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Nietzsche und das Archiv seiner Schwester

Der Baron Friedrich von Schennis, den Else Lasker-Schüler in den »Gesichten« so unvergeßlich beschrieben hat, gab hin und wieder eine Geschichte zum besten, die gewiß nicht als verbürgt gelten darf, aber selbst wenn sie erfunden sein sollte, das Grauen fühlbar macht, das wohlbeschaffene Leute bei dem Gedanken an den Betrieb des Nietzsche-Archivs während der ersten Jahre beschlich. Er schilderte die langgezogene Tafel, die – mit dem oberen Ende an eine Estrade stoßend – zur Feier eines der letzten Geburtstage Nietzsches im Weimarer Haus, dessen obersten Stock er bewohnte, gedeckt war. Ein violetter Vorhang habe jene Estrade von dem Räume getrennt, in dem das Festmahl stattfand, gegen dessen Schluß aber, berichtete Schennis, habe der Vorhang sich auseinandergetan, und in einem Sessel sei der Kranke, gekleidet in ein togaähnliches Gewand, sichtbar geworden. Anstößige Episoden, von denen die greifbarste die Auslieferung Nietzsches an den Scharlatan Langbehn gewesen ist, hatten einen Kreis Kundiger frühzeitig mit Argwohn gegen die Haltung erfüllt, in welcher die Schwester – »die stadtbekannte Schwester des weltberühmten Bruders«, wie S. Friedlaender sie genannt hat – das Erbe des Denkers antrat. Das erste Alarmsignal gab dann Bernoullis Buch »Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche« und der dieser Publikation sich anschließende Prozeß, den noch heute eine Anzahl unkenntlich gemachter Stellen in der Originalausgabe in die Erinnerung rufen. Hand in Hand mit der Aufklärung jener Machenschaften, die den vorbildlichen Overbeck zu diskreditieren bestimmt waren, gingen die Aufschlüsse über die Fahrlässigkeiten und Willkürakte in der Herausgabe und Verwaltung von Nietzsches Nachlaß. Anläßlich der Debatte über die Schutzfrist für Werke der Kunst und Literatur hat dann »Die Literarische Welt« die Forderung nach einer Lex Nietzsche erhoben, die den schriftstellerischen und künstlerischen Nachlaß ganz allgemein gegen unverantwortliche Behandlung durch Erben sicherzustellen hätte. In diese Reihe gegen das Archiv gerichteter Aktionen sind die Schriften Podachs einzubeziehen. E. F. Podach, Nietzsches Zusammenbruch. Beiträge zu einer Biographie auf Grund unveröffentlichter Dokumente. Heidelberg: Niels Kampmann (1930). 166 S. – Erich F. Podach, Gestalten um Nietzsche. Mit unveröffentlichten Dokumenten zur Geschichte seines Lebens und seines Werks. Weimar: Erich Lichtenstein Verlag (1932). 208 S. Das heißt aber nicht, daß sie Kampfschriften wären, vielmehr nur, daß die Lage auch in diesem engen Sektor der Zeitgeschichte so kritisch geworden ist, daß jede gewichtige Äußerung von vornherein die Waagschale findet, in die sie fällt. Im übrigen mußte gerade der Kampf gegen den Geist des Archivs aus den letzten deutschen Begebenheiten neuen Anstoß erhalten. Nirgends ist während der wilhelminischen Ära die Mobilmachung provinziellen Spießertums, das heute seine politischen Früchte zeigt, sorgfältiger als im Archiv vorbereitet worden. Wenn also der Kampf gegen diese Stelle zuerst einen lediglich privaten Charakter zu haben schien, sodann einen juristischen gewonnen hat, so ist zur Zeit sein politischer schon erkennbar. Dem vor allem, dem in dem neuen Podachschen Werk die Dokumentensammlung zur südamerikanischen Expedition Bernhard Försters vorliegt. An der Seite dieses Förster – Führerin eher als Geführte – ist 1884 Elisabeth Förster-Nietzsche nach Paraguay aufgebrochen, um dem Nibelungentum eine Stätte auf Erden zu erobern, wie sie im Geiste später im Werk des Bruders ihm eine sichern wollte. Die Folge von beschämenden Vorfällen, die jene Kolonialprojekte zum Scheitern brachten, stellt der Verfasser eindringlich dar. Auch sonst fällt manch neues Licht auf die Menschen, die in Nietzsches näherer Umgebung auftauchten, aber selten ist es ein sonniges. Alle, von denen hier die Rede ist, Mutter und Schwester, Rohde, Peter Gast, Langbehn, haben, wenn sie ihm überhaupt je gewachsen gewesen sind, in dem oder jenem Stadium seiner Entwicklung sich von ihm trennen müssen, und ob dem die äußere Entfremdung nun hinzutrat oder nicht, qualvoll sind diese Stationen unter allen Umständen geblieben. Nietzsche empfand sie zugleich als solche auf dem Wege der »Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des ›deutschen Reiches‹«. Das hat nicht gehindert, daß man ihn seinerseits zum Reichsgründer gestempelt hat. Und auch das hat Podach erkannt, daß der schlechten sakralen Stilisierung des Nietzsche-Bildes die Herabwürdigung Overbecks haarscharf entsprach: »Was und wie über Overbeck von einem K. Strecker und R. M. Meyer bis Kurt Hildebrandt geschrieben wurde, stellt eine schlechthin unerreichbare Höchstleistung plumpester Dienstbeflissenheit vor dem Archiv und eine beispiellose Ignoranz dar.« – »Die würdigste Gestalt, mit der Nietzsche in nahe Berührung kam, der Mann, dem der Spruch ›Warum Gelehrte edler als Künstler sind‹ gewidmet zu sein scheint, der bei aller mehr selbstaufgezwungenen als naturgegebenen Dämpfung das besaß und unerbittlich zur Geltung brachte, was Nietzsche von dem tüchtigen Gelehrten forderte, ›die Instinkte eines tüchtigen Militärs im Leibe‹, der Denker, der von Nietzsche leidenschaftlich aufgewühlte Probleme vor ihm, selbständig mit unbestechlicher Nüchternheit absteckte, ... dieser Mann wurde in der deutschen Nietzsche-Literatur bestenfalls als ein in Basel zurückgelassener Geld Verwalter Nietzsches hingestellt.« Die Katastrophe stellte die innere Rangordnung der Umgebung sogleich äußerlich dar. Overbeck als einziger ging nach Turin. Die Situation dieser Katastrophe hat Podach in einem ersten Buch »Nietzsches Zusammenbruch« festgehalten. Es mag dahingestellt bleiben, ob dessen Ergebnisse, der Versuch, Nietzsches Wahnsinn psychogen verständlich zu machen, unbedingt zwingend sind. Sicher ist, daß sie den Versionen über die Krankheitsentstehung, die von der Umgebung des Archivs ausgehen, insbesondere der berühmten »Haschischpsychose« überlegen sind. Wenn aber noch unlängst wieder der Versuch gemacht worden ist, Podachs Thesen durch solche Konstruktionen zu beseitigen, Paul Cohn, Um Nietzsches Untergang. Beiträge zum Verständnis des Genies. Mit einem Anhang von Elisabeth Förster-Nietzsche: Die Zeit von Nietzsches Erkrankung bis zu seinem Tode. Hannover: Morris-Verlag (1931). 159 S. so geschah das wohl nicht nur, um der Folgerung aus dem Wege zu gehen, ›daß hier ein Mensch durch seine gedankliche Hybris wahnsinnig geworden sei‹, sondern aus Scheu, die Abgründe, die in jenen letzten Wochen von Nietzsches Existenz sich auftaten, irgendwie seinem Gedankenmassiv mit einzubegreifen.

Denn es sind Abgründe, die ihn auf immer vom Geist der Betriebsamkeit und des Philistertums trennen, der im Nietzsche-Archiv der herrschende ist.


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