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Die erste Woche nach ihrer Zurückkunft war auf diese Weise vergangen. Das Regiment hatte nochmals Ordre bekommen, Meryton binnen 8 Tagen zu verlassen, und alle jungen Damen in der ganzen Nachbarschaft härmten sich zusehends. Es herrschte eine allgemeine Betrübniß. Nur die beiden ältesten Miß Bennets waren noch im Stande zu essen, zu trinken, zu schlafen, und ihren gewöhnlichen Beschäfftigungen nachzugehen. Dafür wurden sie aber auch oft der Gefühllosigkeit von Kitty und Lydia beschuldigt, deren Jammer keine Gränzen kannte, und die einen solchen Grad von Hartherzigkeit nicht zu fassen vermochten.
»Barmherziger Himmel! Was soll aus uns werden! Was sollen wir beginnen!« riefen sie oft im Uebermaaß ihres Schmerzes. »Lizzy! wie kannst Du nur noch lachen?« – Die zärtliche Mutter theilte ihren Gram; sie gedachte ihrer eignen Jugend und erinnerte sich vor 25 Jahren bei einer ähnlichen Gelegenheit eben so viel gelitten zu haben. »Ich weiß noch ganz genau,« sagte sie, »daß ich zwei Tage geweint habe, als Oberst Millar's Regiment wegging. Ich glaubte, mein Herz würde brechen.«
»Ich bin überzeugt, daß das meinige brechen wird,« sagte Lydia.
»Wenn man nur den Trost hätte, nach Brighton zu gehen,« bemerkte die Mutter.
»Ja, freilich – wenn wir nach Brighton gingen,« seufzte Lydia. »Aber Papa ist so eigensinnig!«
»Das Seebad würde meinen armen Nerven sehr heilsam sein.«
»Und Tante Philips ist überzeugt, daß es mir ebenfalls gut thun würde,« fügte Kitty hinzu.
Solche Klagelieder ertönten jetzt häufig in Longbourn. Elisabeth bemühte sich, die Sache von der lächerlichen Seite zu betrachten; aber das Gefühl der Schaam war überwiegend. Noch nie hatte sie die Richtigkeit von Darcy's Einwendungen in diesem Grade erkannt, sich noch nie so geneigt gefühlt, ihm Verzeihung wegen seiner Einmischung in Bingley's Angelegenheiten zu gewähren.
Die dunklen Wolken, die sich über Lydiens sonst so heitern Horizont gezogen hatten, sollten nicht von langer Dauer sein. Sie erhielt eine Einladung von Mrß. Forster, der Frau des Obersten des Regiments, sie nach Brighton zu begleiten. Diese unschätzbare Freundin war eine ganz junge, erst kürzlich verheirathete Frau. Eine gewisse Aehnlichkeit der Gesinnungen und des Temperaments hatte Beide zu einander geführt, und sie nach einer dreimonatlichen Bekanntschaft zu unzertrennlichen Gefährtinnen gemacht.
Lydiens Entzücken, ihr Lobpreisen der unvergleichlichen Freundin, Mrß. Bennets Freude und Kitty's Verdruß waren nicht zu beschreiben. Ohne Rücksicht auf die Gefühle ihrer Schwester stürmte sie mit lauten Ausbrüchen der Wonne durch das ganze Haus, alle Glieder desselben zu Glückwünschen auffordernd, heftiger lachend und dümmer schwatzend wie je; während die trostlose Kitty, still brütend über ihr trauriges Geschick, bei ihren Schwestern saß, und nur dann und wann ihren Unmuth durch Worte verrieth.
»Ich sehe doch nicht ein, weshalb Mrß. Forster mich nicht eben so gut wie Lydien zum Mitreisen aufgefordert hat,« klagte sie, »obgleich ich nicht ihre vertraute Freundin bin. Ich habe gerade eben so viel Recht dazu, wie sie, und wohl noch mehr, da ich zwei Jahr älter bin.«
Vergebens versuchte Elisabeth, sie vernünftig, und Johanne, sie ergeben in ihr Schicksal zu machen. Sie wollte und konnte sich nicht fassen. Elisabeth betrachtete diese Einladung mit ganz andern Blicken als Lydia und ihre thörichte Mutter. Sie erkannte sie für das Grab des letzten Restes ihrer Vernunft, für das sicherte Mittel, noch leichtsinniger und kopfloser zu werden, als sie bis jetzt gewesen; und so schwer ihr auch der Schritt wurde, konnte sie doch nicht umhin, ihrem Vater ins Geheim den Rath zu geben, sie nicht gehen zu lassen. Sie stellte ihm vor; wie unbesonnen und unschicklich Lydia sich schon im gewöhnlichen Leben benähme, welchen geringen Vortheil ihr die Freundschaft einer solchen Frau wie Mrß. Forster gewähren könne, welchen Versuchungen sie unter dieser Leitung an einem Ort wie Brighton ausgesetzt sein würde. Er hörte ihr aufmerksam zu und erwiederte dann:
»Lydia wird nicht eher ruhen, bis sie sich an diesem oder jenem öffentlichen Ort gehörig blamirt hat und so kann es nirgends anders mit weniger Kosten und Unbequemlichkeit für ihre Familie geschehen, als gerade dort.«
»Wenn Sie wüßten,« sagte Elisabeth, »welchen Nachtheil aus diesem öffentlichen Darlegen eines so leichtsinnigen Betragens, wie es von Lydien zu erwarten steht, für uns Alle entstehen kann, ja schon entstanden ist; so wurden Sie gewiß anders verfahren.«
»Schon entstanden ist!« wiederholte Herr Bennet. »Was, hat sie vielleicht einige Eurer Liebhaber dadurch verscheucht? Arme, kleine Lydia! Doch sei nur nicht so niedergeschlagen. Solche zarte Jünglinge, die nicht ein Bischen Absurdität vertragen können, sind des Bedauerns nicht werth. Komm, laß mich die Liste der bemitleidenswerthen Knaben sehen, die sich durch Lydiens Thorheit haben abschrecken lassen.«
»Sie irren, lieber Vater. Ich habe keine solchen Klagen zu führen. Ich spreche nicht von einzelnen bestimmten, sondern von den allgemeinen Uebeln, die daraus entstehen. Unser Ansehen, unsre Würde in der Welt muß durch Lydiens ungezügelte Ausgelassenheit, durch ihr Selbstvertrauen und durch ihre gänzliche Nichtachtung alles Anstandes, leiden. Verzeihen Sie, daß ich so rücksichtslos spreche; aber, lieber Vater! wenn Sie sich nicht die Mühe nehmen wollen, ihrem Leichtsinn Gränzen zu setzen, und ihr begreiflich zu machen, daß ihr gegenwärtiges Streben sie nicht zum Zweck des Lebens führt, wird bald keine Besserung mehr von ihr zu erwarten sein. Nur noch eine kurze Zeit auf diesem Wege fortgewandelt und ihr Charakter hat sich im 16ten Jahre vollkommen ausgebildet; ausgebildet zur gewöhnlichsten Coquetterie, die ohne irgend einen andern Reiz als Jugend und ein leidliches Aeußeres sehr bald ihrer Hülfsmittel beraubt sein wird, um dann, bei einer unbezähmbaren Sucht zu gefallen und Bewundrung zu erregen, zum Gegenstand des Gespötts und der Verachtung der Welt zu werden. Dieselbe Gefahr droht unsrer Kitty, welche Lydien in allem unbedingt folgt. Eitel, unwissend, träge und ganz ohne alle Aufsicht! O, geliebter Vater! glauben Sie nicht, daß sie überall, und mit Recht getadelt und verachtet werden, und daß ihre Schwestern auch mit darunter leiden?«
Bennet sah, wie sehr ihr die Sache am Herzen lag, und zärtlich ihre Hand ergreifend, sagte er:
»Beunruhige Dich hierüber nicht, meine Liebe. Wer Dich und Johannen kennt, wird Euch achten und ehren; und es kann Euch nicht zum Vorwurf gemacht werden, daß Ihr ein Paar, nein, drei alberne Schwestern habt. Da nun aber kein Frieden in Longbourn zu erwarten ist, wenn Lydia nicht nach Brighton geht, so mag sie in Gottes Namen hinziehen. Oberst Forster ist ein vernünftiger Mann und wird über sie wachen; auch ist sie glücklicher Weise zu arm, um die Beute eines Glücksritters zu werden. In Brighton wird sie als gewöhnliche Coquette von geringerer Bedeutung sein als hier, indem die Officiere dort würdigere Gegenstände ihrer Bewundrung finden. Laß uns daher hoffen, daß dieser erste Ausflug sie von ihrer eignen Unbedeutendheit überzeuge. Auf jeden Fall kann sie nicht viele Grade schlimmer werden, ohne uns zu berechtigen, sie für den Rest ihres Lebens einzuschließen.«
Mit dieser Antwort mußte sich Elisabeth beruhigen, obgleich sie ihr den erwarteten Trost keineswegs gewährte. Sie verließ ihren Vater in sehr betrübter Stimmung; doch nicht gewohnt, über unabänderliche Dinge zu grübeln, tröstete sie sich mit dem Bewußtsein, ihre Pflicht gethan zu haben, und überließ die Folgen dieses Schritts ihrem Vater.
Hätten Lydia und Mrß. Bennet den Innhalt dieser Unterhaltung geahnt, würde ihre vereinigte Rednergabe nicht ausgereicht haben, ihren Zorn auszudrücken. Lydiens Fantasie malte sich den Aufenthalt in Brighton mit allem, was irdische Glückseligkeit zu bieten im Stande ist, aus. Sie sah die Straßen des belebten Badeorts mit Officieren angefüllt, sich selbst als Gegenstand der Bewundrung von Hunderten. Sie sah das Lager in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit; lange Reihen glänzender Zelte, in welchen sich alles, was jung und schön, angethan in rothen Uniformen, lustig bewegte; und um den Anblick vollständig zu machen, sah sie sich selbst unter dem reichsten Zelt sitzen, zärtlich tändelnd mit wenigstens sechs Officieren auf einmal. Mit solchen entzückenden Bildern suchte sie die Tage bis zu ihrer Abreise auszufüllen.
Elisabeth rollte Herrn Wickham nun zum letzten Mal sehen. Da sie seit ihrer Zurückkunft schon öfterer mit ihm in Gesellschaft gewesen, war das erste unangenehme Gefühl längst übers wunden, so wie auch ihre frühere Vorliebe gänzlich verschwunden. Sie hatte sogar gelernt, die Sanftmuth, welche sie bei seinem ersten Erscheinen so sehr an ihn gefesselt, für Affektation, und die allgemeine Artigkeit, wodurch er sich bei Jedermann empfahl, für geflissentliches Streben nach Beifall zu erkennen. Sein jetziges Benehmen gegen sie erregte ebenfalls ihr Mißfallen. Es beleidigte ihren Stolz zum zweiten Mal, als Gegenstand einer so frivolen und leichten Galanterie auserkoren zu sein; und während sie dieselbe mit einiger Strenge von sich wies, fühlte sie dennoch den innern Vorwurf, den er ihr durch die Erneuerung seiner Huldigung machte. Sie sah daraus, daß ihre frühere Eitelkeit und die ihm bewiesene Auszeichnung ihn zu dem Glauben berechtigten, daß es, trotz seines Abfalls, nur eines einleitenden Schritts von seiner Seite bedürfe, um das alte Verhältniß wieder herzustellen.
Er war mit einigen andern Officieren den letzten Tag ihres Aufenthaltes in Meryton, nach Longbourn eingeladen; und so sehr er sich auch bemühte, Elisens gute Meinung in dem frühern Grade wieder zu erlangen, wollte es ihm doch nicht gelingen. Ja, sie war so wenig aufgelegt, in guter Stimmung von ihm zu scheiden, daß sie auf seine Fragen, wie sie ihre Zeit in Hunsford zugebracht, beiläufig erwähnte, daß Oberst Fitzwilliam und Herr Darcy drei Wochen in Rosings gewesen, und ihn fragte, ob er mit Ersterm bekannt sei?
Seine Blicke drückten unverkennbar Erstaunen, Unruhe und Mißvergnügen aus; doch reichste ein Augenblick hin, das gewohnte Lächeln auf sein Gesicht zurückzubringen. Er erwiederte mit scheinbarer Fassung, daß er ihn früher öfterer gesehen; und nachdem er die Bemerkung gemacht, daß er ein sehr feiner, gebildeter Mann sei, fragte er, wie er ihr gefallen habe? Ihre Antwort lautete sehr günstig. Mit gleichgültiger Miene fügte er nach einiger Zeit hinzu: »Wie lange waren die Herrn in Rosings?«
»Beinah drei Wochen.«
»Sahen Sie Oberst Fitzwilliam oft?«
»Ja, fast jeden Tag.«
»Sein Wesen ist sehr verschieden von dem seines Vetters.«
»Ja, sehr verschieden. Doch habe ich gefunden, daß Herr Darcy bei näherer Bekanntschaft gewinnt.«
»Wirklich!« rief Wickham mit einem Blick, der ihr nicht entging. »Und darf ich fragen?« – aber sich schnell fassend, fügte er in einem heiterern Ton hinzu – »gewinnt er durch vermehrte Lebensart? hält er es der Mühe werth, seiner gewohnten Weise einige Höflichkeit zuzufügen? denn ich wage nicht zu hoffen,« fuhr er im leisern und ernstern Ton fort, »daß er sich im Wesentlichen, in der Hauptsache gebessert haben sollte.«
»O, nein!« entgegnete Elisabeth. »In der Hauptsache ist er, wie ich glaube, immer noch so, wie er früher war.«
Während sie so sprach, sah Wickham aus, als ob er nicht wisse, ob er sich über ihre Worte freuen, oder betrüben solle. Es lag ein gewisser Ausdruck in ihrem Gesicht, der ihn ganz irre machte, und mit ängstlicher Aufmerksamkeit hörte er ihr zu, als sie hinzufügte:
»Wenn ich behaupte, daß er bei näherer Bekanntschaft gewinnt, will ich damit nicht gesagt haben, daß sein Inneres oder sein Wesen der Verbesserung bedarf; sondern daß man seine Gesinnungen durch öfteres Sehen und Sprechen besser verstehen lernt.«
Wickhams Unruhe drückte sich immer deutlicher in seinen Zügen aus. Mehrere Minuten schwieg er ganz still, dann, nachdem er seine Verlegenheit bemeistert, wandte er sich wieder zu Elisen und sagte im einschmeichelndsten Ton:
»Sie, die meine Empfindungen in Betreff Herrn Darcy's so genau kennen, werden leicht begreifen, wie aufrichtig ich mich freue, daß er jetzt wenigstens so klug ist, den Schein des Rechts zu beobachten. Sein Stolz wird auf diese Weise, wenn auch nicht ihm selbst, doch Andern zum Nutzen gereichen, indem er ihn abhält, sich gegen seine Nebenmenschen auf eine so unverantwortliche Art zu benehmen, wie gegen mich. Ich fürchte nur, daß diese Vorsicht, worauf Sie anspielen, bloß Folge der Gegenwart seiner Tante gewesen ist, auf deren gute Meinung er großen Werth legt. Seine Furcht vor ihr hat, wie ich weiß, alle Mal auf sein Betragen gewirkt, wenn sie zusammen waren; auch mag viel auf Rechnung seines Wunsches, in Beziehung auf die beabsichtigte Verbindung mit Miß von Bourgh geschrieben werden, die ihm außerordentlich am Herzen liegt.«
Elisabeth konnte ein Lächeln bei dieser Bemerkung nicht unterdrücken, doch antwortete sie hierauf nur mit einer leichten Bewegung des Kopfes. Sie sah, daß er gern das alte Capitel seiner Klagen wieder anstimmen wollte, fühlte aber keine Neigung, darauf einzugehen. Der Rest des Abends verging in Bemühungen, den Schein zu beobachten, von seiner Seite den Schein unbefangener Heiterkeit, von der ihrigen, als ob sie in Hunsford nichts Aufklärendes erfahren. Er versuchte nicht wieder, sie auszuzeichnen, und so schieden sie mit gegenseitiger Höflichkeit, beide im Stillen wünschend, sich nie wieder zu begegnen.
Lydia kehrte mit Mrß. Forster nach Meryton zurück, von wo sie den nächsten Morgen sehr früh abreisen wollten. Der Aktus des Scheidens von der Familie war eher lärmend als feierlich zu nennen. Kitty allein vergoß Thränen, doch nicht des Schmerzes, sondern des Unmuths und des Neids. Mrß. Bennet war unerschöpflich in guten Wünschen für das Glück ihrer Tochter, so wie in Ermahnungen, keine Gelegenheit zu versäumen, sich zu amüsiren, welchen Rath zu befolgen Lydia so laut und geräuschvoll versprach, daß sie darüber die ruhigern Abschiedswünsche ihrer ältern Schwestern überhörte.