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Volkscafé

Die Häuser sind wie schmutzige Kinder in der Fremde, die sich ihrer schlechten Kleidung schämen und scheu zusammenrücken. Sie wagen sich nicht auf die Hauptstraße, sondern drücken sich in Seitengäßchen. An einem solchen Haus – es steht just an der Ecke – klebt, ein bißchen zu sichtbar vorgeschoben, wie ein Schwalbennest an einem Dachfirst ein kleines Kaffeehaus.

Wenn man hineinkommt, sieht man an den Wänden Kleiderregale mit Nickelhaken. Die Nickelglasur ist abgesprungen, und die Haken haben matte Flecke. Sie sehen aus wie erblindete Augen. An den Haken ringsum hängen Zeitungen und illustrierte Blätter. Zerschlissen und schief, machen sie den Eindruck von totgehängten Lebewesen.

Das Kaffeehaus ist schmal und engbrüstig, und die Tischchen mit den Eisenplatten stehen dicht gedrängt nebeneinander und wirken atembeklemmend. Es ist wie eine Volksversammlung von Kaffeehausmöbeln. Alle drängen sich um den eisernen Ofen in der Ecke, der auf einem steinernen Postament steht, wie um eine Rede zu halten. Sein Mund glüht vor Begeisterung.

Der Kaffeesieder hat gute Verbindungen mit Bahnkohledieben – hat einmal jemand am Nebentisch gesagt. Wie löblich ist das vom Kaffeesieder! ...

In diesem Kaffeehaus bekommt man um billiges Geld, um sehr billiges Geld, einen weißen Kaffee. Er ist nicht genauso weiß wie im Frieden. Er ist überhaupt nicht weiß, sondern braun. Aber er heißt »weißer Kaffee«, und also ist er es auch. Es geht den Dingen genauso wie den Menschen. Sie sind, was sie heißen.

Den Kaffee trinkt man aus dickbäuchigen Porzellantassen, die mit ihren vielen vernarbten Rissen und Sprüngen geradezu aussehen wie Korpsstudentengesichter. Es gibt bestimmte Tassen, über deren Rand hängt eine braune Milchhaut wie ein goldenes Vlies. Aber das sind nur bestimmte Tassen, und die gelangen an bestimmte Gäste.

Denn im Volkscafé verkehren bestimmte und unbestimmte Gäste. Es ist wie mit den Artikeln in der deutschen Grammatik. Die bestimmten haben vor den unbestimmten außer den gewissen Tassen noch andere Bezüge. Vor allem haben sie Namen, die bestimmten. Der eine ist der Herr Franz, der andere der »Sepp«, der dritte der Herr Wawlicka. Jeder hat einen Namen, und der Kaffeesieder sagt: Guten Morgen, Herr Franz! Oder: Servas, Pepi! Oder: Ergebenster habe die Ehre, guten Morgen zu wünschen, Herr Wawlicka! Denn der Herr Wawlicka ist, wie schon sein Name sagt, Schuldiener.

Interessanter aber sind die unbestimmten Gäste. Denen sagt der Kaffeesieder nichts. Höchstens, daß er ihnen herabfallend zunickt. Worauf die unbestimmten, die zum Unterschied von den bestimmten etwas weiter entfernt vom Ofen sitzen, im Chorus: Guten Morgen, Herr Hassenberger! dröhnen. Denn unbestimmte Menschen sind gewöhnlich demütig und für ein Kopfnicken dankbar.

Ich muß schon sagen, mich interessieren die Unbestimmten mehr. Sie sind interessant wie alles, was noch nicht entdeckt ist. Sie haben keine Bezeichnung, und ich kann mir vorstellen, wie sie heißen: Herr Taglöhner, Herr Pechvogel, Herr Arbeitslos, Herr Schwindsüchtig. Solange ich sie nicht kenne, heißen die Menschen so, wie sie sind.

Ich weiß, daß jener Mann dort, dessen langer, dünner Hals in einem weiten schmutzigen Hemdkragen herumstochert wie ein Federhalter in einem weiten Tintenfaß und vergeblich nach einem Halt sucht, im »Logierhaus« genächtigt hat und nun auf dem Weg ist in die Schulerstraße, wo der »Kleine Anzeiger« offene Stellen zu vergeben hat. Ich weiß genau, daß er ein schmutziges Kuvert aus der Tasche zieht und auf der Rückseite mit einem lächerlich schlecht gespitzten, will sagen: gestumpften Bleistift die Adressen vermerkt. Er schreibt eckig, unbeholfene, gelähmte Buchstaben und drückt dabei das unterste Glied des rechten Zeigefingers so fest auf den Bleistift, daß sein Nagel ganz weiß wird. Dann geht er von Stelle zu Stelle, von einem Bezirk in den anderen, und überall ist schon jemand dagewesen. Der Mann heißt sicher »Pechvogel«.

Und so hat jeder von den »Unbestimmten« eine interessante Geschichte. Und alle Geschichten sind mehr oder weniger traurig.

Außer mir weiß noch jemand im Kaffeehaus alle Geschichten: Das ist nämlich der Pudel Lux, der als Kassier im Volkscafé mit Kost und Quartier engagiert ist und den ganzen Tag zwischen Schnapsgläschen und Saccharin und Backwerken auf dem Kassatisch sitzt.

Der Pudel ist ein Philosoph und ein großer Menschenkenner. Wenn jemand von den »Unbestimmten« sich dem Kassatisch nähert, hebt Lux das rechte Augenlid ein wenig. Dann läßt er es wieder zuklappen, oder er stellt sich plötzlich auf alle vier Beine und beginnt zu schnuppern. Lux ist ein sehr gescheiter Mensch.

Die junge Kellnerin, die Resi, die eine große schwarzlederne Tasche an der Hüfte hat, kann sich auf ihn verlassen. Auch die Resi teilt die Gäste in bestimmte und unbestimmte. Die Unbestimmten müssen sofort den »Weißen« bezahlen. Die Bestimmten rufen selbst: zahlen! und geben ein Trinkgeld. Das größte Trinkgeld gibt Herr Wawlicka, der Schuldiener. Da kam eines Tages einer, der gab ein noch größeres Trinkgeld. Er trug eine lederne Aktentasche und einen Regenschirm. Sein Kragen war nicht sehr blendend, aber immerhin nicht älter als zwei Tage. Und sein Hut konnte ganz gut als Schlapphut gelten.

Im übrigen war er noch jung und hatte ein blondes Schnurrbärtchen. Und seine Hose war gebügelt. Nur die Schnürschuhe waren geflickt. Der kam täglich und gehörte vorderhand zu den »Unbestimmten«: Der Kaffeesieder aber behandelte ihn zuvorkommend, und da er den Namen nicht wußte, verbeugte er sich extra und tief.

Der junge Mann sagte freundlich: guten Morgen!

Eines Tages, es war der Erste, ging der neue Unbestimmte zum Kassatisch, um sich eine Bäckerei zu holen. Lux zog ein Augenlid auf, erkannte in dem Unbestimmten einen Gymnasialprofessor und ließ es sofort wieder zuklappen.

Seitdem sagte der Kaffeesieder: Aller ergebenster Diener, ich habe die Ehre, guten Morgen gewünscht zu haben! Lux muß es ihm mitgeteilt haben, daß der Neue ein Gymnasiallehrer ist. Der Herr Professor bekommt von Resi, der Kellnerin, Backwerk auf den Tisch, er sitzt in der nächsten Nähe des Ofens und zahlt später als alle andern.

Herr Wawlicka, der Schuldiener, hat ein Gefühl wie einem etwas besser gestellten Kollegen gegenüber.

Die Resi bemüht sich sehr, nett zu erscheinen. Vorgestern und gestern hatte sie statt der großen, schwarzen eine kleine, sehr zierliche Spitzenschürze um.

Auch der Herr Professor trägt eine neue Krawatte. Ich weiß genau, wie die Geschichte sein wird. Im April, wenn der Holler am Gürtel blühen wird, wird der Herr Professor mit Resi sitzen. Er wird ihr aus Rainer Maria Rilke vorlesen. »Die Geschichten vom lieben Gott«. Und vielleicht eigene Gedichte. Der Mann sieht so ganz danach aus, als würde er Verse schreiben.

Und die Resi wird eines Tages einen blonden Buben kriegen. Und dann wird es vielleicht aus sein?

Ich fragte Lux, ob ich recht hätte mit meiner Geschichte. »Ja, c'est la vie!« blinzelte der kluge Pudel. –

Der Neue Tag, 25. 12. 1919

 


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