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Als die Zerstreuung der deutschen Gelehrten im Jahre 1933 einsetzte, gab es kein Gebiet, auf dem heimisch zu sein, ihnen ein ausschließendes Ansehen hätte verschaffen können. Dennoch waren Europas Blicke auf sie gerichtet, und es sprach aus ihnen mehr als Teilnahme. In diesen Blicken hatte eine Frage gelegen, wie sie denen gilt, die von einer ungewöhnlichen Gefahr angetreten, von einem neuen Schrecken heimgesucht worden sind. Es dauerte eine gewisse Zeit bis die Betroffenen in ihrem eigenen Innern das Nachbild dessen fixiert hatten, was vor ihnen aufgetaucht war. Fünf Jahre sind aber eine geraume Frist. Der einen und selben Erfahrung zugewandt, von jedem auf seine Art und auf seinem Felde genutzt, mußten sie einer Gruppe von Forschern genügen, sich und andern von dem Rechenschaft zu geben, was ihnen, als Forschern, widerfahren war und was ihre Arbeit künftig bestimmen werde. Nicht zuletzt schuldeten sie diese Rechenschaft vielleicht denen, die ihnen im Exil ihr Vertrauen und ihre Freundschaft erwiesen hatten.
Die Gruppe, von der die Rede ist, hat sich in der deutschen Republik um das Frankfurter »Institut für Sozialforschung« zusammengefunden. Man kann nicht sagen, daß sie von Hause aus eine Fachschaft gebildet hätte. Der Leiter des Instituts, Max Horkheimer, ist ein Philosoph, ein Ökonom, Friedrich Pollock, sein nächster Mitarbeiter. Neben ihnen stehen als Psychoanalytiker Fromm, als Volkswirtschaftler Grossmann, als Philosophen Marcuse und Rottweiler, der letztere zugleich als Musikästhetiker, als Literarhistoriker Löwenthal, und einige andere. Der Gedanke, in dem sich diese Gruppierung vollzogen hatte, ist, »daß die Lehre von der Gesellschaft sich heute nur im engsten Zusammenhange mit einer Reihe von Disziplinen, vor allem mit Nationalökonomie, Psychologie, Geschichte und Philosophie entwickeln kann«. Auf der andern Seite ist den genannten Forschern das Bestreben gemeinsam, die Arbeit ihrer jeweiligen Disziplin an dem Stande der gesellschaftlichen Entwicklung und ihrer Theorie auszurichten. Was hier in Frage steht, läßt sich schwerlich als Lehrmeinung, gewiß nicht als System darlegen. Es erscheint am ehesten als Niederschlag einer alle Überlegungen durchdringenden, unveräußerlichen Erfahrung. Sie besagt, daß die methodische Strenge, in der die Wissenschaft ihre Ehre sucht, ihren Namen nur dann verdient, wenn sie nicht nur das im abgeschiedenen Räume des Laboratoriums sondern auch das im freien der Geschichte bewerkstelligte Experiment in ihren Horizont einbezieht. Diese Notwendigkeit haben die letzten Jahre den aus Deutschland stammenden Forschern näher gelegt als sie sich's wünschen konnten. Sie hat sie dahin geführt, den Zusammenhang zu betonen, in dem ihre Arbeit mit der realistischen Richtung der europäischen Philosophie steht, wie sie sich im 17. Jahrhundert vornehmlich in England, im 18. Jahrhundert in Frankreich, im 19. in Deutschland entwickelt hat. Einem Hobbes und Bacon, einem Diderot und Holbach, einem Feuerbach und Nietzsche stand die gesellschaftliche Tragweite ihrer Forschung vor Augen. Diese Tradition hat von neuem Autorität, ihre Fortführung erhöhtes Interesse gewonnen.
Die Solidarität der gelehrten Welt hat in den großen Demokratien, zumal in Frankreich und in Amerika, diesen deutschen Forschern mehr gegeben als eine Freistätte. In Amerika ist ein »Institute for Social Research« der Columbia University, in Frankreich ein »Institut des Recherches Sociales« der Ecole Normale Supérieure angeschlossen. Wo noch freie wissenschaftliche Diskussion zum Austrag kommt, wird sie in diesem Arbeitskreise verfolgt. Vieles spricht dafür, diese Diskussion von den allerjüngsten Parolen und Redeformen wieder auf die noch unbereinigten Grundfragen europäischer Philosophie zurückzuführen. Daß sie noch unbereinigt sind, hängt mit dem sozialen Notstande eng zusammen.
Dies ist das Motiv einer Debatte über den Positivismus – die »empirische Philosophie« wie man heute sagt – die in den letzten Jahren von dem Institut geführt wurde. Die Wiener Schule der Neurath, Carnap, Reichenbach stellte seinen Hauptpartner dar. Schon 1932 wies Horkheimer in »Bemerkungen über Wissenschaft und Krise« auf die für den Positivismus so charakteristische Neigung hin, die bürgerliche Gesellschaft als ewig anzusetzen und ihre Widersprüche – die theoretischen sowohl wie die praktischen – zur Bagatelle zu machen. Drei Jahre später stellt der Essai »Zum Problem der Wahrheit« diese Betrachtung auf eine breitere Grundlage. Die Untersuchung faßt den gesamten Zusammenhang der abendländischen Philosophie ins Auge, da denn die unkritische Unterwerfung unter das Bestehende, die den Relativismus des positiven Forschers wie seinen Schatten begleitet, im Ursprünge bei Descartes »in der Verbindung des universalen methodischen Zweifels ... mit seinem aufrichtigen Katholizismus« erscheint (Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang IV, Heft 3, S. 322). Wieder zwei Jahre später heißt es: »Theorie im traditionellen, von Descartes begründeten Sinn, wie sie im Betrieb der Fachwissenschaften überall lebendig ist, organisiert die Erfahrung auf Grund von Fragestellungen, die sich im Zusammenhang mit der Reproduktion des Lebens innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft ergeben.« (ZfS, VI, 3, S. 625) Genau genommen heißt den Positivismus kritisieren, den wissenschaftlichen »Betrieb« in Augenschein nehmen. Nicht zufällig hat er sich den Anliegen der Humanität entzogen und wurde es ihm so leicht, den Dienstvertrag mit den Gewalthabern abzuschließen. »Der Leerlauf gewisser Teile des Universitätsbetriebs sowie nichtssagender Scharfsinn, metaphysische und nichtmetaphysische Ideologienbildung haben ... ihre gesellschaftliche Bedeutung, ohne ... den Interessen irgendeiner nennenswerten Mehrheit der Gesellschaft wirklich gemäß zu sein.« (ZfS VI, 2, S. 261)
Welche Hoffnung könnten zumal die exilierten Gelehrten auf den Betrieb setzen, da doch seine positivste Funktion, die internationalen Beziehungen unter den Forschern zu wahren, heute so vielfältig unterbunden ist. Einzelnen Zweigen der Wissenschaft, wie der Psychoanalyse, sind ganze Länder verschlossen; Lehren der theoretischen Physik sehen wir geächtet; die Autarkie bedroht den geistigen Austausch, wäre es nur aus materiellen Gründen; die Kongresse, die ihn zu unterhalten bestrebt sein mögen, sind unausgetragener politischer Spannungen voll. Die Theorie ist zum hölzernen Pferd geworden und die universitas litterarum ein neues Troja, in dem die Feinde des Denkens und der Vernunft ihrem Versteck zu entsteigen begonnen haben. Um so mehr kommt es darauf an, dem Übergewicht aktueller Verhältnisse über den Gang des Forschungsberichtes durch dessen eigene Aktualisierung entgegenzutreten. Dieses Vorhaben ist den Beiträgen der »Zeitschrift für Sozialforschung« Zeitschrift für Sozialforschung. Hrsg. im Auftrag des Instituts für Sozialforschung von Max Horkheimer. Leipzig: Verlag von C. L. Hirschfeld 1932 f.; seit Jahrgang 2, Heft 2: Paris: Librairie Félix Alcan 1933 ff. gemeinsam. Auf was es genauer zielt, darüber gibt eine Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus Auskunft, der solche Aktualisierung auf seine eigene, in Wahrheit überaus problematische Weise, vorweggenommen hatte.
Eine Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis konnte gerade in Amerika am Pragmatismus noch weniger vorbeigehen als am Positivismus. Von letzterem unterscheidet der Pragmatismus sich vor allem durch die Anschauung vom Verhältnis, in dem die wissenschaftliche Theorie zur Praxis steht. Nach dem Positivismus kehrt die Theorie der Praxis den Rücken; nach dem Pragmatismus hat sie sich an ihr auszurichten. Die Bewährung der Theorie in der »Praxis« gilt dem Pragmatismus als Kriterium für ihre Wahrheit. Demgegenüber bildet für den kritischen Denker »die Bewährung, der Nachweis, daß Gedanken und objektive Realität übereinstimmen, selbst einen historischen Vorgang, der gehemmt und unterbrochen werden kann« (ZfS IV, 3, S. 346). Der Pragmatismus versucht vergeblich sich über den geschichtlichen Tatbestand hinwegzusetzen, indem er die erste beste »Praxis« zur Richtschnur des Denkens macht. Der kritischen Theorie dagegen sind »die Kategorien des Besseren, des Nützlichen, Zweckmäßigen« (ZfS VI, 2, S. 261), mit denen er operiert nicht ohne weiteres annehmbar. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit besonders auf denjenigen Punkt, an dem die wissenschaftliche Begriffsbildung beginnt, sich der ihr eingesenkten, der gesellschaftlichen Praxis zugedachten kritischen Erinnerung zu entäußern, um sich zu deren Verklärung herbeizulassen. »In dem Maß, als an die Stelle des Interesses für eine bessere Gesellschaft... das Bestreben trat, die Ewigkeit der gegenwärtigen zu begründen, kam ein hemmendes und desorganisierendes Moment in die Wissenschaft.« (ZfS I, 1/2, S. 3) Solches Bestreben neigt dazu, hinter dem Schein begrifflicher Strenge sich zu verbergen; ihm auf die Spur zu kommen, war die Absicht, in der einige erkenntniskritische und wissenschaftliche Grundbegriffe – die Begriffe der Wahrheit, des Wesens, der Bewährung, des Egoismus, der »Natur« des Menschen – in der Zeitschrift behandelt wurden.
Erlittenes Unrecht legt Selbstgerechtigkeit nahe. Das hat noch für jede Emigration gegolten. Das heilsamste Mittel dagegen wird sein, im erlittenen Unrecht das Recht zu suchen. Man wird es nicht von den Intellektuellen behaupten, daß sie das Kommende vorhergesehen und noch weniger, daß sie ihm den Weg verlegt hätten. Von der »positiven« Wissenschaft, die so oft zum Komplizen der Gewalttat und der Roheit geworden ist, über die Inhaber ihrer Katheder hinaus, müssen die Blicke sich auf die »freie Intelligenz« richten. Sie beanspruchte ein Primat, das ihr so nicht zusteht. Worauf es für die freiheitlichen Forscher derzeit ankommt, ist Einblick in die ihnen eigenen, ihnen vorbehaltenen Möglichkeiten, den Rückzug der Humanität in Europa zum Stehen zu bringen. Dazu bedürfen sie »nicht der akademischen Belehrung über ihren sogenannten Standort« (ZfS VI, 2, S. 275). Das ist auf der andern Seite ebensowenig mit Schlagworten getan, sie mögen kommen woher sie wollen. »Der Intellektuelle, der bloß in aufblickender Verehrung die Schöpferkraft des Proletariats verkündigt..., übersieht«, daß der Mangel einer theoretischen Anstrengung, die ihn auf vielleicht nützliche Weise in »zeitweiligen Gegensatz zu den Massen ... bringen könnte, diese Massen blinder und schwächer macht, als sie sein müssen« (ZfS VI, 2, S. 268). Nicht die Verklärung des Proletariats kann den imperialen Nimbus zerstreuen, mit dem sich die Anwärter auf das Jahrtausend umgeben haben. In dieser Einsicht liegt der Gegenstand einer kritischen Theorie der Gesellschaft bereits angedeutet.
Die Arbeiten des Instituts für Sozialforschung konvergieren in einer Kritik des bürgerlichen Bewußtseins. Diese Kritik vollzieht sich nicht von außen, sondern als Selbstkritik. Sie haftet nicht an der Aktualität sondern richtet sich auf den Ursprung. Den weitesten Rahmen haben ihr die Arbeiten von Erich Fromm abgesteckt. Seine Forschungen gehen auf Freud zurück, weiter auf Bachofen. Freud hat am Sexualtrieb die zahlreichen ineinander verschobenen Schichten aufgewiesen. Seine Entdeckungen sind geschichtliche; aber sie betreffen die Vorgeschichte öfter als die historischen Epochen der Menschheit. Fromm stellt mit Nachdruck die Frage nach den geschichtlichen Variablen des Sexualtriebs. (Analog haben andere Forscher des Kreises die Frage nach den geschichtlichen Variablen der menschlichen Wahrnehmung aufgeworfen.) Von der Vorstellung »natürlicher« Triebstrukturen macht Fromm einen sehr zurückhaltenden Gebrauch; worauf es ihm ankommt, ist die Bedingtheit der sexuellen Bedürfnisse in historisch gegebenen Gesellschaften festzustellen. Dabei scheint es ihm irrig, diese jeweils als homogen zu setzen. »Die abhängige Klasse muß in stärkerem Maße als die herrschende ihre Triebe unterdrücken.« (Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Paris 1936. S. 101 [Schriften des Instituts für Sozialforschung, hrsg. von Max Horkheimer, Bd. 5].)
Fromms Untersuchungen sind der Familie als der Transmission zugewandt, kraft deren sexuelle Energien die Sozialverfassung, soziale Energien die Sexualverfassung beeinflussen. Durch die Analyse der Familie wird er auf Bachofen zurückgeführt. Er nimmt dessen Theorie der polaren Familienordnung, der matrizentrischen und der patrizentrischen, auf, die seinerzeit von Engels und von Lafargue zu den größten historischen Errungenschaften des Jahrhunderts gezählt wurde. Die Geschichte der Autorität, soweit sie die der zunehmenden Integration des gesellschaftlichen Zwanges durch das Innenleben des Individuums ist, fallt im wesentlichen mit der der patrizentrischen Familie zusammen. »Die Autorität des Familienvaters selbst gründet zuletzt in der Autoritätsstruktur der Gesamtgesellschaft. Der Familienvater ist zwar dem Kind gegenüber (zeitlich gesehen) der erste Vermittler der gesellschaftlichen Autorität, ist aber (inhaltlich gesehen) nicht ihr Vorbild, sondern ihr Abbild.« (a. a. O., S. 88) An der Verinnerlichung des sozialen Zwangs, die in der extrem patrizentrisch verfaßten Familie, wie sie sich in der Neuzeit herausbildet, eine immer düsterere Note, einen immer lebensfeindlicheren Charakter bekommt, hat Fromms Kritik ihren wichtigsten Gegenstand. Ihren Maßstab enthält sein Aufsatz »Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie«, in dem es heißt: »Wenn auch schon die fortgeschrittensten französischen Aufklärungsphilosophen der patrizentrischen Gefühls- und Denkstruktur entwachsen sind, so wird doch zum eigentlichen Träger ... matrizentrischer Tendenzen jene Klasse, bei der die Antriebe zu einem ganz der Arbeit gewidmeten Leben im wesentlichen von einem ökonomischen und nur zum Teil von einem verinnerlichten Zwang ausgehen.« (ZfS III, 2, S. 225)
Auf die Theorien von Fromm macht Horkheimer in einem Essai über die Bewußtseinslage der Führer im Befreiungskampfe des Bürgertums die Probe. Der Verfasser nennt seine Untersuchung über »Egoismus und Freiheitsbewegung« einen Beitrag zur »Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters«. Die Betrachtung führt die Geschichte der bürgerlichen Emanzipation in großem Bogen von Cola di Rienzo bis Robespierre. Den Radius des Bogens bestimmt eine Überlegung, deren Verwandtschaft mit den oben wiedergegebenen zutage liegt. »Je reiner die bürgerliche Gesellschaft zur Herrschaft kommt ... desto gleichgültiger und feindseliger stehen sich die Menschen ... gegenüber.« Aber »die Kritik am Egoismus paßt besser in das System dieser egoistischen Wirklichkeit als seine offene Verteidigung, denn es beruht in steigendem Maß auf der Verleugnung seines Charakters«. »In der Neuzeit wird das Herrschaftsverhältnis ökonomisch durch die scheinbare Unabhängigkeit der wirtschaftenden Subjekte, philosophisch durch den ... Begriff einer absoluten Freiheit des Menschen verdeckt und durch Bändigung und Ertötung der Lustansprüche verinnerlicht.« (ZfS V, 2, S. 165, 169, 172) Zu den bedeutsamsten Stellen des Essais gehören diejenigen, an denen der Autor unternimmt, die Spiritualisierung, den oratorischen festlichen, auch asketischen Überschwang, der den revolutionären Bewegungen des Bürgertums gemeinsam ist, auf die »schon während der Bewegung von außen nach innen« (ZfS V, 2, S. 188) gerichteten Energien der entfesselten Massen zurückzuführen. Besonders geschieht das mit Rücksicht auf die französische Revolution. Die Massen, die sie als geschichtliche Triebkraft einsetzte, waren am Ende weit entfernt davon, ihre Ansprüche befriedigt zu sehen. »Robespierre ist ein bürgerlicher Führer ... Das Prinzip der Gesellschaft, das er vertritt, enthält ... den Widerspruch zu seiner Idee einer allgemeinen Gerechtigkeit. Die Blindheit gegen diesen Widerspruch drückt seinem Charakter trotz aller leidenschaftlichen Vernünftigkeit den Stempel der Phantastik auf.« (ZfS V, 2, S. 209) Wie sehr zuletzt der Terror dieser Phantastik verhaftet ist und welche Verinnerlichung es ist, die als Grausamkeit manifest zu werden vermag – das klärt sich in einer historischen Perspektive, die in die Aktualität unserer Tage ausläuft. In der Tat führt eine Reihe von weiteren Studien die gleichen Motive an Erscheinungen der Gegenwart durch. Hektor Rottweiler studiert den Jazz als gesellschaftlichen Symptomkomplex; Löwenthal geht der Vorgeschichte der autoritären Ideologie bei Knut Hamsun nach; Kracauer untersucht die Propaganda der totalitären Staaten. Gemeinsam ist den gedachten Studien, an den Werken der Literatur und Kunst die Technik der Produktion einerseits, die Soziologie der Rezeption andrerseits aufzuweisen. Sie kommen so an Gegenstände heran, die sich einer Kritik vom bloßen Geschmack her nicht leicht erschließen.
Im Zentrum einer wissenschaftlichen Arbeit, die sich ernst nimmt, stehen Methodenfragen. Die hier berührten bilden zugleich dasjenige eines weiteren, dem des Instituts für Sozialforschung konzentrischen Problemkreises. Im freiheitlichen Schrifttum ist derzeit viel vom deutschen »Kulturerbe« die Rede. Das ist angesichts des Zynismus verständlich, mit dem deutsche Geschichte zurzeit geschrieben, deutsche Habe zurzeit verwaltet wird. Aber es wäre nichts gewonnen, wenn auf der andern Seite unter den drinnen Schweigenden oder denen, die draußen das Wort für sie führen dürfen, die Süffisanz der Erbberechtigten sich hervortäte, der Bettlerstolz eines andern omnia mea mecum porto zum guten Ton würde. Denn die geistigen Besitztümer sind derzeit um nichts besser gewährleistet als die materiellen. Und es ist Sache der Denker und Forscher, welche noch eine Freiheit der Forschung kennen, von der Vorstellung eines ein für alle Mal verfügbaren, ein für alle Mal inventarisierten Bestandes an Kulturgütern sich zu distanzieren. Ihnen besonders muß es am Herzen liegen, einen kritischen Begriff der Kultur dem »affirmativen Kulturbegriff« (ZfS VI, 1, S. 54 ff.) entgegenzusetzen. Dieser letztere entstammt, wie manch anderer falscher Reichtum, der Zeit des imitierten Renaissancestiles. Demgegenüber den technischen Bedingungen kulturellen Schaffens, seiner Aufnahme und seines Überdauerns nachzugehen, schafft, auf Kosten bequemer Übereinkommen, einer echten Überlieferung Platz.
Der Zweifel am »affirmativen Kulturbegriff« ist ein deutscher Zweifel und jenen wohl beizuzählen, welche an dieser Stelle (Maß und Wert, 1,4) scharfgeprägt und gewichtig zum Ausdruck kamen. »Die Niederlage der Demokratie«, hieß es da, »ist deshalb so gefährlich, weil der Geist auf den sie sich beruft, in Agonie liegt.« In diesem Satz liegt angedeutet, wovon die Rettung des Kulturerbes am Ende abhängt. »Alles schon Erreichte«, so ergibt es das Fazit der Gegenwart, »ist ihr nur als ein Verschwindendes und Bedrohtes gegeben«. (ZfS VI, 3, S. 640) Lassen sich aus dem Zerfallsprozeß der demokratischen Gesellschaft noch die Elemente aussondern, die – ihrer Frühzeit und ihrem Traum verbunden – die Solidarität mit einer kommenden, mit der Menschheit selbst, nicht verleugnen? Die deutschen Forscher, welche ihr Land verlassen haben, hätten nicht viel gerettet und wenig zu verlieren gehabt, würde ihnen nicht auf diese Frage ein Ja zu Antwort. Der Versuch, den Lippen der Geschichte es abzulesen, ist kein akademischer.