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Die Frühstückssuppe

Der Wintermorgen blinzelt kurzsichtig durch dünne Wolkenbrillen auf Schottergeröll und schmutzige Erdschollen. Sogenannte Gebrauchsgegenstände liegen »am Spitz«. Eine Blechschüssel mit einer offenen Rißwunde, wie von einer Granate zerfetzt. Ein weißer Henkel aus Porzellan zwischen rotbraunem Blättergemisch, gekrümmt wie ein poliertes Fragezeichen.

Mit einem Zipfel zwischen Wand und Deckel einer rostflecksommersprossigen Konservenbüchse eingeklemmt, weht der Leitartikel der vorigen Sonntagsnummer im Morgenwinde.

Es ist eine Fragmentsammlung zerschlissener Häuslichkeit, so ein schmutziger Patzen Wiese. Ein Pinselklecks auf der Palette des lieben Gottes.

Ein Wägelchen knirscht über dem Schotter. Zwei kleine galizische Ponys voran üben »Kopfnicken«!

Von dem Gefährt steigt Dampf in kleinen, zarten Säulchen empor.

Das ist die Fahrküche mit der Frühstückssuppe. Das neueste Kapitel von »Wien im Elend«.

»Am Spitz« in der Goldschlagstraße macht die Fahrküche halt. Gott- und staatsamtgewollter Rahmen für die Frühstückssuppe.

Die Fahrküche ist eine militärische. Vielleicht aus der Sachdemobilisierungsanstalt. Sie macht den behäbig-brummigen Eindruck einer Längerdienenden.

Drei Volkswehrmänner hantieren an den Kesseln herum.

Der eine hat einen Schöpflöffel aus Blech. Wenn er ihn in den Schlund des Kessels hinabtaucht, entsteht drinnen ein geheimnisvolles Gezisch. Es ist, wie wenn die Moleküle der Suppe anfangen würden zu schwatzen.

Wenn der Schöpflöffel an die Oberfläche kommt, sieht man eine gold-glühende Flüssigkeit, von Dämpfen umwallt wie im » Rheingold«. Auf dem Grunde des Schöpflöffels ruht ein Körper in unleugbarem Aggregatzustand. Offenbar ein Riff.

Während die Flüssigkeit in das Reindl der Frau Dworzak hinüberrinnt, offenbart sich das Riff als Kartoffel, Möhre oder so.

Um vierzig Heller kann man das »Rheingold« genießen.

 

Die Frühstückssuppe hat sich noch nicht eingelebt. Von Zeit zu Zeit kommt eine Frau mit einem Napf. Ein Schulmädchen mit einer Menageschale. Ein Arbeiter mit einem Topf. Der Volkswehrmann bläst vor Kälte einen tonlosen, unhörbaren Militärmarsch in die roten Fäuste und schlägt den Takt mit den Füßen dazu.

Die Ponys stehen geduldig wie angestellte Wiener. Manchmal hebt eines den Huf und klopft an die Deichsel. Nur um die beruhigende Gewißheit zu erlangen, daß es immer noch angespannt ist.

Die Suppe ist heiß. Ihre Hitze stumpft die Geschmacksnerven ab, und man braucht sie nicht zu schmecken. Sie rinnt, eine flüssige Wohltat, wie ein kleiner Golfstrom durch den morgenkalten Körper.

Morgen, übermorgen, vielleicht in einer Woche ist sie eingelebt, anerkannt, heimisch, die Frühstückssuppe.

Sie wird die allmorgendliche Ausflüssigkeit der volksfreundlichen Gesinnung im Staatsamt für Ernährungswesen sein.

Unter Umständen wird eine schmackhafte Brühe aus den sonderbarsten Elementen: aus Anspruchslosigkeit, gutem Willen und Zubußen.

Josephus

Der Neue Tag, 10. 12. 1919

 


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