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Wer hätte geahnt, daß man in dieser gemütlichen Stadt über Leichen gehen könne? Kaum fünfzig Zentimeter unter dem Holzpflaster liegen Kiefer, Schädeldecken, Wirbelknochen. Oben ist ein Standplatz für Autos und Einspänner. Fünfzig Zentimeter darunter modern die Gebeine der Ahnen, oben klingt das hochdeutsch-kultivierte Duliöh der Frequentanten des »Nachtfalters«. Sie wissen nicht, daß ihr Gesang über einen gepflasterten Friedhof weht ...
Die sonderbarsten Dinge geschehen in dieser Stadt: Man reißt ein Pflaster auf und feiert ein Wiedersehen mit seinen Ahnen. Ein paar vergrabene Pfund Gold hätten uns wahrlich mehr genützt. So haben wir Gelegenheit, unser historisches, paläontologisches, anatomisches Wissen zu bereichern. Kein Wiener läßt sich diese Gelegenheit entgehen. Sie kommen in Scharen: Fiakerkutscher, Autotaxichauffeure, Hotelportiers, Herren mit Privatgelehrtenhabitus und Schulkinder. Ein Herr mit Schlapphut und einer überdimensionalen Botanisiertrommel klaubt im Schweiße seines Angesichts die Zähne seines Urgroßvaters zusammen und hält hierauf, von der Schar begeisterter Zuseher umdrängt, einen schon aber sehr freien Vortrag über Vindobona, die römische Gründung. Schon in den Römerzeiten sei hier ein Friedhof gewesen. Schauer rieselt durchs Gebein: Wie, wenn jener Unterkiefer gar nicht der des Schwiegervaters meiner Urgroßmutter ist, sondern einem biederen römischen Legionssoldaten gehört?
Die Pflasterer allein haben nicht die geringste Pietät gegenüber diesen wertvollen Funden. Was wollen diese Knochen hier? Sie stören nur. Überreste eines vergangenen Geschlechts, was hindert ihr da magistratlich anbefohlenen Fortschritt der Zivilisation? Wozu die Mahnung an eine alte Vergangenheit, da Wien im Begriffe ist, einer neuen anheimzufallen? ...
Oder ist es eine andere Mahnung? Mir scheint: Da die Lebenden sterben, erwachen die Toten. Bei der Belagerung Wiens durch die Türken – erzählt ein Herr, der es wissen muß – hätte man keine Zeit gehabt, die Leichen vorschriftsmäßig zu begraben, sondern hätte sie nur verscharrt. Das also wären die Gebeine jener Kämpfer. Bei der Veranstaltung einer wienerischen Kulturtat melden sich die alten Verteidiger der Stadt. Man sollte die Gebeine fein fürsorglich zusammentragen und ein Mausoleum errichten.
Jedenfalls kann jeder, der sich die Mühe nimmt, in Alt-Wiener Chroniken nachzulesen, erfahren, daß der Wiener »Stefans-Freydhoff« noch vor 100 Jahren bestanden hat. Sooft der Stephansplatz eine Umpflasterung erlebte, wurden Knochen gefunden.
Josephus
Der Neue Tag, 31. 7. 1919