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Bei der ältesten Wienerin
Sie kann nur in der Kalvarienberggasse wohnen. Kennt Ihr die Kalvarienberggasse?
Links vom Elterleinplatz in Hernals steigt sie gelinde empor. Man sieht ihr Ende kaum. Man darf sich einbilden, daß sie sacht und sorgfältig in die Ewigkeit hinanführt.
Und wie es sich für einen Weg gehört, der zur Ewigkeit führt: Rechts steht ein Kirchlein mit einer rohen Steinmauer, es sieht so lieb aus wie ein Wetterhäuschen oder ein Spielzeug. Diese Kirche scheint gar nicht gemauert, sondern zusammengepickt. Ich glaube bestimmt, die Kirche ist eigens für die Kinder von Hernals gebaut. Erwachsene dürfen nur mit einer besonderen Erlaubnis hinein.
Und links, im Zehner-Haus, wohnt Frau Katharina Fischer, die am 4. Jänner 1920 rund hundert Jahre alt geworden ist. Wenn man hundert Jahre alt ist, wohnt man selbstverständlich in der Gasse, die zur Ewigkeit führt. Geradewegs in die ausgebreiteten Arme des lieben Gottes hinein, der hoch droben steht und wartet; auf die Menschen, die mühselig den Kalvarienweg hinaufkeuchen.
Steigen wir nicht alle diese Kalvarienberggasse empor? Oh, sie liegt gar nicht im siebzehnten Bezirk allein. Alle Gassen, durch die wir wandern, sind Kalvarienberggassen.
Und wenn du mitten am Weg einen Hundertjährigen triffst, so kehre bei ihm ein.
Frau Katharina Fischer wohnt bei ihrer Tochter, die Anna Schimek heißt und die Frau eines Eisenbahnarbeiters ist. Die Frau Schimek war einmal eine stattliche Person – oh, bitte, eine sehr stattliche Frau! Im Frieden. Da konnte sie noch ausgehen, ins Geschäft, Geld verdienen. Die alte Mutter konnte noch herumgehen. Aber heute geht Frau Schimek nicht mehr ins Geschäft, sie kann die Hundertjährige nicht allein lassen.
Wenn man hundert Jahre alt ist, muß man doch essen. Eine von den wenigen Eigenschaften, die man sich in einem noch so langen Leben nicht abgewöhnen kann.
Und Frau Schimek spart und spart, um die Mutter zu ernähren. Und wird täglich dünner. Oh, sie ist längst keine stattliche Frau mehr wie auf der Photographie in dem braunen Album mit gepreßtem Lederimitationsumschlag, dessen Spange vom vielen Auf- und Zuklappen an Sonntagen ein bißchen locker geworden ist.
Frau Schimek und ihr Mann sind sehr stolz auf die hundertjährige Mutter. Wie man stolz ist auf ein sehr kostbares Erbstück etwa. Oder einen echten Harzer, der herrlich schmetternde Tiraden auswendig kann. Wenn man hundert Jahre alt ist, wird man so ein bißchen Gegenstand.
Frau Kathi Fischer schläft auf dem Sofa im Zimmer des Ehepaares Schimek. Das heißt, sie schläft gar nicht, sondern liegt nur so. »Nach dem Essen«, sagt sie zur Entschuldigung. Wie sie so daliegt, kleinwinzig, nimmt sie kaum die Hälfte des Sofas ein. Wie eine Puppe, die ein Kind »schlafen gelegt« hat. Frau Schimek zeigt, was ihre Mutter kann. Sie produziert sich. Die Hundertjährige sitzt auf. Sie freut sich sehr über einen Plausch. Sie darf reden.
Und sie spricht. Spricht ohne Unterlaß. Ihre hundertjährigen Hände mit den Knoten an den Fingern und den vielen, vielen tausendblauen Äderchen schießen wie Schwalben hart über der Tischplatte. Ihr zahnloser Mund sieht aus wie eine kleine Höhle, aus der ein Quell von Geschichtchen unermüdlich sprudelt. Die Gegebenheiten verhaspeln sich, verwirren sich, Ereignisse, die jahrzehntelang auseinanderliegen, rücken plötzlich zusammen, verwachsen wie Zwillinge bei Barnum. Die Hundertjährige sieht die weit voneinander entlegenen Geschichten so nahe, weil sie so fern sind. Etwa wie wir zwei Sterne Schulter an Schulter leuchten sehen, Sterne, die Millionen Meilen voneinander entfernt sind.
Kleine Alltäglichkeiten und nicht der Rede wert. Das alte, kleine Mütterchen aus dem Volke sieht mit dem hundertjährigen Auge der Geschichte. Revolutionen, Kaiser, Kriege, Festlichkeiten. Hie und dort guckt nur ihr eigener, kleiner Alltag der Historie über die Schulter. Etwa wie ihr Mann – Gott habe ihn selig, den guten Tempeldiener – eingesperrt war. Am Jom Kipur, ja wahrhaftig, am Versöhnungstag, und wie sie ihm danach Essen brachte und seine Befreiung durchsetzte. Ja, Essen brachte sie ihm, es war Suppe mit Bohnen. Es war eine gute Suppe mit großen Bohnen.
Und den Latour haben sie die Stiegen hinuntergezerrt, ja, man denke, vier Stockwerke haben sie ihn geschleppt. Das Schicksal Latours geht ihr so nahe. Ach Gott! Und wie man geschossen hat! Es waren Fensterläden noch am Haus, und die sperrte Frau Katharina Fischer ganz einfach zu. Ja, zugesperrt waren die Fensterläden, und nun sollten sie nur schießen. Bum, bum!
Die Hundertjährige berührt mit der Faust den Tisch. Offenbar bildet sie sich ein, das wäre ein Klopfen. Und richtig! Ja, sie hat vergessen, vergessen, das Wichtigste zu erzählen! Wie Latour aufgehängt wurde. An einem Laternenpfahl.
Gottes Himmels willen! Am Ende wäre ich gar fortgegangen und im ungewissen geblieben über das endgültige Schicksal dieses Latour! Ich Tepp!
Und Sechsundsechzig! Die Deutschen waren feine Leut' und sagten »Mutterl« zu ihr und bezahlten den Kaffee.
Alles ist wahr! versichert Frau Katharina Fischer. Ich kann alles glauben. Sie weiß, was sie weiß. Und ich kann mich darauf verlassen. Sie hat sich wirklich Mühe gegeben, mich genau zu informieren.
Ich soll doch wiederkommen. Sie besuchen!
Das junge Madel! meint Herr Schimek verlegen-ironisch.
Oh, sie bildet sich nicht ein, jung zu sein, die Frau Fischer. Sie ist die erste Frau in meinem Leben, die auf ihr hohes Alter stolz ist. Frauen müssen hundert Jahre alt werden, um ihr Alter offen einzugestehen.
Ich werde wiederkommen, gewiß. In der Kalvarienberggasse, die ich mein Leben lang hinanklimme, wohnt sie ja, die Hundertjährige. Ein Spielzeug aus dem Hauch der Ewigkeit.
Josephus
Der Neue Tag, 11. 5. 1920