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Alte und neue Berufe

Auf dem Umweg über die Berufe des Heldentums und des Durchhaltens einer großen Zeit sind manche Überlebende bei der Notwendigkeit angelangt, ihren früheren Beruf aufzugeben und einen neuen, den Um-, Zu-, Miß- und Übelständen der Gegenwart angepaßten zu ergreifen. Die Folge dessen ist, daß die neuen, in den Straßen ausgeübten und also im wahrsten Sinne des Wortes »freien« Berufe das durch Licht- und Hoffnungslosigkeit stark verdüsterte Straßenbild Wiens um ein Beträchtliches verändert haben. Altvertraute, erbeingesessene und -gestandene Straßentypen, Repräsentanten einer gemütlichen Vorvergangenheit, personifizierte Jugenderinnerungen verschwinden vom arg vernachlässigten Pflaster wie das »Gott erhalte« aus dem Lesebuch und beweisen den Radikalismus der deutschösterreichischen Revolution gründlicher, als es sämtliche Übersiedlungen überflüssig gewordener Mit- und Habsbürger in das bessere Diesseits eines blockadefreien Auslandes vermochten.

Manche Veränderungen im Wiener Berufsleben vollzogen sich langsam, kamen weniger plötzlich und überraschend. Als die Zeit immer größer und die Maroni immer kleiner wurden, begann sich der Seltenheitswert von Kartoffeln und faulen Äpfeln darin zu äußern, daß diese Volksaushungerungsmittel in den Kesseln der einstigen Maronibrater zu schmoren anfingen und um den Preis einer beträchtlichen Vermögensabgabe zu erstehen waren. Traurige Überreste in verlassenen Straßenecken zeugen heute noch von einer halbvergangenen, halb im Vergehen begriffenen Maronibraterherrlichkeit und muten wie vergessene Kaiserbilder in konservativen Amtskanzleien an. Aber viele andere Berufe sind mit einer Spurlosigkeit und einer Fixigkeit verschwunden, die selbst einem minder widerstandsfähigen Bankkassier Ehre gemacht hätten. Es gab »Krowoten«, die Tonpfeifen, Türschlösser, Streichholzschachtelbehälter, Korallen und Glasperlen feilboten. Heute sind das keine Bedarfsgegenstände mehr: Korallen und Glasperlen bieten mit aktivem und passivem Wahlrecht geschmückten Mitbürgerinnen kein Vergnügen mehr, sie erhöhen nicht den Reiz einer Frauenversammlung und könnten konfiszierungslüsternen Mitmenschen unverzeihliche Enttäuschungen bereiten. Streichholzschachtelbehälter sind inhaltslos wie Safes und Wahlreden und überflüssig wie eine Sozialisierungskommission. Türschlösser sind seit den Requisitionen der Volkswehr unzeitgemäß und Tonpfeifen ungebräuchlich, seitdem wir nach den falschen Pfeifen derer tanzen müssen, die uns vor- und auf uns pfeifen. Die »Krowoten« selbst aber sind Bundesgenossen der Entente geworden und wollen uns keine Waren mehr anbieten ... Auch der sogenannte »Fetzenbauer« ist dahin, seitdem die Städter mit ihren letzten Fetzen sich zum Bauer selbst bemühen und den Rucksackverkehr anstelle des Fremdenverkehrs eingebürgert haben. Der »Rastelbinder« lebt ein poetisches Dasein nur noch selten auf den Brettern, die eine verkehrte Welt bedeuten, der »Salamutschlmann« ist sagenhaft wie seine Ware, der Dudelsackpfeifer ist in seiner böhmischen Heimat vollauf damit beschäftigt, seinen nach frischerworbenem Patriotismus dürstenden Mitbürgern »Kdo domov muj?« vorzuspielen, und auf seinen weissagenden und Lose ziehenden Papagei können wir, angesichts des Überflusses an Telepathen, verzichten ...

Und damit sind wir auch schon bei den Berufen unserer neuen Zeit angelangt: Menschen, die die weit weniger wichtigen Ursachen und Zusammenhänge eines Weltkrieges niemals aufzudecken imstande wären, verblüffen heute durch die Fähigkeit, mit ausgesuchter Raffiniertheit verborgene Stecknadeln zu finden, erraten sogar die Gedanken eines gedankenlosen Publikums und verdienen mehr, als sie zum Leben benötigen, durch Massensuggestion und Fernhypnose. Die wie Pilze aus dem Boden der öffentlichen Meinung nach dem Platzregen der Revolution schießenden Tagesblätter und Zeitschriften beschäftigen eine Menge Kolporteure, männliche, weibliche, alte, junge, die in sämtlichen Tonskalen die disharmonischsten Nachrichten posaunen oder flöten. Den Kolporteuren verwandt sind die Zettelverteiler der politischen Parteien, der Versammlungs- und Bauchredner. – Auf einer höheren gesellschaftlichen, aber um so zweifelhafteren moralischen Stufe stehen die politischen Agitatoren, die ihr Gewissen um ein Linsengericht verlauten und dem Volke dann jene politische Überzeugung beizubringen versuchen, die sie selbst nicht besitzen. – Sehr beliebt ist der Schleichhändlerberuf, auch ohne besondere Fähigkeiten leicht zu erfassen: Man sei am besten ein »Mindestbemittelter«, »fasse« in der Bekleidungsstelle Kleidungsstücke, gebe sich den Anschein eines harmlosen Hamsterers und fahre aufs Land. Man tausche dort die »erworbenen« Kleidungsstücke in eßbare Werte um und verkaufe sie in der Stadt zu den vom behördlich autorisierten Kettenhändlerkaffeehaus festgesetzten Preisen. Man betreibe die oben beschriebene Arbeitsweise mit Geduld und Ausdauer, und man ist – Schleichhändler. Noch leichter ist freilich der »Ansteller«-Beruf: Man stehe womöglich schon um 4 Uhr früh auf, gehe vor eine beliebige Paßstelle und stelle sich dort an. Zwei, drei Stunden später kommen Reisende, die nach Kiralyhida oder Lundenburg wollen. Man gehe an die Verzweifelten heran und überlasse ihnen um ein mäßiges, aber angemessenes Entgelt seinen Stehplatz. Es ist das sicherste Mittel, ohne größere Anstrengung seine 50 Kronen täglich zu verdienen ... So wird den veränderten Verhältnissen Rechnung getragen und bleibt der rationierte Brotkartenerwerb auch in der neuen Zeit allen denen gesichert, die mit der Arbeitslosenunterstützung nicht ihr Auskommen finden. Die »Krowoten« sind Kolporteure geworden und hausieren mit der öffentlichen Meinung, die prophezeienden Werkelmänner wurden abgelöst von Telepathen, die bei Ronacher »arbeiten«, die Maronibrater heizen als Agitatoren den Kessel politischer Leidenschaften. Tüchtige Praktiker haben sich den neuen Verhältnissen angepaßt und übersetzen zeitgemäß: Tempora mutantur mit: Konjunkturen ändern sich ...

Josephus

Der Neue Tag, 31. 7. 1919

 


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