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Mit Ungeduld sah die ganze Familie am andern Morgen einen Brief von Herrn Bennet entgegen; aber die Post kam, ohne eine Zeile von ihm zu bringen. Er war als ein höchst saumseliger, nachlässiger Correspondent bekannt; doch hatte man bei dieser außerordentlichen Veranlassung Ueberwindung der Schreibescheu von ihm erwartet. Herr Gardiner vermuthete mit Recht, daß er noch nichts Erfreuliches zu melden gehabt, und da er nur die Ankunft der Briefe abgewartet hatte, beschleunigte er jetzt seine Abreise, nachdem er versprochen, augenblicklich Nachricht zu geben und seinen Schwager wo möglich sogleich nach Longbourn zurück zu schicken, da Mrß. Bennet immer noch große Sorge für das Leben ihres Gatten trug
Mrß. Gardiner und die Kinder wollten noch einige Tage in Hertfordshire bleiben zum Trost und zur Stütze ihrer Nichten. Die andre Tante besuchte sie ebenfalls sehr fleißig, um, wie sie sagte, ihre lieben Verwandten aufzuheitern; da sie aber nie kam, ohne neue Beweise von Wickham's Leichtsinn und Ausschweifung zu erzählen: so verließ sie sie immer weit niedergeschlagener, als sie sie gefunden.
Ganz Meryton erhob sich jetzt, den Mann anzuklagen, der erst drei Monate vorher zum Engel erhoben worden war. Man beschuldigte ihn eines unordentlichen, zügellosen Lebens, Handwerker und Kaufleute waren unbezahlt geblieben, während er mit ihren Frauen und Töchtern Intriguen angesponnen. Jedermann erklärte ihn für den schlechtesten jungen Mann im Umkreise und Viele versicherten, dem Schein seiner Güte und Liebenswürdigkeit nie recht getraut zu haben.
Elisabeth, obgleich sie nicht die Hälfte der bösen Gerüchte glaubte, sah ihre Vermuthungen dennoch bestätigt, und ihrer Schwester Verderben als gewiß an; und selbst Johanne, die noch weniger glaubte, verlor nach und nach die Hoffnung, besonders da noch immer alle Nachrichten ausblieben, die sogar, von Schottland längst hätten eintreffen können.
Den zweiten Tag nach Herrn Gardiners Abreise erhielt seine Frau einen Brief von ihm mit der Nachricht, daß er seinen Schwager sogleich gefunden und ihn bewogen hätte, zu ihm in sein Haus zu kommen. Herr Bennet war in Epsom und Clapham gewesen, ohne jedoch etwas Genügendes zu erfahren, und in diesem Augenblick entschlossen, in den hauptsächlichsten Wirthshäusern Erkundigungen einzuziehen, indem er vermuthete, daß Wickham bei seines Ankunft in London zuerst in einem Gasthof abgestiegen sei, ehe er eine Privatwohnung bezogen habe. Herr Gardiner fügte hinzu, daß er selbst keinen günstigen Erfolg von dieser Maaßregel erwartete, seinen Schwager jedoch hierbei unterstützen würde. Seinen Vorschlag, nach Longbourn zurückzukehren, hatte er nicht angenommen, da er die Stadt nicht verlassen wollte, bis er etwas Bestimmtes erfahren. Eine Nachschrift enthielt Folgendes:
»Ich habe an den Obersten Forster geschrieben und ihn gebeten, sich bei den genauern Bekannten Wickham's zu erkundigen, ob er Verwandte oder Freunde in der Stadt habe, bei denen er sich vielleicht verborgen aufhalte. Wenn dieß der Fall, könnte man doch mit größerer Zuversicht hoffen, ihn ausfindig zu machen, als jetzt, wo es uns an jeglichem Leitfaden fehlt. Oberst Forster wird gewiß alles thun, was in seiner Macht steht, um uns behülflich zu sein. Doch nach reiflicher Ueberlegung fällt mir ein, daß Lizzy vielleicht besser als jeder Andre Auskunft über seine Verwandtschaft zu geben vermag.«
Elisabeth konnte sich recht gut erklären, weshalb ihr Onkel sich in diesem Punkte an sie gewendet, war jedoch nicht im Stande, ihn aus der Verlegenheit zu ziehen. Sie hatte Wickham nie von seinen Verwandten, außer von Vater und Mutter, reden hören; und diese waren schon mehrere Jahre todt. daß einer oder der andre seiner Kameraden im Landwehrregiment aber vielleicht mehr von ihm wissen möchte, erschien ihr selbst sehr wahrscheinlich; und so hielt auch sie sich an diesen letzten Hoffnungsstrahl.
Jeder Tag in Longbourn war nun ein Tag der Angst, und die Stunde, wo die Post anzukommen pflegte, die ängstlichste Stunde dieses Tages. Jeder Morgen begann mit neuer Erwartung, und jeder Abend schloß mit abermals getäuschter Hoffnung.
Ehe noch wieder neue Nachrichten von Herrn Gardiner einliefen, kam ein Brief von Herrn Collins an seinen Vetter in Longbourn, den Johanne auf den ausdrücklichen Befehl ihres Vaters, alles Einlaufende zu erbrechen und zu lesen, mit Elisen las. Er war ganz in Collins Manier, und lautete folgender Maaßen:
»Theuerster Vetter!
Ich fühle mich durch unsre Verwandtschaft, so wie durch meinen Stand im Leben berufen, Ihnen meine Theilnahme an dem traurigen Ereigniß, was Ihre Familie betroffen, zu bezeigen. Seien Sie versichert, daß sowohl Mrß. Collins als auch ich selbst Sie innigst beklage, und Ihren und Ihrer verehrten Familie Unglücksfall von Herzen bedaure. Es ist derselbe leider von der schrecklichsten Art, indem er aus einer Ursache entstanden, die nie hinweggeräumt werden kann. Doch soll meinerseits nichts unversucht bleiben, was ein solches hartes Geschick mildern, oder Ihnen Trost gewähren könnte. Dieß ist in diesem, das älterliche Herzen am Meisten betrübenden Umstand heilige Pflicht. Der Tod Ihrer Tochter würde im Vergleich mit ihrem jetzigen Unglück ein wünschenswerthes Gut sein. Und die Sache ist um desto mehr zu beklagen, da, wie ich von meiner lieben Charlotte erfahren habe, der Grund dieses zügellosen Betragens Ihrer Tochter hauptsächlich in einer fehlerhaften Nachsicht bei ihrer Erziehung liegt; obgleich ich zu Ihrem und Mrß. Bennets Trost geneigt bin zu glauben, daß ihre Anlagen von Natur schlecht gewesen sein müssen, weil sie sonst in diesem Alter noch nicht solcher Handlungen hätte fähig sein können. Wie dem nun auch sei, so sind Sie doch sehr zu bedauern, in welches Gefühl sowohl Mrß. Collins als auch Lady Katharine und ihre Tochter einstimmen, denen ich diese unglückliche Geschichte mitgetheilt. Sie kommen mit mir in der Ansicht überein, daß dieser falsche Schritt der einen Tochter, dem künftigen Glück der andern sehr nachtheilig sein wird: denn wer, so ließ sich Lady Katharine herab zu bemerken, wer wird gesonnen sein, sich mit dieser Familie näher zu verbinden? Und diese Bemerkung veranlaßte auch bei mir die Betrachtung, wie gut es sei, daß eine gewisse Verbindung im vorigen November nicht zu Stande gekommen, indem ich dadurch nothwendig in Ihr Unglück und in Ihre Schande verwickelt worden wäre. Lassen Sie sich rathen, verehrter Freund! und trösten sich, so gut Sie es vermögen; und im Betreff Ihres unwürdigen Kindes kann man Ihnen nur vorschlagen, demselben Ihre väterliche Liebe für immer zu entziehen, und es seinem eignen Schicksal zu überlassen. Unverändert Ihr gehorsamster Diener und Vetter
Collins.«
Gardiner schrieb nicht eher wieder, bis er Antwort von Oberst Forster erhalten hatte, und diese lautete nicht sehr erfreulich. Niemand wußte von einer Verwandtschaft oder genauen Bekanntschaft Wickham's in der Stadt. Früher hatte er zwar in einem größern Cirkel gelebt, seit er aber in das Landwehrregiment getreten, allen Verkehr mit seinen ehemaligen Bekannten aufgegeben, weshalb auch keiner seiner jetzigen Kameraden nähere Auskunft über ihn und seinen Aufenthalt zu geben vermöchte. Dazu war der trostlose Zustand seiner Finanzen ein zweiter dringender Grund, sich geheim zu halten, da man so eben erfahren hatte, daß er bedeutende Spielschulden in Brighton hinterlassen. Oberst Forster glaubte, daß wenigstens tausend Pfund erforderlich waren, seine Schulden daselbst zu decken. Außerdem hatte er deren auch noch in der Stadt. Herr Gardiner hielt sich nicht berechtigt, der Familie in Longbourn diese Nachrichten vorzuenthalten. Johanne hörte sie mit Entsetzen. »Ein Spieler!« rief sie. »Das ist ein unerwarteter Schlag – das hätte ich nicht erwartet!«
Der Brief schloß mit der Versicherung, daß sie ihren Vater den folgenden Tag in Longbourn erwarten konnten. Niedergeschlagen durch die fruchtlosen Versuche, die Flüchtlinge zu finden, hatte er endlich der Bitten seines Schwagers nachgegeben und versprochen, zu seiner Familie zurückzukehren, während Herr Gardiner die nöthigen Schritte fortzusetzen gelobt. – Als Mrß. Bennet diese Nachricht erfuhr, äußerte sie hierüber nicht die Zufriedenheit, die ihre Kinder, in Folge ihrer früher ausgesprochenen Angst um das Leben des Vaters, erwartet hatten.
»Was! er kehrt zurück ohne unsre arme Lydia!« rief sie voll Entsetzen. »Wer soll sich denn mit Wickham duelliren und ihn dazu bringen, sie zu heirathen, wenn er London verläßt?«
Da Mr. Gardiner nun auch zurückzukehren wünschte, reiste sie den folgenden Morgen mit dem Wagen, welcher Herrn Bennet auf sein Verlangen entgegengeschickt wurde, bis auf die nächste Station und von dort mit seinem Miethwagen nach London. Ueber Elisen und ihren Freund in Derbyshire hatte sie keine nähere Aufklärung erlangt; sein Name war nie ohne Aufforderung von ihr ausgesprochen worden, und der Tante geheime Hoffnung, daß ein Brief von ihm bald nachfolgen und ihnen allen Aufschluß geben würde, unerfüllt geblieben. Elisabeth hatte seit ihrer Zurückkunft keine Zeile aus Pemberley erhalten. Der gegenwärtige peinliche Zustand der Familie war eine hinreichende Entschuldigung ihrer Niedergeschlagenheit; und so ließ sich auch hieraus keine Vermuthung ziehen, obgleich Elisabeth, seit Kurzem über den Zustand ihres Herzens vollkommen aufgeklärt, wohl fühlte, daß sie Lydiens Schande leichter ertragen hätte, wenn Darcy nicht darum gewußt. Der Gedanke seines Mitwissens verscheuchte manchmal den Schlaf von ihren Augen.
Herr Bennet langte an, und seine Züge verriethen die gewöhnliche philosophische Ruhe. Er sprach nicht mehr, als er sonst zu sprechen pflegte, erwähnte der Veranlassung seiner Reise mit keinem Wort, und so verstrichen mehrere Stunden, ehe seine Töchter so viel Muth Verlangt hatten, ihn darum zu befragen. Erst am Abend, als er zum Thee wieder zu ihnen kam, wagte Elisabeth, ihr Bedauern über alles, was er während ihrer Abwesenheit gelitten, auszusprechen.
»Sag nichts davon,« entgegnete er kalt. »Ich litt nur, was ich selbst verschuldete. Mich selbst habe ich deshalb anzuklagen, und das ist geschehen.«
»Sie müssen nicht zu streng gegen sich sein, lieber Vater!« sagte Elisabeth.
»Du brauchst mich nicht davor zu warnen; die menschliche Natur ist ohnehin nur zu geneigt sich zu entschuldigen. Nein, Lizzy! laß mich ein Mal im Leben fühlen, wie sehr ich zu tadeln gewesen bin. Ich fürchte nicht von diesem Gefühl überwältigt zu werden; es wird bald genug vorübergehen.«
»Haben Sie einige Vermuthung, daß sie in London sind?«
»Ja; wo sollten sie sich sonst so verborgen aufhalten können?«
»Und Lydia hatte immer den Wunsch, ein Mal nach London zu kommen,« sagte Kitty.
»So wird sie sich jetzt glücklich preisen,« entgegnete ihr Vater trocken; »besonders da einige Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, daß ihr dortiger Aufenthalt sich in die Länge ziehen wird.«
Nach einer kleinen Pause fuhr er zu Elisen gewendet fort: »Lizzy! ich zürne Dir nicht, daß Du die Begebenheiten so richtig vorausgesagt hast. Dein Rath, den Du mir im vergangenen May gabst, zeugt von Welt- und Menschenkenntniß.«
Johannens Eintritt unterbrach das Gespräch; sie kam, den Thee für ihre Mutter zu holen.
»Dieses Krankthun,« rief er, »giebt doch dem Unglück einen gewissen Anstrich von Eleganz und Wichtigkeit. Morgen werde ich es eben so machen; ich will mit Pudermantel und Nachtmütze in meinem Studierzimmer sitzen bleiben, und so viel Umstände und Unruhe machen, als ich nur immer kann oder, vielleicht würde es gerathen sein, damit zu warten, bis Kitty davon gelaufen ist.«
»Ich werde nie davon laufen, Papa,« sagte Kitty verdrießlich; ich würde mich besser aufführen wie Lydia, wenn ich jemals nach Brighton gehen sollte.«
»Du nach Brighton! Nicht um 50 Pfund möchte ich Dich nur in die Nähe von Brighton lassen. Nein, Kitty! ich habe jetzt wenigstens gelernt, vorsichtiger zu sein, und Du sollst die Folgen davon empfinden. Kein Officier darf je wieder mein Haus betreten, nicht ein Mal durch's Dorf gehen. Bälle sind in Zukunft ganz verpönt, oder Du mußt versprechen, Deinen ältern Schwestern nicht von der Seite zu weichen. Und ausgehen darfst Du nicht eher wieder, bis ich mich selbst davon überzeugt, daß Du jeden Tag zehn Minuten vernünftig gewesen bist.«
Kitty, die alle diese Drohungen für baaren Ernst nahm, fing an zu weinen.
»Nun, nun!« sagte er, »beunruhige Dich nur nicht allzu sehr. Wenn Du Dich zehn Jahre untadelhaft betragen hast, ein braves Mädchen gewesen bist, verspreche ich auch, Dich zu einer Revüe Hier nicht in der musiktheatralischen Bedeutung, sondern in der militärischen: Militärparade (auch Heerschau oder Aufmarsch). mitzunehmen.«