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Zum ersten Bande der »Kunstwissenschaftlichen Forschungen«. (Zweite Fassung) Kunstwissenschaftliche Forschungen. (Schriftleitung: Otto Pächt.) Bd. 1. Berlin: Frankfurter Verlags-Anstalt 1931. 246 S., 48 Tafeln.
Als Wölfflin 1898 sein Vorwort zur »Klassischen Kunst« schrieb, erklärte er mit einer Geste, die die Kunstgeschichte, wie damals Richard Muther sie vertrat, beiseite schob: »Das Interesse des modernen Publikums ... scheint sich heutzutage wieder mehr den eigentlich künstlerischen Fragen zuwenden zu wollen. Man verlangt von einem kunstgeschichtlichen Buche nicht mehr bloß die biographische Anekdote oder die Schilderung der Zeitumstände, sondern möchte etwas erfahren von dem, was Wert und Wesen des Kunstwerks ausmacht ... Das Natürliche wäre, daß jede kunstgeschichtliche Monographie zugleich ein Stück Ästhetik enthielte.« »Um dieses Ziel sicherer zu erreichen«, so heißt es dann weiter, »ist dem ersten, historischen Teil zur Gegenprobe ein zweiter systematischer beigegeben.« Diese Disposition ist um so bezeichnender, als sie nicht nur die Absichten, sondern auch die Grenzen des damals so epochemachenden Versuchs erkennen läßt. Und in der Tat hat Wölfflins Unternehmen, durch die formale Analyse der niederschlagenden Verfassung abzuhelfen, in welcher seine Disziplin am Ende des neunzehnten Jahrhunderts sich befand und die dann später Dvorák in dem Nachruf auf Riegl so genau kennzeichnen sollte, nicht völlig durchgegriffen. Wölfflin hat zwar den Dualismus zwischen einer flachen, universalhistorischen »Geschichte der Kunst aller Völker und Zeiten« und einer akademischen Ästhetik aufgezeigt, ihn aber doch nicht gänzlich überwunden.
Wie sehr die universalhistorische Auffassung der Kunstgeschichte, in deren Zeiten der Eklektizismus freies Spiel hatte, die echte Forschung in Fesseln schlug, gibt erst der heutige Stand der Dinge zu erkennen. Und zwar nicht nur in der Kunstwissenschaft. »Für die Gegenwart«, heißt es in einer programmatischen Auseinandersetzung des Literarhistorikers Walter Muschg, »darf gesagt werden, daß sie in ihren wesentlichen Arbeiten nahezu ausschließlich auf die Monographie gerichtet ist. Der Glaube an den Sinn einer Gesamtdarstellung ist in dem heutigen Geschlecht in hohem Maß verloren. Statt dessen ringt es mit Gestalten und Problemen, die es in jener Epoche der Universalgeschichten hauptsächlich durch Lücken bezeichnet sieht.« »Die Abkehr vom unkritischen Realismus der Geschichtsbetrachtung, das Verwelken der makroskopischen Konstruktionen« sind in der Tat die wichtigsten Signaturen der neuen Forschung. Dem ganz entsprechend Sedlmayrs programmatischer Artikel, der das vorliegende Jahrbuch eröffnet: »Die werdende Phase der Kunstwissenschaft wird in bisher nicht gekannter Weise die Erforschung einzelner Gebilde in den Vordergrund stellen müssen ... Sobald das einzelne Kunstwerk als eine eigene, noch unbewältigte Aufgabe der Kunstwissenschaft angesehen wird, steht es in mächtiger Neuheit und Nähe vor uns. Früher bloß Medium der Erkenntnis, Spur eines anderen, das aus ihm erschlossen werden sollte, erscheint es jetzt als eine in sich ruhende kleine Welt eigener und besonderer Art.«
Es machen dieser Ankündigung gemäß drei streng monographische Arbeiten den Hauptbestand des neuen Jahrbuchs aus. Andreades stellt die Hagia Sophia als Synthese zwischen Orient und Okzident dar; Otto Pächt entwickelt die historische Aufgabe Michael Pachers, und Carl Linfert behandelt die Grundlagen der Architekturzeichnung. Diesen Arbeiten ist gemein eine überzeugende Liebe zur Sache und eine nicht minder überzeugende Sachkenntnis. Ihre Verfasser haben nichts zu schaffen mit dem Typus des Kunsthistorikers, der eigentlich davon durchdrungen war, »daß man Kunstwerke nicht erforschen (sondern nur ›erleben‹) sollte, es aber doch – nur schlecht – tat«. Sie wissen ferner, daß man nur vorwärtskommen kann, wenn man von einem Bedenken des eignen Tuns – einer neuen Bewußtheit – nicht eine Hemmung, sondern eine Förderung der wissenschaftlichen Arbeit erwartet. Denn eben diese Arbeit hat es nicht mit Gegenständen des Genusses, formalen Problemen, gestalteten Erlebnissen und wie die anderen Begriffe aus der Erbschaft einer überwundenen Kunstbetrachtung heißen mögen, zu tun; für sie ist die formale Aufnahme der gegebenen Welt durch den Künstler »kein Auswählen, sondern jedesmal ein Vorstoß in ein Erkenntnisfeld, das bis zum Augenblick dieser formalen Bewältigung noch nicht ›vorlag‹ ... Diese Auffassung wird nur durch eine Denkart möglich, für die der Anschauungsspielraum selbst mit der Zeit und gemäß den Wendungen seiner geistigen Lenkung veränderlich ist, für die aber keinesfalls so etwas wie stets gleichartig vorhandne Dinge anzunehmen sind, deren formale Ausprägung nur ein wechselnder ›Stildrang‹ bei gleichbleibendem Anschauungsumkreis bestimmt.« Denn »nie darf uns etwas liegen an ›Formproblemen‹ für sich, als wäre je eine Form als Ausfluß eines bloßen Formproblems, oder anders gesagt: eine Form um ihres Reizes willen entstanden«.
»Andacht zum Unbedeutenden«, mit der die Brüder Grimm so unverwechselbar den Geist wahrer Philologie zum Ausdruck brachten, eignet auch dieser Art von Kunstbetrachtung. Aber was beseelt diese Andacht, wenn nicht die Bereitschaft, die Forschung bis zu jenem Grunde vorzutreiben, aus dem auch dem »Unbedeutenden« – nein, gerade ihm – Bedeutung zuwächst. Der Grund, auf den die Forschung solcher Männer stößt, ist der konkrete des geschichtlichen Gewesenseins. Das »Unbedeutende«, das sie beschäftigt, ist nicht Nuance neuer Reize noch auch Merkmal, mit dem man früher Säulenformen so bestimmte wie Linné die Gewächse, sondern es ist das Unscheinbare, das in den Werken überdauert und der Punkt ist, an welchem der Gehalt für einen echten Forscher zum Durchbruch kommt. Und so ist ihrer geschichtsphilosophischen Verspannungen wegen nicht Wölfflin Ahnherr dieses neuen Typs von Kunstwissenschaft, sondern Riegl. Die Untersuchung Pächts über Pacher »ist ein neuer Versuch jener großen Darlegungsform, die Alois Riegl als einen Übergang vom Einzelgegenstand auf seine geistige Funktion so meisterhaft beherrscht hat«. Gerade Riegl belegt zudem auf beispielhafte Art, daß eine nüchterne und dabei unerschrockene Forschung niemals die lebendigen Anliegen ihrer Gegenwart verfehlt. Der Leser, welcher heut sein Hauptwerk – die »Spätrömische Kunstindustrie« – liest, das beinahe gleichzeitig mit dem eingangs angeführten Wölfflins ist, erkennt rückblickend, wie da unterirdisch schon die Kräfte sich bewegen, welche ein Jahrzehnt später im Expressionismus zutage traten. So darf man auch von Pächts und Linferts Studien vermuten, daß die Aktualität sie früher oder später einholen wird.
Im übrigen hat Riegl auch methodisch in einem kurzen Aufsatz »Kunstgeschichte und Universalgeschichte«, der 1898 erschienen ist, die ältere Art universalhistorischer Betrachtung gegen eine neue Kunstwissenschaft abgegrenzt, der er selber die Wege bahnte. Es ist das jene eingehende Ausdeutung des Einzelwerks, die, ohne irgendwo sich zu verleugnen, auf die Gesetze und Probleme der Kunstentwicklung im ganzen stößt. Diese Forschungsrichtung hat alles von der Erkenntnis zu erwarten, daß der Bedeutungsgehalt der Werke, je entscheidender sie sind, um desto unscheinbarer und inniger, an ihren Sachgehalt gebunden ist. Sie hätte es mit der Bezogenheit zu tun, die zwischen dem historischen Prozeß und Umbruch auf der einen Seite und dem Zufälligen, Äußerlichen, ja Kuriosen des Kunstwerks auf der anderen die wechselseitige Erhellung stiftet. Denn wenn sich als die bedeutungsvollsten gerade jene Werke erweisen, deren Leben am verborgensten in ihre Sachgehalte eingegangen ist – man denke an Giehlows Deutung der »Melencolia« Dürers – so stehen im Verlaufe ihrer Dauer in der Geschichte diese Sachverhalte einem Forscher um so viel sinnfälliger vor Augen, je mehr sie aus der Welt verschwunden sind.
Was das besagt, ist schwerlich deutlicher zu machen, als es in Linferts Arbeit, die den Band beschließt, heraustritt. »Architekturzeichnung«, erklärt sie von ihrem Gegenstande, »ist ein Grenzfall«. Schon in der »Spätrömischen Kunstindustrie« erwies sich ja der Grenzfall – denn das ist die Goldschmiedekunst, die sich dem Kunstgewerbe beizählt – als Ausgangspunkt der bedeutsamsten Überwindung der konventionellen Universalhistorie mit ihren sogenannten »Höhepunkten« und »Verfallsperioden«. Den gleichen Ansatz hat ja schließlich auch Wölfflin genommen, wo er das Barock, in dem noch Burckhardt nur ein Zeugnis des Verfalls sehen wollte, als erster positiv verstanden hat. Und damit nicht genug, hat Dvoráks Forschung über den Manierismus aufgezeigt, welche historischen Aufschlüsse einer spiritualistischen Entstellung der leergewordenen Schemen der reinen Klassik sich abgewinnen lassen. An alledem ist die periodenfeste Universalhistorie vorbeigegangen. Und doch ist es der von ihr verschmähte Grenzfall, in dessen Durchforschung die Sachgehalte ihre Schlüsselposition am entschiedensten geltend machen.
Betrachte man die Tafeln, die in Fülle der Arbeit Linferts beigegeben sind. Die Unterschriften weisen Namen auf, die dem Laien, zum Teil wohl auch dem Fachmann unbekannt sind. Und nun die Bilder selbst. Man kann nicht sagen, daß sie Architekturen wiedergeben. Sie geben sie allererst. Und seltener der Wirklichkeit des Planens als dem Traum. So stehen hier die wappenhaften Prunkportale eines Babel, die Feenschlösser, die Delajoue in eine Muschel bannte, die Nippesarchitekturen Meissoniers, Boullées Bibliotheksentwurf, der wie ein Bahnhof, Juvaras Idealprospekte, die wie Blicke in den Speicher eines Gebäudehändlers anmuten. Eine ganz neue unberührte Welt von Bildern, die einem Baudelaire höher als alle Malerei gestanden hätte.
Die Analyse dieser Formwelt aber durchdringt bei Linfert sich aufs engste mit der historischen Gegebenheit. Seine Untersuchung handelt »von einem Zeitraum, in dem die Architekturzeichnung den prinzipiellen und entschiedenen Ausdruck zu verlieren anfing«. Wie aber wird dieser »Verfallsprozeß« hier transparent? Wie tun die architektonischen Prospekte sich auseinander, um in ihren Kern Allegorien, Bühnenbilder, Denksteine aufzunehmen! Und jede dieser Formen weist nun ihrerseits verkannte Gegebenheiten, die vor diesem Forscher in ihrer ganzen Konkretion erscheinen: die Hieroglyphik der Renaissance, die visionären Ruinenphantasien Piranesis, die Tempel der Illuminaten, wie wir sie aus der »Zauberflöte« kennen. Hier zeigt es sich, daß nicht der Blick fürs »Große Ganze« oder für die »umfassenden Zusammenhänge«, wie ihn einst die behäbige Mittelmäßigkeit der Gründerzeit für sich in Anspruch nahm, das Merkmal des neuen Forschergeistes ist. Vielmehr hat er den strengsten Prüfstein darin, in Grenzbezirken sich daheim zu fühlen. Das ist es, was den Mitarbeitern des neuen Jahrbuches ihren Platz in der Bewegung sichert, die heute von den germanistischen Studien Burdachs bis zu den religionshistorischen der Bibliothek Warburg die Randgebiete der Geschichtswissenschaft mit frischem Leben erfüllt.