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Rückblick auf Stefan George
Zu einer neuen Studie über den Dichter

Willi Kodi, Stefan George. Weltbild, Naturbild, Menschenbild. Halle/Saale: Max Niemeyer Verlag (1933). VIII, 114 S.

Stefan George schweigt seit Jahren. Indessen haben wir ein neues Ohr für seine Stimme gewonnen. Wir erkennen sie als eine prophetische. Das heißt nicht, daß George das historische Geschehen, noch weniger, daß er dessen Zusammenhänge vorausgesehen hätte. Das macht den Politiker, nicht den Propheten. Prophetie ist ein Vorgang in der moralischen Welt. Was der Prophet voraussieht, sind die Strafgerichte. Sie hat George dem Geschlecht der »eiler und gaffer«, unter welches er versetzt war, vorausgesagt. Die Weltnacht, deren Nahen ihm die Tage verdüsterte, ist neunzehnhundertvierzehn angebrochen. Und daß er ihr Ende noch nicht ermißt, hat er in einem vielsagenden Titel seines letzten Gedichtbuchs ausgesprochen: »Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg.« Neue Lichter und Schatten haben in den tief geschnittenen Zügen dieses Hauptes sich angesiedelt. Und noch kennen wir nicht den Feuerschein, mit welchem die Geschichte seine Züge am Tage, da sie ihren Ausdruck für die Ewigkeit erhalten, beleuchten wird.

Es wohnt aber in diesem Dichter selbst ein Gegenspieler des Propheten. Je deutlicher die Stimme des letzteren vernehmbar wird, desto ohnmächtiger sinkt die des andern – die Stimme eines Reformators – in sich zusammen. George, dem die eigene strenge Zucht, und angeborener Spürsinn für das Nächtige, Vorwissen um die Katastrophe gegeben hat, vermochte doch als Führer oder Lehrer nur schwächliche und lebensfremde Regeln oder Verhaltungsweisen vorzuschreiben. Die Kunst galt ihm als jener »Siebente Ring«, mit dem noch einmal eine Ordnung, die schon in allen Fugen nachgab, zusammengeschmiedet werden sollte. Kein Zweifel, daß sich diese Kunst als streng und triftig, der Ring als eng und kostbar erwiesen hat. Doch was er faßte, war die gleiche Ordnung, die – wenn auch mit viel weniger edlen Mitteln – den alten Mächten aufrecht zu erhalten am Herzen lag. George ist es darum nicht gelungen, seine Dichtung dem Bannkreis von Symbolen zu entziehen, die keineswegs – wie die von Hölderlin – gleich Quellen, die aus dem Erdreich einer großen Überlieferung gesickert waren, an die Oberfläche traten. Vielmehr ist die Symbolik dieses Werks sein Brüchigstes. Sie ist im Kern nicht unterschieden von dem Aufgebot, das zu der Zeit, in dem der »Kreis« sich um den Meister zusammenfand, Barres in Frankreich an den ganzen Stamm symbolischer Vorstellungen und Bilder ergehen ließ, die er in Volk und Kirche antraf. Sein Aufgebot hat den Charakter einer Abwehr, oft einer verzweifelten. So scheint der Schatz der in Georges Dichtung eingesenkten geheimen Zeichen heute schon als ärmstes, ängstlich bewahrtes Eigentum des »Stils«.

In seiner großen Besprechung des »Siebenten Rings« im Jahrbuch »Hesperus« hat als erster Rudolf Borchardt das dichterische Vermögen von George abzuschätzen gesucht. Und ohne dieser Frage mehr Bedeutung, als ihr in dem Gesamtzusammenhange dieser Erscheinung gebührt, zuzugestehen, hat er auf eine nicht geringe Anzahl machtloser und verfehlter Strophen den Blick gelenkt. In den fünfundzwanzig Jahren, die seit jener Veröffentlichung dahingegangen sind, hat der Blick für solche Ausfallserscheinungen sich verschärft. Es will aber im Grunde das Gleiche sagen, wenn etwas wie ein »Stil« in den Gedichten Georges mit einer Drastik sichtbar geworden ist, die bisweilen ihren Gehalt verdrängt und in den Schatten stellt. Stücke, in denen seine Kraft versagte, fallen meist genau mit denjenigen zusammen, in welchen dieser Stil Triumphe feiert. Es ist der Jugendstil; mit andern Worten der Stil, in dem das alte Bürgertum das Vorgefühl der eignen Schwäche tarnt, indem es kosmisch in alle Sphären schwärmt und zukunftstrunken die »Jugend« als Beschwörungswort mißbraucht. Hier taucht, zunächst nur programmatisch, zum ersten Mal die Regression aus der sozialen in die natürliche und biologische Realität auf, welche seitdem wachsend sich als Symptom der Krise bestätigt hat. Das biologische Idol verbindet in der Idee des »Kreises« sich dem kosmischen. Daraus entsteht dann später die Figur des mythischen Vollenders Maximin. Man hat von den gequälten Ornamenten, die damals Möbel und Fassaden überzogen, gesagt, sie stellten den Versuch vor, Formen, die erstmals in der Technik zum Durchbruch kamen, ins Kunstgewerbliche zurückzubilden. Der Jugendstil ist in der Tat ein großer und unbewußter Rückbildungsversuch. In seiner Formensprache kommt der Wille, dem, was bevorsteht, auszuweichen, und die Ahnung, die sich vor ihm bäumt, zum Ausdruck. Auch jene »geistige Bewegung«, welche die Erneuerung des menschlichen Lebens erstrebte, ohne die des öffentlichen zu bedenken, kam auf eine Rückbildung der gesellschaftlichen Widersprüche in jene ausweglosen, tragischen Krämpfe und Spannungen hinaus, die für das Leben kleiner Konventikel bezeichnend sind. Einzig geschichtliche Besinnung, die weit über den Rahmen literarhistorischer Behandlung hinausgreift, kann zu Schlüssen über die Gestalt und über das Werk gelangen, welche vor vierzig Jahren die »geistige Bewegung« ins Leben riefen. Auch ist es unbestreitbar, daß das Werk von Koch aus diesem Rahmen mit Entschiedenheit heraustritt. Es ist daher auch nirgends jenen tristen Schablonen pflichtig, welche gerade in der literarhistorischen Behandlung Georges so oft begegnen. Historische Gesichtspunkte jedoch sind dieser neuen Arbeit gänzlich fremd. Sie tritt befangen, in der Überzeugung von einer »ewigen« Geltung der Gehalte, die es bedingen, an Georges Werk. Doch dies geschieht dann, andererseits, mit soviel Umsicht und methodischer Gewissenhaftigkeit, daß ihre Leistung einen Platz behauptet, von dem sie nichts sobald verdrängen wird.

Methode dieser Arbeit ist: die »Analyse eines dichterischen Werkes, die den Ausdruck nur zu verstehen vorgibt, weil sie den Gehalt verstanden zu haben glaubt«. Und ihre Leistung: eine aufschlußreiche Periodisierung dieses Werkes, die auf den – selbstverständlich eng verschränkten – Phasen beruht, in denen sich Georges Weltbild entfaltet hat. Grundlage dieser Untersuchung ist ihm die schreckliche Allgegenwart, mit der dem Dichter George sich in aller tieferen Erfahrung der Natur das Chaos selbst als Grundkraft des Geschehens vor Augen stellt.

Unholdenhaft nicht ganz gestalte kräfte:
Allhörige zeit die jedes schwache poltern
Eintrug ins buch und alles staubgeblas
Vernahm nicht euer unterirdisch rollen.

Von früh auf aber hat sie dieser Dichter vernommen. Wie er im Sinn der christlichen Symbolik zunächst, jedoch vergeblich, sich bemüht, den Bann, der ihm entgegenwirkt, zu brechen und dann mit dem Erscheinen Maximins ihn von sich genommen und Versöhnung sich geschenkt fühlt – das macht den Gegenstand von Kochs Betrachtung. Im Sinne einer neueren theologischen Umschreibung des Objekts der Religion stellt der Verfasser die Naturerfahrung Georges unter dem Begriff des »Andern« vor. Es ist ihm leicht, mit einigen zwingenden Belegen das Düstere, Chthonische, das von dorther ursprünglich als das Herrschende den Dichter ansprach, aufzuweisen. Zugleich gewinnt er so die Fühlung mit Problemen, wie sie dem neuen Stande seiner Wissenschaft entsprechen. Er nimmt darauf Bezug, daß im besonderen seit der jüngeren Romantik der Blick mancher Dichter auf die Erschließung der Welt von ihrer chthonischen Seite her gerichtet gewesen sei. »Über die dichterische Behandlung dieses Problems fehlen noch die grundlegenden Arbeiten. Die Ursache dafür ist in der Tatsache zu sehen, daß die Literaturwissenschaft in der Hauptsache bis jetzt eine formal-ästhetische Wissenschaft war, sei es, daß ihre Bemühungen auf die ›Gestalt‹ als individuelle, ideelle oder soziologische Größe, oder auf das ›Künstlerische‹ als Anwendung der Sprache abzielten. Der tatsächliche ›Boden‹ einer Dichtung und damit auch für die sie betrachtende Wissenschaft ist aber immer im Religiösen zu suchen, aus dem sich Idee, Motiv, Gestalt und Sprache des Dichters erst als Folge ergeben.« Daß mit einer Formulierung, in der das Sprachliche als »Folge« des Religiösen erscheint – da es in Wahrheit doch dessen Medium darstellt – auch der gewissenhaftesten Forschung Grenzen gesetzt sind, die, je größer ihr Objekt, sich um so enger erweisen müssen, daran gemahnt die unvermittelte Gewaltsamkeit, mit der Kochs Studie abbricht. Das aber kann nicht hindern, auf die sehr wertvollen Feststellungen hinzuweisen, welche er im Verlauf ihr abgewinnt.

Es handelt sich dabei in immer neuen Wendungen um Georges Ringen mit der ihm eigenen Naturerfahrung. »Georges Bild der Natur als eines dämonischen Wesens«, schreibt Koch, »ist in seinem bäuerlichen Naturgefühl verwurzelt.« Mit diesen Worten streift der Autor die Zusammenhänge, die ihm den Blick in die geschichtliche Werkstatt hätten eröffnen können, in der Georges Dichtung entstanden ist. Der Bauernsohn, dem die Natur eine überlegene Macht ist, »die er nie bezwingt, der er höchstens einige Gewohnheiten absieht, mit der er im Kampfe lebt, gegen die er sich verteidigen und schützen muß« – ihm bleibt sie auch als einem Literaten, einem Bewohner großer Städte, welcher er geworden ist, in aller ihrer Macht und allem ihrem Schrecken gegenwärtig. Die Hand, welche sich nicht mehr um den Pflug ballt, ballt sich noch im Zorne gegen sie. In dieser unversöhnlichen Gebärde durchdringen sich die Kräfte seines Ursprungs und die des späteren, von diesem Ursprung weit abgelegenen Lebens, das er führte. Die Natur erscheint ihm »verkommen – an der Grenze völliger ›Entgottung‹ angelangt. Deshalb ist es ›Weltnacht‹, in der nur noch schwach vernehmbar (›starr und müde‹) gestaltgebende Kräfte wahrgenommen werden.« Der Verfasser hat vollkommen recht, einen Quellpunkt der dichterischen Kraft Georges in den beiden berühmten Strophen aus dem »Siebenten Ring« zu suchen:

Und wenn die grosse Nährerin im zorne
Nicht mehr sich mischend neigt am untern borne ·
In einer weltnacht starr und müde pocht:
So kann nur einer der sie stets befocht

Und zwang und nie verfuhr nach ihrem rechte
Die hand ihr pressen packen ihre flechte ·
Dass sie ihr werk willfährig wieder treibt:
Den leib vergottet und den gott verleibt.

Daß aber der Griff, mit dem diese Flechte der natura naturans gepackt sein will, die Ordnung und die Umordnung der menschlichen Verhältnisse ist, und sonst nichts – besonders nicht der Kult des Maximin –, das ist die Einsicht, die erst das kritische Vermögen des Forschers hätte befreien können.

Denn es ist in aller Erkenntnis, nicht in der Kritik allein – wie Hegel schon gelehrt hat – das Salz Verneinung. Handeln läßt sich aus vorbehaltloser Bejahung heraus; denken nicht. So kann denn auch die »Annäherung an das Werk«, welche soeben unter dem Titel »Die ersten Bücher Stefan Georges« Eduard Lachmann Eduard Lachmann, Die ersten Bücher Stefan Georges. Eine Annäherung an das Werk. Berlin 1933. erscheinen läßt, es nicht weit bringen. Doch sein Buch läßt keinen Vergleich mit Kochs wertvoller Studie zu. In einem selbst im Schrifttum um George bemerkenswerten Maße fehlen dem Autor Distanz und jede Fähigkeit, die Werke des Dichters anders zu bewerten als vollendete, ja anders ihnen sich zu nähern, als in solchem Sinn sie wertend. Die leeren Zeremonien, die einmal von einem Lothar Treuge vorm Altar des Kreises in Versen sind begangen worden, tauchen nun hier, am Ende der Bewegung, nochmals in Prosa auf. Schranke wird diese Schrankenlosigkeit in der Bejahung aber auch Besonnenen. Die Auseinandersetzung mit der dichterischen Figur, die in Gestalt des Maximin die Schwellengottheit vor dem Spätwerk von George bildet, kommt bei Koch nicht mehr zustande. Vielmehr trägt der Verfasser kein Bedenken, dem »Maximin-Erlebnis« als dem »Kern der Georgeschen Religion« mit dieser Meinungsäußerung zu begegnen: »Die psychologische und die geistesgeschichtliche Erklärungsmethode muß durch eine Phänomenologie des religiösen Bewußtseins ergänzt, ja auf diese muß alles gegründet werden. Denn das religiöse Verantwortungsgefühl ist der nicht psychologisch und nicht geschichtlich erklärbare Anstoß zum Maximin-Mythus.«

So tritt von neuem dieser Sachverhalt ans Licht: Georges großes Werk ist zu Ende gegangen, ohne im Zeitraum, den sein Wirken ausgefüllt hat, auf seinen echten und ihm zugeborenen Kritiker gestoßen zu sein. Es tritt in einem Schwarm von Jüngern fast unkenntlich, doch ohne Anwalt, vor den Richtstuhl der Geschichte. Freilich nicht ohne Zeugen. Welcher Art sie sind? Sie finden sich in einer Jugend, welche in jenen Gedichten gelebt hat. Nicht in der, die sich im Namen ihres Meisters auf Kathedern eingerichtet hat, und nicht in der, welche in seiner Lehre Befestigungen ihrer Position im Machtkampf der Parteien gefunden hat. Nein, vielmehr in der, welche an ihrem besten Teil schon darum ihr Zeugenamt vorm Richtstuhl der Geschichte versehen kann, weil sie tot ist. Die Verse, die ihr auf den Lippen lagen, entstammten nicht dem »Stern des Bundes«, selten dem »Siebenten Ring«. Sie fand in jener Priesterwissenschaft der Dichtung, die in den »Blättern für die Kunst« gehütet wurde, nie einen Nachhall der Stimme, die »das Lied des Zwergen« oder die »Entführung« getragen hatte. Ihr waren die Gedichte von George ein Trostgesang. Trost in Betrübnissen, für die er heute schwerlich mehr ein Herz, Gesang in einer Weise, für die er heute schwerlich mehr ein Ohr hat.

»George hat die nur ästhetische Lebenshaltung durch ihre Heroisierung für sich und für solche, die sein Werk wirklich verstehen, aus der Welt geschafft« – so heißt es, zweideutig genug, bei Koch. Denn aus der Welt schaffte er mit der Haltung auch das Leben. Die große Regression des Jugendstils führt dahin, daß sogar das Bild der Jugend zu einer Mumie einschrumpft, deren Züge nicht weniger von Ejlert Lövborg als von Maximin besitzen. Beide sterben in Schönheit. Das Geschlecht, welchem die reinsten und vollkommensten Gedichte von George ein Asyl gegeben haben, war zum Tode vorbestimmt. Jene Verfinsterung, die mit dem Krieg nur über seinem Haupte zusammenzog, was lange schon in seinem Herzen braute, schien ihm so wie dem Dichter, dessen Verse es erfüllten, als Inbegriff aller Naturgewalt. George war ihm keineswegs der »Künder« von »Weisungen«, sondern ein Spielmann, der es bewegte wie der Wind die »blumen der frühen heimat«, welche draußen lächelnd zum langen Schlummer luden. Der große Dichter ist George diesem Geschlecht gewesen, und er war es als Vollender der Decadence, deren spielerische Gebarung sein Impuls verdrängte, um in ihr dem Tod den Platz zu schaffen, den er in dieser Zeitenwende zu fordern hatte. Er steht am Ende einer geistigen Bewegung, die mit Baudelaire begonnen hat. Mag sein, daß diese Feststellung einmal nur eine literarhistorische gewesen ist. Inzwischen ist sie eine geschichtliche geworden und will ihr Recht.


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