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In dieser Zeit, in der Tiere über Menschen herrschen und diese, offenbar, um sich bei jenen einzuschmeicheln, sich in Tierschutzvereinen zusammenschließen, hat es vielleicht nur wenig Sinn, von Kindern zu sprechen; besonders von den Kindern der Emigranten. Aber immerhin scheint mir noch eine vage Aussicht vorhanden, daß ein paar Menschen, selbst wenn es ihnen lieber wäre, von Papageien und Schäferhunden zu hören als von Flüchtlingen, noch nicht imstande sind, eine Gleichgültigkeit gegenüber Kindern aufzubringen, die geradezu aus ihren Wiegen vertrieben worden sind wie die Älteren aus den Häusern. Vielleicht ist es nicht ohne Nutzen, einmal zu zeigen, daß eine gewisse Kategorie von Kindern den altbekannten sogenannten »unschuldigen Kinderblick« nicht mehr hat; die Meduse, der sie begegnet sind, hat eben den Ausdruck ihrer Augen verändert.
Ich habe (allzuoft) Gelegenheit, mit Emigrantenkindern zusammenzusein. Manchmal treffe ich sie im Wartezimmer der Polizei-Präfektur, wo sie, die so lange gewandert sind, endlich einmal warten dürfen: auf Anweisungen, Ausweisungen, Zuweisungen, Abweisungen, Rückweisungen. Ich gestehe, daß ich mich gern in derlei Wartezimmern aufhalte. Der Kinder wegen, aber auch des Leides wegen, das sich hier versammelt. Der gehäufte Schmerz erst wird erträglich.
Zuerst, als ich anfing, mich mit dem Leid vertraut zu machen, das die Gastfreundschaft beschert, hatte ich allen Anlaß zu glauben, daß die Kinder nichts oder nur sehr wenig von dem Unglück wissen, das ihren Eltern beschert ist. Und gerade wegen ihrer Unwissenheit liebte und beklagte ich sie alle mehr als ihre Eltern. Man ist leicht geneigt zu glauben, daß ein unwissendes menschliches Wesen, ein Kind mit dem »unschuldigen Kinderblick« eben, mehr leidet als ein Erwachsener, der sieht und weiß. Wie groß aber war mein Erstaunen, als ich die bittere Erfahrung machte, daß die Kinder mehr wußten als ihre Eltern! Und um wieviel stärker wurde da mein Schmerz um sie! Denn – gibt es Schmerzlicheres, als wissende Kinder zu sehen? Sie wissen mehr als ihre Eltern. Sie sehen so scharf und unerbittlich, daß mir vielmehr die Eltern einen unschuldigen Kinderblick zu haben scheinen. Man ermesse daran, in welch einer Zeit wir leben! Die Kinder wissen – und die sie gezeugt haben, scheinen ahnungslos neben ihnen. Ahnungslos, wie sie in ihr fürchterlich von ihnen selbst vorbereitetes Geschick gefallen sind, stehen sie neben ihren wissenden Kindern, deren unerbittliches Auge beinahe nicht mehr die Klage gegen die Vergehungen ihres Erzeugers ausdrückt, sondern bereits die Verzeihung.
Im folgenden gebe ich zum Beweis ein Gespräch wieder, das ich mit dem achtjährigen Sohn eines österreichischen Schusters im Wartezimmer der Polizei-Präfektur führen durfte. Der Vater wurde ins Büro gerufen, um angewiesen, ausgewiesen, eingewiesen oder hergewiesen zu werden. Er bat mich, den Kleinen zu bewachen.
»Kannst du schon Französisch?« fragte ich.
»Bald«, sagte er, »ich bin schon 3 Monate hier.«
»Willst du hierbleiben?«
»Ich weiß nicht. Ich bin zu klein, um zu entscheiden.«
»Warum seid ihr denn weg aus Wien?«
»Wegen der Rassengesetze. Meine Mutter ist Jüdin.«
»Und warum hat sich dein Vater nicht scheiden lassen?«
»Er liebt meine Mutter. Ich auch.« (Lange Pause, dann:)
»So was gibt's!«
»Hast du den Führer gesehen?«
»Ja!«
»Wie gefällt er dir?«
»Sie sind vielleicht ein Spitzel?«
»Nein! Ich bin ja hier mit deinem Vater.«
»Spitzel können alles!«
»Ich bin aber kein Spitzel.«
»Das sagen alle in Wien, sogar in Ottakring, wo wir gewohnt haben.«
»Was willst du machen?«
»Schießen am liebsten.«
»Auf wen?«
»Auf die Schießhunde.«
»Wo findest du sie?«
»Überall! Vielleicht sind Sie auch einer.«
»Möchtest du mit mir in den Zirkus?«
»Nein! Wer denkt jetzt an Zirkus?«
In diesem Augenblick kam der Vater, der Schuster, der – o Wunder! – seine Frau liebte, aus dem Büro des Polizeibeamten. Er hatte nur eine Anweisung bekommen, keine Rückweisung. Er war heiter. Seine Augen hatten den »unschuldigen Kinderblick«, jenen Kinderblick eben, der, sobald er in die Augen von Erwachsenen eintritt, diese zur Torheit nicht nur verpflichtet, sondern auch verdammt.
Er gab mir die Hand und dankte mir dafür, daß ich ihn in die Polizei begleitet hatte. Auf einmal hatte ich die Empfindung, daß ich ihm sagen müsse: »Paß auf! Laß dich von deinem Sohn an der Hand führen!« Aber ich sagte nur zu dem Kleinen: »Lassen Sie Ihren Vater nicht einen Augenblick allein!«
»Ich weiß, ich weiß!« antwortete er. Und er winkte mir zu, klein, schmächtig, ein Bürschchen – und ein Greis.
Eben sehe ich in einigen Zeitungen folgendes Photo: Ein englisches Kind, das angeblich seit zehn Uhr auf Chamberlain und dessen Gattin gewartet hatte, kommt endlich am Nachmittag dazu, dieses Ehepaar zu begrüßen und dem Premierminister seinen Dank im Namen der englischen Kinder für seine Friedensreisen nach Deutschland zu überbringen. Es ist ein reizendes, kleines englisches Mädchen.
Gott bewahre es vor dem Wissen, das den achtjährigen Sohn meines österreichischen Schusters getroffen hat.
Die Zukunft (Paris), 12. 10. 1938