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Wenn man an Sonn- und Feiertagen bei erträglichem Wetter in den Pariser Stadtvierteln Montparnasse oder Montmartre spazieren geht, so stößt man in geräumigen Straßenzügen stellenweise auf Paravants, die, aneinandergereiht oder auch zu kleinen Irrgärten kombiniert, zum Verkauf bestimmte Gemälde tragen. Man findet da die Sujets aus der guten Stube: Stilleben und Marinestudien, Akte, Genrebilder und Interieurs. Der Maler, der nicht selten romantisch, mit Schlapphut und Sammetjoppe ausstaffiert ist, hat sich neben seinen Bildern auf einem Feldstühlchen eingerichtet. Seine Kunst wendet sich an die promenierende Bürgerfamilie. Diese ist vielleicht mehr von seiner Gegenwart oder seinem imponierenden Aufzuge angetan als von den ausgestellten Gemälden. Dennoch hieße es wahrscheinlich den Spekulationsgeist dieser Maler überschätzen, wollte man meinen, sie stellten ihre Person in den Dienst der Kundenwerbung.
Es sind gewiß nicht diese Maler, die man bei den großen Debatten im Auge hatte, die in letzter Zeit um die Lage der Malerei geführt worden sind. Entretiens, L'art et la réalité. L'art et l'état. [Mit Beiträgen von Mario Alvera, Daniel Baud-Bovy, Emilio Bodrero u. a.] Paris: Institut internationale de Coopération intellectuclle (1935). – La querelle du réalisme. Deux débats par l'Association des peintures et sculptures de la maison de la culture. [Mit Beiträgen von Lurçat, Granaire u.a.] Paris: Editions socialistes internationales 1936.] Denn ihre Sache hat nur insofern mit der Malerei als Kunst zu tun als auch deren Produktion mehr und mehr für den Markt im allgemeinsten Sinne bestimmt ist. Doch haben die gehobenen Maler nicht nötig, sich in eigener Person auf den Markt zu stellen. Sie verfügen über Kunsthändler und Salons. Immerhin stellen ihre ambulanten Kollegen noch etwas anderes zur Schau als die Malerei im Stande ihrer tiefsten Erniedrigung. Sie zeigen, wie verbreitet eine mittlere Fähigkeit ist, mit Palette und Pinsel umzugehen. Und insofern haben sie in den erwähnten Debatten doch ihren Platz gehabt. Er wurde ihnen von André Lhote eingeräumt, welcher sagte: »Wer sich heutzutage für Malerei interessiert, der beginnt früher oder später selbst zu malen... Von dem Tage an jedoch, wo ein Amateur selber zu malen anfängt, hört die Malerei auf, die gleichsam religiöse Faszination auf ihn auszuüben, die sie dem Profanen gegenüber besitzt.« (Entretiens, S. 39) Geht man der Vorstellung von einer Epoche nach, in der sich einer für Malerei interessieren konnte, ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, selber zu malen, so gerät man auf die des Zunftwesens. Und wie es oft dem Liberalen – Lhote ist ein im besten Sinne liberaler Geist – bestimmt ist, daß der Faschist seine Gedanken zuende denkt, so hören wir von Alexandre Cingria, daß das Unglück mit der Aufhebung der Zunftordnung, das heißt mit der französischen Revolution begonnen habe. Nach dieser Aufhebung hätten die Künstler sich unter Nichtachtung jeder Disziplin aufgeführt »wie die wilden Tiere« (Entretiens, S. 96). Und was ihr Publikum angeht, die Bürger, so verloren sie, »nachdem 1789 sie aus einer Ordnung entlassen hatte, die in politischer Hinsicht auf Hierarchie, in geistiger auf einer intellektuellen Wertordnung errichtet gewesen war«, »zunehmend das Verständnis für jene uninteressierte, lügnerische, amoralische und nutzlose Produktionsform, von der die künstlerischen Gesetze bestimmt werden« (Entretiens, S. 97).
Man sieht, der Faschismus hat auf dem Venezianer Kongreß eine offene Sprache geführt. Daß dieser Kongreß in Italien tagte, machte sich genau so deutlich bemerkbar, wie es den Pariser kennzeichnete, daß er von der Maison de la culture einberufen worden war. Soweit der offizielle Habitus dieser Veranstaltungen. Wer im übrigen die Reden näher studiert, dem begegnen auf dem Venezianer Kongreß (der ja ein internationaler gewesen ist) wohlüberlegte, durchdachte Betrachtungen über die Lage der Kunst, während andererseits unter den Teilnehmern der Pariser Tagung nicht alle ohne Ausnahme dazu gekommen sind, die Debatte von Schablonen ganz freizuhalten. Kennzeichnend ist immerhin, daß zwei der wichtigsten Venezianer Redner an dem Pariser Kongreß teilnahmen und in seiner Atmosphäre sich zu Hause zu fühlen vermochten, nämlich Lhote und Le Corbusier. Der erstere nahm dort die Gelegenheit zu einem Rückblick auf die Venezianer Tagung wahr. »Wir sind damals«, sagte er, »unser sechzig zusammengekommen, um ... in diesen Fragen etwas klarer zu sehen. Ich möchte nicht wagen zu behaupten, daß es einem einzigen unter uns wirklich gelungen sei.« (La querelle, S. 93)
Daß in Venedig die Sowjet-Union gar nicht, Deutschland lediglich in einer Person, wenn auch in der Thomas Manns, vertreten gewesen ist, bleibt bedauerlich. Man würde aber in der Annahme irren, die vorgeschobeneren Positionen wären darum völlig verwaist gewesen. Skandinavier wie Johnny Roosval, Österreicher wie Hans Tietze, von den genannten Franzosen zu schweigen, hielten sie wenigstens zum Teil besetzt. Andererseits stieß man in Venedig auf Rückstände förmlich musealen Charakters aus verschollenen Denkepochen. So definierte beispielsweise Salvador de Madariaga: »Die wahre Kunst ist das Erzeugnis einer in verschiedenen Verhältnissen möglichen Kombination des Gedankens mit dem Raum; und die falsche Kunst ist das Ergebnis einer solchen Kombination, bei der der Gedanke das Kunstwerk beeinträchtigt.« (Entretiens, S. 160) In Paris hatte die Avantgarde ohnehin den Vorrang. Sie setzte sich aus Malern und Schriftstellern zu gleichen Teilen zusammen. Auf diese Weise betonte man, wie notwendig es ist, der Malerei eine vernünftige Kommunikation mit dem gesprochenen und geschriebenen Wort zurückzugewinnen.
Die Theorie der Malerei hat sich als eine Spezialität von ihr abgespalten und ist zur Sache der Kunstkritik geworden. Was dieser Arbeitsteilung zu Grunde liegt, ist das Schwinden der Solidarität, die die Malerei einst mit den öffentlichen Anliegen verbunden hat. Courbet war vielleicht der letzte Maler, in dem diese Solidarität sich ausprägt. Die Theorie seiner Malerei gab nicht nur auf malerische Probleme Antwort. Bei den Impressionisten hat der Argot der Ateliers die echte Theorie schon zurückgedrängt, und von da führt eine stetige Entwicklung bis zu dem Stadium, das einen klugen und informierten Beobachter zu der These führen konnte, die Malerei sei »eine vollkommen esoterische und museale Angelegenheit geworden, das Interesse an ihr und ihren Problemen ... nicht mehr vorhanden«. Sie sei »beinahe ein Überbleibsel aus einem vergangenen Zeitraum und ihr verfallen zu sein ... persönliches Mißgeschick«. Hermann Broch, James Joyce und die Gegenwart. Rede zu Joyce's 50. Geburtstag, Wien-Leipzig-Zürich 1936, S. 24. Solche Vorstellungen verschuldet weniger die Malerei als die Kunstkritik. Diese dient nur scheinbar dem Publikum, in Wahrheit dem Kunsthandel. Sie kennt keine Begriffe, nur einen Slang, der von Saison zu Saison wechselt. Es ist kein Zufall, daß der jahrelang maßgeblichste Pariser Kunstkritiker, Waldemar George, in Venedig als Faschist auftrat. Sein snobistisches Kauderwelsch kann nur solange Geltung haben wie die heutigen Formen des Kunstgeschäfts. Man versteht, daß er dazu gelangt ist, das Heil der französischen Malerei von einem »Führer« zu erwarten, der kommen müsse (vgl. Entretiens, S. 71).
Das Interesse der Venezianer Debatte haftet an denen, die sich um eine kompromißlose Darstellung der Krise der Malerei bemüht haben. Das gilt in besonderer Weise von Lhote. Seine Feststellung: »Wir stehen vor der Frage nach dem nützlichen Bilde« (Entretiens, S. 47), zeigt, wo wir den archimedischen Punkt der Debatte zu suchen haben. Lhote ist sowohl Maler als Theoretiker. Als Maler kommt er von Cézanne her; als Theoretiker arbeitet er im Rahmen der Nouvelle Revue Française. Er steht keineswegs auf dem äußersten linken Flügel. Nicht nur dort also fühlt man die Nötigung, über den »Nutzen« des Bildes nachzudenken. Loyalerweise kann dieser Begriff nicht den Nutzen im Auge haben, den das Bild für die Malerei oder für den Kunstgenuß hat. (Über deren Nutzen soll ja vielmehr mit seiner Hilfe gerade entschieden werden.) Im übrigen kann freilich der Begriff des Nutzens nicht weit genug gefaßt werden. Man würde sich jeden Weg verbauen, wollte man lediglich den unmittelbarsten Nutzen, den ein Werk durch sein Sujet haben kann, ins Auge fassen. Die Geschichte zeigt, daß die Malerei allgemeine soziale Aufgaben oft durch Wirkungen, die von mittelbarer Art sind, bewältigt hat. Auf sie wies der Wiener Kunsthistoriker Tietze hin, wenn er den Nutzen des Bildes so definiert: »Die Kunst verhilft zum Verständnis der Realität ...
Die ersten Künstler, die der Menschheit die ersten Konventionen der Gesichtswahrnehmung auferlegten, haben ihr einen ähnlichen Dienst geleistet, wie jene Genies der Prähistorie, die die ersten Worte gebildet haben.« (Entretiens, S. 34) Lhote verfolgt die gleiche Linie in historischer Zeit. Jeder neuen Technik, bemerkt er, liegt eine neue Optik zu Grunde. »Man weiß, von welchen Delirien die Erfindung der Perspektive begleitet gewesen ist, die die entscheidende Entdeckung der Renaissance war. Als erster stieß Paolo Uccello auf ihre Gesetze und er konnte seinen Enthusiasmus so wenig beherrschen, daß er mitten in der Nacht seine Frau weckte, um ihr die ungeheure Botschaft zu bringen. Ich könnte«, fährt Lhote fort, »die verschiedenen Etappen der Entwicklung der Gesichtswahrnehmung von den Primitiven bis heute am einfachen Beispiel des Tellers erläutern. Der Primitive hätte ihn, wie das Kind, als Kreis gezeichnet, der Zeitgenosse der Renaissance als Oval, der Moderne endlich, den Cezanne repräsentieren möge, ... als eine außerordentlich komplizierte Figur, von der man sich einen Begriff machen kann, indem man den unteren Teil des Ovals abgeflacht und eine seiner Seiten aufgebläht denkt.« (Entretiens, S. 38) Sollte der Nutzen solcher malerischen Errungenschaften – wie man dies vielleicht einwenden könnte – nicht der Wahrnehmung sondern nur ihrer mehr oder weniger suggestiven Reproduktion zu gute kommen, so würde er sich selbst dann auf außerkünstlerischem Felde beglaubigen. Denn solche Reproduktion wirkt durch zahlreiche Kanäle – den der gewerblichen Zeichnung wie den des Reklamebildes, den der volkstümlichen wie den der wissenschaftlichen Illustration – auf das Produktions- und Bildungsniveau der Gesellschaft ein.
Der Elementarbegriff, den man sich so vom Nutzen des Bildes machen kann, ist durch die Photographie erheblich erweitert worden. Diese erweiterte Gestalt ist seine aktuelle. Die gegenwärtige Debatte hat ihren Höhepunkt an den Stellen, an denen sie, die Photographie in die Analyse einbeziehend, deren Verhältnis zur Malerei klärt. Wenn das in Venedig nicht geschah, so holte Aragon in Paris das Versäumte nach. Es bedurfte, wie er später erzählt, einiger Courage dazu. Ein Teil der anwesenden Maler sah in dem Unternehmen, Gedanken zur Geschichte der Malerei auf die Geschichte der Photographie zu gründen, eine Beleidigung. »Man stelle sich«, schließt Aragon, »einen Physiker vor, der sich beleidigt fühlt, weil man ihm von Chemie spricht.« Louis Aragon, Le réalisme à l'ordre du jour. In: Commune, sept. 1936, 4, série 37, p. 23.
Vor acht bis zehn Jahren hat man begonnen, die Geschichte der Photographie zu erforschen. Wir haben eine Anzahl, meist illustrierter, Arbeiten über ihre Anfänge und ihre frühen Meister. Vgl. u. a. Helmut Theodor Bossert und Heinrich Guttmann, Aus der Frühzeit der Photographie 1840–1870, Frankfurt am Main 1930; Camille Recht, Die alte Photographie, Paris 1931; Heinrich Schwarz, David Octavius Hill, der Meister der Photographie, Leipzig 1931; ferner zwei wichtige Quellenwerke: Disderi, Manuel opératoire de photographie, Paris 1853; Nadar, Quand j'étais photographe, Paris 1900. Es ist aber einer der jüngsten Publikationen vorbehalten geblieben, den Gegenstand im Zusammenhang mit der Geschichte der Malerei zu behandeln. Daß dies im Geiste des dialektischen Materialismus versucht worden ist, ergibt eine neue Bestätigung der höchst originalen Aspekte, die diese Methode zu eröffnen vermag. Gisèle Freunds Studie »La Photographie en France au dix-neuvième siècle« Gisèle Freund, La Photographie en France au dix-neuvième siècle, Paris 1936. – Die Verfasserin, eine deutsche Emigrantin, hat mit dieser Arbeit an der Sorbonne promoviert. Wer der öffentlichen Disputation beiwohnte, die den Abschluß der Prüfung bildet, mußte einen starken Eindruck von dem Weitblick und der Liberalität der Examinatoren mit nach Hause nehmen. – Ein methodischer Einwand gegen das verdienstliche Buch sei gestreift. »Je größer«, schreibt die Verfasserin, »das Genie des Künstlers ist, desto besser reflektiert sein Werk, und zwar gerade kraft der Originalität seiner Formgebung, die Tendenzen der ihm gleichzeitigen Gesellschaft.« (Freund, S. 4) Was an diesem Satz bedenklich scheint, ist nicht der Versuch, die künstlerische Tragweite einer Arbeit mit Beziehung auf die gesellschaftliche Struktur ihrer Entstehungszeit zu umschreiben; bedenklich ist nur die Annahme, diese Struktur erscheine ein für allemal unter dem gleichen Aspekt. In Wahrheit dürfte sich ihr Aspekt mit den verschiedenen Epochen andern, die ihren Blick auf sie zurücklenken. Die Bedeutung eines Kunstwerks mit Rücksicht auf die gesellschaftliche Struktur seiner Entstehungszeit definieren, kommt also viel mehr darauf hinaus, die Fähigkeit des Kunstwerks, zu der Epoche seiner Entstehungszeit den ihr entlegensten und fremdesten Epochen einen Zugang zu geben, aus der Geschichte seiner Wirkungen zu bestimmen. Solche Fähigkeit hat z.B. Dantes Gedicht für das zwölfte Jahrhundert, hat Shakespeares Werk für das elisabethanische Zeitalter an den Tag gelegt. – Die Klarstellung dieser methodischen Frage ist umso wichtiger als die Formel von Freund geradenwegs auf eine Position zurückführt, die ihren drastischsten und zugleich fragwürdigsten Ausdruck bei Plechanow gefunden hat, der erklärt: »je größer ein Schriftsteller ist, desto stärker und einsichtiger hängt der Charakter seines Werks vom Charakter seiner Epoche ab oder mit anderen Worten (Sperrung vom Referenten): desto weniger läßt sich in seinen Werken jenes Element ausfindig machen, das man das ›persönliche‹ nennen könnte.« (Georges Plekhanov, Les jugements de Lanson sur Balzac et Corneille. In: Commune, déc. 1934, 2, série 16, p. 306.) stellt den Aufstieg der Photographie im Zusammenhang mit dem Aufstieg des Bürgertums dar und exemplifiziert diesen Zusammenhang in besonders glücklicher Weise an der Geschichte des Portraits. Ausgehend von der unter dem ancien régime am meisten verbreiteten Portraittechnik, der kostspieligen Elfenbeinminiature, zeigt die Verfasserin die verschiedenen Verfahren auf, die um 1780, das heißt sechzig Jahre vor Erfindung der Photographie, auf eine Beschleunigung und Verbilligung, damit auf eine weitere Verbreitung der Portraitproduktion hinzielten. Ihre Beschreibung des Physiognotrace als eines Mittelgliedes zwischen Portraitminiature und photographischer Aufnahme hat den Wert einer Entdeckung. Die Verfasserin zeigt dann weiter, wie die technische Entwicklung ihren der gesellschaftlichen angepaßten Standard in der Photographie erreicht, durch die das Portrait den breiteren Bürgerschichten erschwinglich wird. Sie stellt dar, wie die Miniaturisten die ersten Opfer der Photographie in den Reihen der Maler wurden. Sie berichtet endlich über die theoretische Auseinandersetzung zwischen Malerei und Photographie um die Jahrhundertmitte.
Im Felde der Theorie konzentrierte sich die Auseinandersetzung zwischen Photographie und Malerei um die Frage, ob die Photographie eine Kunst sei. Die Verfasserin macht auf die eigentümliche Konstellation aufmerksam, die bei der Beantwortung dieser Frage zum Vorschein kommt. Sie stellt fest, wie hoch dem künstlerischen Niveau nach eine Anzahl der frühen Photographen gestanden haben, die ohne künstlerische Prätentionen zu Werke gingen und mit ihren Arbeiten nur einem engen Freundeskreise vor Augen kamen. »Der Anspruch der Photographie, eine Kunst zu sein, würde gerade von denen erhoben, die aus der Photographie ein Geschäft machten.« (Freund, S. 49) Mit anderen Worten: der Anspruch der Photographie, eine Kunst zu sein, ist gleichzeitig mit ihrem Auftreten als Ware.
Der Sachverhalt hat seine dialektische Ironie: das Verfahren, das später bestimmt war, den Begriff des Kunstwerks selbst in Frage zu stellen, indem es durch dessen Reproduktion seinen Warencharakter forcierte, bezeichnet sich als ein künstlerisches. Eine ähnlich ironische Konstellation im gleichen Feld ist die Folgende. Die Kamera ist als hochgradig standardisiertes Werkzeug dem Ausdruck nationaler Eigentümlichkeiten in der Form ihres Produkts nicht viel günstiger als ein Walzwerk. Sie macht die Bildproduktion in vordem ungekanntem Maße von nationalen Konventionen und Stilen unabhängig. Sie beunruhigte dadurch die Theoretiker, die auf solche Konventionen und Stile eingeschworen sind. Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. Schon 1859 heißt es in der Besprechung einer photographischen Ausstellung: »Der besondere Nationalcharakter tritt ... handgreiflich in den Werken der verschiedenen Länder heraus ... Niemals wird ein französischer Photograph ... mit einem seiner englischen Kollegen zu verwechseln sein.« (Louis Figuier, La photographie au salon de 1859, Paris 1860, S. 5) Und genau so nach über siebenzig Jahren Margherita Sarfatti auf dem Venezianer Kongreß: »Eine gute Portraitphotographie wird uns auf den ersten Blick die Nationalität – nicht etwa des Photographierten sondern – des Photographen verraten.« (Entretiens, S. 87) Diese spätere Entwicklung setzt mit Disderi ein. Disderi wußte, daß die Photographie eine Ware ist. Aber diese Eigenschaft teilt sie mit allen Produkten unserer Gesellschaft. (Auch das Gemälde ist eine Ware.) Disderi erkannte darüber hinaus, welche Dienste die Photographie der Warenwirtschaft zu leisten imstande ist. Er als erster benutzte das photographische Verfahren, um Güter, welche dem Zirkulationsprozeß mehr oder weniger entzogen gewesen waren, in denselben hinein zu reißen. So in erster Linie die Kunstwerke. Disderi hatte den klugen Gedanken, sich ein staatliches Monopol auf die Reproduktion der im Louvre versammelten Kunstwerke geben zu lassen. Seither hat die Photographie immer zahlreichere Ausschnitte aus dem Feld optischer Wahrnehmung verkäuflich gemacht. Sie hat der Warenzirkulation Objekte erobert, die ehedem so gut wie nicht in ihr vorkamen.
Aus dem Rahmen, den Gisèle Freund sich gesteckt hat, fällt dieser Entwicklungsgang bereits heraus. Sie hat es vor allem mit der Epoche zu tun, in der die Photographie ihren Siegeszug antritt. Es ist die Epoche des juste milieu. Die Verfasserin kennzeichnet dessen ästhetischen Standpunkt, und es hat in ihrer Darstellung einen mehr als anekdotischen Wert, daß für einen der damals gefeierten Meister die exakte Darstellung von Fischschuppen ein Hochziel der Malerei war. Diese Schule sah ihre Ideale über Nacht von der Photographie verwirklicht. Ein zeitgenössischer Maler, Galimard, verrät das naiv, wenn er in einem Bericht über Meissoniers Bilder schreibt: »Das Publikum wird uns nicht widersprechen, wenn wir unsere Bewunderung ... für den feinsinnigen Künstler zum Ausdruck bringen, der ... uns dies Jahr ein Bild geschenkt hat, das es der Genauigkeit nach mit den Daguerreotypien aufnehmen kann.« Auguste Galimard, Examen du salon de 1849, Paris o. J., S. 95. Die Malerei des juste milieu wartete nur darauf, sich von der Photographie ins Schlepptau nehmen zu lassen. Es ist daher nicht erstaunlich, daß sie für die Entwicklung des photographischen Handwerks nichts, nichts Gutes jedenfalls, zu bedeuten hatte. Wo wir es unter ihrem Einfluß finden, stoßen wir auf Versuche der Photographen, mit Hilfe von Requisiten und Statisterie, die sie in ihren Ateliers versammelten, den Historienmalern es gleichzutun, die damals auf Louis-Philippes Geheiß Versailles mit Fresken versahen. Man schrak nicht davor zurück, den Bildhauer Kallimachus zu photographieren, wie er beim Anblick einer Akanthuspflanze das Korinthische Kapitäl erfindet; man stellte die Szene, wie »Leonardo« die »Mona Lisa« malt, und diese Szene photographierte man. – In Courbet hatte die Malerei des juste milieu ihren Widerpart; mit Courbet kehrt sich, für eine gewisse Zeit, das Verhältnis zwischen Maler und Photograph um. Sein berühmtes Bild »Die Woge« kommt der Entdeckung eines photographischen Sujets durch die Malerei gleich. Courbets Epoche kannte weder die Groß- noch die Momentaufnahme. Seine Malerei zeigt ihr den Weg. Sie rüstet eine Entdeckungsfahrt in eine Formen- und Strukturwelt aus, die man erst mehrere Lustren später auf die Platte zu bringen vermochte.
Courbets besondere Stellung liegt darin, daß er der letzte war, der versuchen konnte, die Photographie zu überholen. Die Späteren suchen ihr zu entgehen. So zuvörderst die Impressionisten. Das gemalte Bild entschlüpft der zeichnerischen Armatur; es entzieht sich dadurch in gewissem Maße der Konkurrenz durch die Kamera. Die Probe auf das Exempel machen die Versuche, in denen die Photographie um die Jahrhundertwende es ihrerseits den Impressionisten nachtut. Sie greift zu den Gummidrucken; es ist bekannt, wie tief sie mit diesem Verfahren gesunken ist. Aragon hat den Zusammenhang scharf erfaßt: »Die Maler ... haben im photographischen Apparat einen Konkurrenten gesehen ... Sie haben versucht, es anders zu machen als er. Das war ihre große Idee. Eine wichtige Errungenschaft der Menschheit so zu verkennen, ... mußte ... schließlich ... eine reaktionäre Verhaltungsweise bei ihnen zur Folge haben. Die Maler sind mit der Zeit – und das gilt am meisten von den begabtesten – ... wahre Ignoranten geworden.« La querelle, S. 64. Vgl. die bösartige These Dérains: »Die große Gefahr für die Kunst ist das Übermaß von Kultur. Der wahre Künstler ist ein unkultivierter Mensch.« (La querelle, S. 163)
Aragon ist den Fragen, die die jüngste Geschichte der Malerei aufgibt, 1930 in einer Schrift nachgegangen, die er »Die Herausforderung der Malerei« Louis Aragon, La peinture au défi, Paris 1930. überschrieben hat. Herausforderer ist die Photographie. Die Schrift gilt der Wendung, die die vordem den Zusammenstoß mit der Photographie meidende Malerei dazu führte, ihr die Stirn zu bieten. Wie sie das tat, stellte Aragon im Anschluß an die Arbeiten seiner damaligen surrealistischen Freunde dar. Man griff zu verschiedenen Verfahrungsweisen. »Ein Stück Photographie wurde in ein Gemälde oder in eine Zeichnung hineingeklebt; oder in eine Photographie wurde etwas hineingezeichnet bzw. hineingemalt.« (Aragon, S. 22) Aragon nennt noch andere Prozeduren. So die Behandlung von Abbildungen, denen durch Ausschneiden die Form anderer als der abgebildeten Dinge verliehen wird. (Man kann eine Lokomotive aus einem Blatt ausschneiden, auf dem eine Rose abgedruckt ist.) In diesem Verfahren, das seinen Zusammenhang mit dem Dadaismus erkennen läßt, glaubte Aragon eine Gewähr für die revolutionäre Energie der neuen Kunst zu besitzen. Er konfrontierte sie mit der hergebrachten. »In der Malerei geht es längst komfortabel her; sie schmeichelt dem kultivierten Kenner, der sie bezahlt. Sie ist Luxusgegenstand... An diesen neuen Versuchen erkennt man, daß die Maler sich von ihrer Domestizierung durch das Geld freimachen können. Denn diese Klebetechnik ist arm an Mitteln. Und ihr Wert wird noch lange verkannt werden.« (Aragon, S. 19)
Das war 1930. Aragon würde diese Sätze heute nicht mehr schreiben. Der Versuch der Surrealisten, die Photographie »künstlerisch« zu bewältigen, ist fehlgeschlagen. Der Irrtum der kunstgewerblichen Photographen mit ihrem spießbürgerlichen Credo, das den Titel von Renger-Patzschs bekannter Photosammlung »Die Welt ist schön« bildet, war auch der ihre. Sie verkannten die soziale Durchschlagskraft der Photographie und damit die Wichtigkeit der Beschriftung, die als Zündschnur den kritischen Funken an das Bildgemenge heranführt (wie wir das am besten bei Heartfield sehen). Aragon hat sich mit Heartfield letzthin beschäftigt; Louis Aragon, John Heartfield et la beauté révolutionnaire. In: Commune, mai 1935, 2. S. 21.; er hat auch sonst die Gelegenheit wahrgenommen, auf das kritische Element in der Photographie hinzuweisen. Heute sichtet er dieses Element selbst im scheinbar formalen Werk eines Kameravirtuosen wie Man Ray. Mit Man Ray, führte er in der Pariser Debatte aus, gelingt es der Photographie, die Malweise der modernsten Maler zu reproduzieren. »Wer die Maler, auf die Man Ray anspielt, nicht kennt, würde seine Leistung gar nicht vollständig würdigen können.« (La querelle, S. 60)
Dürfen wir von dieser spannungsreichen Geschichte der Begegnung von Malerei und Photographie mit der liebenswürdigen Formel Abschied nehmen, die Lhote in Bereitschaft hält? Ihm erscheint unbestreitbar, »daß der vielberedete Ersatz der Malerei durch die Photographie in der Erledigung dessen Platz greifen kann, was man als ›die laufenden Geschäfte‹ bezeichnen möchte. Der Malerei aber verbleibt sodann die geheimnisvolle Domäne des ewig unantastbaren Reinmenschlichen.« (La querelle, S. 102) Leider ist diese Konstruktion nichts als eine Falle, die hinterm liberalen Denker einschnappt und ihn wehrlos an den Faschismus liefert. Wieviel weiter reichte der Blick des ungeschlachten Ideenmalers Antoine Wiertz, der vor bald 100 Jahren aus Anlaß der ersten photographischen Weltschau geschrieben hat: »Vor einigen Jahren ist uns, der Ruhm unseres Zeitalters, eine Maschine geboren worden, die tagtäglich das Staunen unserer Gedanken und der Schrecken unserer Augen ist. Ehe noch ein Jahrhundert um ist, wird diese Maschine der Pinsel, die Palette, die Farben, die Geschicklichkeit, die Erfahrung, die Geduld, die Behendigkeit, die Treffsicherheit, das Kolorit, die Lasur, das Vorbild, die Vollendung, der Extrakt der Malerei sein ... Glaube man nicht, daß die Daguerreotypie die Kunst töte ... Wenn die Daguerreotypie, dieses Riesenkind, herangewachsen sein wird; wenn, all seine Kunst und Stärke sich wird entfaltet haben, dann wird der Genius es plötzlich am Genick packen und rufen: Hierher! Mir gehörst Du jetzt! Wir werden zusammen arbeiten.« A. I. Wiertz, Œuvres littéraires Paris 1870, S. 309. Wer die großen Gemälde von Wiertz vor sich hat, weiß, daß der Genius, von dem er spricht, ein politischer ist. Im Blitz einer großen sozialen Inspiration, so meint er, müssen einst Malerei und Photographie verschmelzen. Diese Prophetie enthielt eine Wahrheit; nur daß es nicht Werke sondern Meister sind, in denen sich solche Verschmelzung vollzogen hat. Sie gehören der Generation von Heartfield an und sind durch die Politik aus Malern zu Photographen geworden.
Die gleiche Generation hat Maler wie George Grosz oder Otto Dix hervorgebracht, die auf das gleiche Ziel hingearbeitet haben. Die Malerei hat ihre Funktion nicht verloren. Man darf sich nur nicht die Aussicht auf sie verstellen, wie z.B. Christian Gaillard es tut. »Wenn soziale Kämpfe«, so sagt er, »das Sujet meines Œuvres sein sollten, so müßte ich visuell von ihnen ergriffen sein.« (La querelle, S. 190) Das ist für den Zeitgenossen faschistischer Staaten, in deren Städten und Dörfern »Ruhe und Ordnung« herrschen, eine sehr problematische Formulierung. Sollte er nicht den umgekehrten Vorgang an sich erfahren? Wird sich sein soziales Ergriffensein nicht in visuelle Inspiration umsetzen? So ist es bei den großen Karikaturisten gewesen, deren politisches Wissen ihrer physiognomischen Wahrnehmung sich nicht weniger tief eingesenkt hat, als die Erfahrung des Tastsinns der Raumwahrnehmung. Den Weg haben Meister wie Bosch, Hogarth, Goya, Daumier gewiesen. »Unter die wichtigsten Werke der Malerei«, schreibt der jüngstverstorbene René Crevel, »hat man immer die zählen müssen, die, eben indem sie eine Zersetzung aufwiesen, Anklage gegen die erhoben, die für sie verantwortlich waren. Von Grünewald bis Dali, vom verfaulten Christ bis zum verfaulten Esel Ein Bild von Dali. ... hat die Malerei immer...neue Wahrheiten zu finden vermocht, die nicht Wahrheiten der Malerei allein waren.« (La querelle, S. 154)
Es liegt in der Natur der westeuropäischen Situation, daß die Malerei gerade da, wo sie souverän an die Sache geht, eine zerstörende, reinigende Wirkung hat. Vielleicht kommt das in einem Land, das noch Noch: Anläßlich der großen Cézanne-Ausstellung setzte sich das Pariser Blatt »Choc« die Aufgabe, mit dem »Bluff« Cézanne Schluß zu machen. Die Ausstellung sei von der französischen Linksregierung veranstaltet worden, »um die Kunstgesinnung des eigenen, ja aller anderen Völker in den Schmutz zu ziehen«. So die Kritik. Im übrigen gibt es Maler, die für alle Fälle vorgesorgt haben. Sie halten es mit Raoul Dufy, der schreibt, wenn er ein Deutscher wäre und den Triumph Hitlers zu feiern hätte, so würde er das tun wie gewisse Maler des Mittelalters religiöse Bilder gemalt hätten, ohne darum gläubig gewesen zu sein (vgl. La querelle, S. 187). demokratische Freiheiten hat, nicht so deutlich wie in einem Lande zum Vorschein, wo der Faschismus am Ruder ist. Dort gibt es Maler, denen das Malen verboten ist. (Und selten hat das Sujet, meistens die Malweise den Künstlern das Verbot zugezogen. So tief wird der Faschismus von ihrer Art zu sehen getroffen.) Zu diesen Malern kommt Polizei, um zu kontrollieren, ob sie seit der letzten Razzia nichts gemalt haben. Sie gehen nachts ans Werk, bei verhängten Fenstern. Für sie ist die Versuchung »nach der Natur« zu malen gering. Auch sind die fahlen Landstriche ihrer Bilder, die von Schemen oder Monstren bevölkert werden, nicht der Natur abgelauscht, sondern dem Klassenstaat. Von diesen Malern war in Venedig nicht die Rede; leider auch nicht in Paris. Sie wissen, was heute an einem Bild nützlich ist: jede öffentliche oder geheime Marke, die zeigt, daß der Faschismus im Menschen auf ebenso unüberwindliche Schranken gestoßen ist wie er sie auf dem Erdball gefunden hat.