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Das erwachte Kunstgewissen

Was ist ein Museum? – ein »Inschtitut«. Was ist ein Kunstwerk? – ein G'spaß. Und was ist ein Künstler? – ein »Individium« ...

Der Wiener fand vollste Befriedigung seiner Schaulust in der Bühnenkunst. Was ging ihn die Malerei an, wenn sie sich nicht mit Grünzeugwarenschildern befaßte? Ein Bildhauer ist ein Tepp! Die Hausmasterin hot's g'sogt! – Weitab von Ringelspiel, Grottenbahn, Riesenrad, »ich möcht' noch amol in Grinzing sein«, Gschwandiner, Kaisergarten, Hollodrioh und Duliäh liegt das Kühle, Vornehme, Reserviert-Unverständliche. Jenseits der Grenze der Vernunft herrscht eine volksfremde Kunst, eine Kunst ohne Bühnentürl. Irgendein Reifes hat die G'schicht angelegt. Für G'studierte, versteht sich. Und das Wertvollste am Hofmuseum ist der Burgschendarm gewesen ...

Soll man weinen oder lachen? Seitdem die Friseure am Sonntag gesperrt haben, geht der Wiener, wenn er sich fern von Krieg und Kriegsgeschrei hält und nicht mit Pflastersteinen vor dem »Wiener Journal« für den Anschluß kämpft, ins kunsthistorische Museum. Er schaut sich die von den Italienern requirierten Bilder an. Um die Bild'l in den Inschtituten scherte sich keiner. Für die geraubten Kunstschätze schlagen die Herzen aller.

Die Leute stellten sich an. Denn: Kannte man nicht, was man besessen, so will man wenigstens kennen lernen, was man verliert. Neugier und Empörung beflügeln selbst den Schritt des kunstfremdesten Spießbürgers. Seht jenen Herrn dort mit dem biederen Habig und dem unvermeidlichen Regenschirm! Saß er nicht stets um diese Zeit beim Rockenbauer und unterhielt seine Stammtischgenossen über Wülson? Was scherte er sich um Museen? Genügte ein Panoptikum nicht vollends seinen musealischen Bedürfnissen? Heute ist er Kulturträger, dem der Feind einen Kulturschatz rauben will, der Idealist, dem man das Objekt seines Ideals, der Cornet, dem man seine Fahne, der Priester, dem man seinen Altar, das Volk selbst, dem man sein Nationaleigentum nimmt...

Kataloge, unnützes Papier, das in Stößen an der Kasse auflag und das ein Fremder höchstens kaufte – heute sind sie »gangbare Artikel« wie Stärke und Backpulver. Der Greißler vom Eck kauft sich gleich mehrere, erstens um sich über die gefährdeten Bilder zu informieren, zweitens von wegen der Tüten. Die Zimmervermieterin vom zweiten Stock spricht erregt auf ihren »Herrn Doktor« ein: Jessas, dö Bilder! ... Im Angesicht der bedrohten Kunst erwacht der Nationalstolz wie Anno Domini 1914, und irgendwo in einer Ecke der Bildergalerie flattert das Wort auf: Katzlmacher...

Soll einer weinen oder lachen? Hat sich »das Volk« besonnen? Ist »Kunst« ihm kein hohler Begriff mehr? Weiß es, was es verliert?

Ich höre den Optimisten: »Nur in der Stunde der Gefahr zeigt sich der erfreuliche Zusammenhang zwischen dem Fühler der Nation und der Ewigkeitsschöpfung ihrer Kunst. Freuen wir uns und versuchen wir, das endlich aufgerüttelte Kunstgewissen der Wiener wach zu erhalten!«

Und den Pessimisten: »Zu spät! Hätte die Bevölkerung den Wert ihres Besitzes auch nur geahnt, der Schrei der Empörung über den schmachvollen Raub wäre laut durch die Welt geschallt und hätte das schnöde Beginnen vereitelt.«

Und der Historiker: »Es ist seit jeher charakteristisch für die Masse, daß ihr Sinn für die geistigen Güter der Nation nur dann erwacht, wenn die fremde Hand sich nach ihnen ausstreckt. Vielleicht ist es nicht einmal zu spät! Auch die Gänse schnatterten erst im letzten Augenblick und retteten doch das Kapitol!«

Ich aber, der Zyniker, sage: »Es is' a Hetz'!« ...

Der Neue Tag, 25. 5. 1919

 


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