n'est pas d'avoir créé le monde, mais, sans plus rien créer, d'y avoir porté de l'ordre, d'avoir fait un Cosmos.« Diesen Ausführungen, und so manchen entsprechenden, sollte man ihren pädagogischen Wert nicht absprechen. Sie sind geeignet, die Intelligenz zur Revision einiger allzu unbedenklich gehandhabter Maßstäbe zu veranlassen. Damit ist aber ihr politischer Wert noch keineswegs nachgewiesen. Und in der Welt der Abstraktionen, aus der Benda nie heraustritt, ist ein solcher Ausweis auch nicht beschaffbar. So muß er folgerecht den Lösungen Bendas fehlen. Und wüßten wir es nicht, die Eleganz dieser Lösungen wäre ganz geeignet, es uns ahnen zu lassen. Der Verfasser ist mit seinen Gegebenheiten genau vertraut; er fügt sie ohne jeden Fehlgriff so zusammen, wie die vielförmigen Stücke eines Puzzle. Nur: sind die Gegebenheiten, an denen er seinen Scharfsinn bewährt, die Gegebenheiten des Wirklichen? Daran müssen wir zweifeln. Er vereinfacht die Aufgabe in der bedenklichsten Weise. Er kümmert sich nämlich grundsätzlich nur um Meinungen, Ansichten, Theorien. Er versteht es, die seinigen den gegnerischen gegenüber zur Geltung zu bringen. Nie aber kümmert er sich um die Zustände, Wirklichkeiten, Machtfaktoren, die diesen Anschauungen zugrunde liegen. Aus diesem Buche, wie aus seinen früheren, nimmt man den Eindruck mit, es sei ihm an Veränderungen der ersteren eigentlich weniger gelegen als an einer einwandfreien Ausrichtung der letzteren. Wiederholt weist er auf die Geltung des mittelalterlichen imperium romanum hin, das doch »zumindest in der Theorie« die nationalen Sonderinteressen in Schranken gehalten und »wenigstens dem Buchstaben nach« die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Völkern in Acht und Bann getan habe. Dieses zunächst nur eben schrullig anmutende Interesse an einem sauberen Meinungs- und Gesinnungsbestande bei den Geistigen – deren reale Einfluß- geschweige Lebensmöglichkeiten in der heutigen Gesellschaft Benda keiner Prüfung unterzieht – tritt in ein weniger angenehmes Licht an Stellen, an denen Benda mit Nachdruck die mittelalterliche Solidarität der Geistigen – nicht etwa, wie es im Sinne seiner Grundauffassung möglich wäre, dem Unrecht oder der Gewalt sondern – dem Laien gegenüber mit Beifall darlegt. Die nationalen Unterschiede jener früheren clercs, so sagt Benda, traten gegenüber anerkannten Idealen und Methoden zurück, »surtout s'ils comparaient ces méthodes et ces idéaux avec ceux des laïcs. L'opposition des uns aux autres ... était beaucoup moins réelle à leurs yeux que l'opposition d'eux tous au monde des fonctionnaires et des marchands.« Diese Opposition ist in der Tat ebenso unablöslich von der mittelalterlichen Schlüsselstellung der clercs als unvereinbart mit der gesellschaftlichen Ordnung der Gegenwart, in der vielmehr das Kloster als ihr letztes Refugium ihren Anachronismus zum Ausdruck bringt.

Zwar ist es nicht zu leugnen, daß seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Europa es an Versuchen nicht gefehlt hat, die Privilegien der clercs den Laien gegenüber innerhalb der säkularisierten Ordnung zu bewahren. Und im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts hat man die allgemeine Bildung nicht nur im Interesse der Massen sondern ebenso in dem der geistigen Oberschichten proklamiert, deren besonderes Privileg nun nicht mehr dem Gläubigen sondern dem Kleinbürger plausibel zu machen war. Dann eben nannte man den letzteren »gebildet«, wenn ihm dasselbe plausibel war. Benda scheint nicht zu ahnen, daß dieses Privileg nur noch ein befristetes Dasein zu hoffen hat. Jedem Kenner der russischen Erziehungsmethoden ist klar, welche Chancen das polytechnische Bildungsziel dem Ziel der allgemeinen Bildung gegenüber aufweist; jeder Beobachter der deutschen Ereignisse ist über die Krise im Bilde, in der das Ideal der allgemeinen Bildung sich dort zersetzt. Unter solchen Umständen ist es nicht möglich, die Geistigen in Europa, wie Benda es tut, als einen fest umrissenen – und vor allem fest gegründeten – Stand anzusehen. Vielmehr ist sein ideologisches Fundament – das geistliche der christianitas, wie das weltliche der Bildung – schwankender als je. Und gerade dem verdankt das Raisonnement von Benda seine unheimliche Geschliffenheit und Glätte, daß es sich an einen wendet, der nicht mehr da ist.


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