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Aus dieser Stadt gibt es nichts zu berichten. In dieser Stadt geschieht nichts mehr. Es ist alles schon geschehn. Es ist eine Stadt der großen Ereignislosigkeit. In den Straßen schläft die endgültige Ruhe, aus der nichts mehr geboren werden kann. Es ist nicht die heitere Stille eines sommerlichen Kirchhofs. Es ist die wuchtende Schweigsamkeit aufgedeckter Katakomben: die Stille des Steins, der toter ist als Stein: verstorbener Stein.
Drei Tage lebe ich in Vienne, einer der ältesten, vielleicht der ältesten Stadt Frankreichs. Ich warte nicht mehr auf Ereignisse. Mir ist, als könnte in der ganzen großen Welt nichts mehr passieren. So überzeugend ist ein Tod, mit dem man sich längst abgefunden hat: ein historischer Tod; mit Sarkophagen, die sich längst geschlossen haben: ein großer Untergang, den man schon vergessen hat.
Vienne hat 24 887 Einwohner. Aber unter ihnen sind vielleicht tausend jung. Zweitausend sind arbeitende Männer und Frauen, die man nicht sieht. Der Rest besteht aus Kindern und Greisen. Wenn die Kinder alt sind, daß sie die Stadt verlassen, liegen die Greise auf den Totenbetten. Dann gibt es keine Menschen mehr in Vienne. Welch ein Wunder, daß es längst nicht mehr so ist! Vielleicht kommen diejenigen, die in Vienne geboren sind, wieder zurück, wenn sie den Tod nahen fühlen. Denn der Tod ruft den Tod herbei, das Gestorbene lockt die Sterbenden – und es gibt eine Vorfreude der endlichen Seligkeit.
Ich höre seit drei Tagen kein Lachen. Ich sehe kein Antlitz, das Sorgen von heute und morgen und Freuden von heute und morgen verraten könnte. Ich sehe nicht den Schmerz eines Hungrigen. Ich sehe nicht die Bewegung eines Geschäftigen. Ich höre keinen Gesang und keine Musik. Nur Glocken schlagen von Türmen aus alter Gewohnheit, nicht um die Zeit zu künden. Die Zeiger der Uhren drehn sich ohne Zweck. Diese Stadt rechnet nach Jahrhunderten, nicht nach Stunden. Sie müßte Uhren von jener Beschaffenheit haben, wie es sie vielleicht im Jenseits gibt.
Ich habe noch keinen Hund bellen hören. Es gibt hier Hunde. Sie liegen in der Mitte der kleinen Gassen und schlafen. Nichts kann sie wecken. Die Katzen hocken an den Schwellen und in den Fenstern und sind von einer unendlichen Weisheit. Die Türen aller Häuser sind offen. Alle Fenster sind offen. Es weht kein Wind, der den Scheiben oder den Menschen gefährlich werden könnte. Und gäbe es einen Wind, weder die Gegenstände noch die Menschen würden ihn fühlen. Am Abend zwitschern zaghaft ein paar Vögel. Sie machen immer wieder einen Versuch. Man hört sie nicht! Sie verstummen und fliegen fort.
Die alten Frauen, von den Katzen genährt und erhalten, sind taub und so schwachsichtig, daß sie geradeaus in die Sonne sehen können wie in eine kleine Glühbirne. Und die Sonne ist hier stark, eine zehnfach leuchtende Sonne. Auf dünnen Schnüren hängt trocknende Wäsche, die kein Luftzug bewegt. Es ist ein Rätsel, wer sie gewaschen hat. Ich traue keiner dieser Frauen die Kraft zu, Hemden zu waschen. Mir scheint, die Hemden hängen da seit undenklichen Zeiten.
Die Wohnungen sind in den dicken Festungsmauern wie offene Safes in den Kellern großer Banken. Die Menschen liegen drin wie Gegenstände ohne Wert, die man nicht mehr verschließt. Ich sehe durch die Fenster in die Stuben. Da sitzt ein lahmer Mann unbeweglich am Tisch vor einer Schüssel, die er nicht anrührt. Seine Augen sind aus grünem Glas und ohne Blick, sein Antlitz ist wächsern, sein gelber Bart aus Flachs. Vielleicht hat er nur Kopf und Hände wie die Puppen im Panoptikum – und wenn man ihn auszöge, würde man sehen, daß sein Inneres aus Sägemehl besteht.
Es gibt einen Schutzmann, meinen Konkurrenten. Nur wir beide sind lebendig. Wir kennen einander, wir hören unsere Schritte, welche die einzigen sind, die ein Echo gebären. Am Abend aber besteigt der Schutzmann ein Rad und gleitet auf sanften Gummireifen durch die Welt, um die Ruhe nicht zu stören. Dann schäme ich mich, allein einen blasphemischen Lärm zu machen – als ginge ich auf hallenden Sohlen durch eine Kirche voll Betender.
Dennoch hört mich niemand. Wünsche ich einer der alten Frauen einen guten Abend, sieht sie mich an wie einen, der die dümmsten und überflüssigsten Dinge macht. Wie kann ihr Abend gut oder schlecht sein? Um sie ist immer Abend. In der Nacht brennen die kleinen Lichter in allen Stuben, in jeder Stube nur ein gelbes Licht, nicht um Helligkeit zu verbreiten, sondern um die Schatten aus den Möbeln hervorzulocken.
Die alten Frauen beten manchmal in der Kathedrale. Sie stammt aus dem 11. Jahrhundert. Die alten Frauen sitzen unbeweglich, auf Stühlen aus geflochtenem Stroh, mit fortwährend zitternden Lippen, die nicht von Worten bewegt werden, sondern von einem fremden, leisen Wind. Die Kirche ist langgestreckt und schmal, und ihre Decke ist ein dunkelblauer Himmel mit silbernen Sternen. An ihrem Portal sind zehn Reihen von Kronen aus Stein angebracht. In den Kronen wohnen silbergraue Tauben, die stillen, christlichen Vögel.
Zwei Gassen weiter ist der römische Tempel des Augustus, flach, weit, offen, mit korinthischen Säulen, er läßt den Wind einströmen und die Sonne, den Regen und die Zeit: Es ist ein heidnischer Tempel. Er war im Lauf der Zeiten Tribunal, Museum, Bibliothek. Heute ist er von einem Gitter umgeben. Man kann ihn nicht betreten wie noch zur Zeit der Burgunderkönige, deren Schloß gegenüberliegt und deren Kinder noch im Tempel gespielt haben. Es ist eine enge Burg, mit einem winzigen Türmchen, mit schmalen Erkern. Ich verstehe nicht, wie man, das Beispiel römischer Freiheit vor sich, im Anblick korinthischer Säulen eines Tempels, der von drei Seiten offen ist, sich mit einer engen und schiefen Burg zufriedengeben konnte. Heute ist diese Burg, was sie immer war: ein Gefängnis. Aber in Vienne gibt es keine Verbrecher und nicht einmal Trunkenbolde. Es gibt nur einen Gefängniswärter, der sein eigener Gefangener ist. Er führt eine sinnlose Existenz – wie ein Schlüssel, der zu keinem Schloß paßt, oder wie eine Tür ohne Haus. Er wandelt durch die Gänge und gibt acht, daß er nicht entfliehe.
In einem Hof, der einmal ein Forum Romanum war, leben zwei greise Frauen. Sie kommen niemals aus diesem Hof. Sie kümmern sich nicht darum, ob ihn jemand betritt. Sie sitzen vor den Türen und nicken einander zu und verlieren manchmal ein leises Wort, das in den Hof hinunterfällt wie ein kleiner Kieselstein in einen tiefen Brunnen: Man hört keinen Laut.
Grün wuchert zwischen den Fugen der Steine. Es sind dieselben Steine, die auf Befehl Julius Cäsars zu Festungsmauern aufgeschichtet wurden. Sie sind tot wie Julius Cäsar. Es ist nicht wahr, daß Steine reden. Steine schweigen.
Frankfurter Zeitung, 15. 9. 1925