Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Waldmännlein vom Stephansplatz

Wer kauft Weidenruten? Heutzutage! Kann man Weidenruten schieben? Sind Weidenruten ein »Artikel«?

Oder Vogelbeeren! Wie lächerlich! Korallenrote, winzige Kügelchen auf armselig-schmächtigen Zweiglein. Was macht man mit Vogelbeeren?

Oder ziegelrote und weiße Papierblüten aus Serviettenpapier! Ich bitte! Was ist schon so eine schwindsüchtige Papierblüte? Man kann sie nicht ins Knopfloch stecken. Wie lächerlich! Hat man schon je einen eleganten Winterrock mit einer Serviettenpapierblüte geschmückt gesehen?

Oder feingedrehte, komplizierte gewickelte Fränschen und Zipfelchen aus Kanzleipapier! Köchinnen schneiden zuweilen altes Zeitungspapier in solche Fränschen, drehen sie mit einer Haarnadel so lange, bis sie eine Art verwickelter Stalaktiten werden, und bringen sie an schrecklich weißen Küchenschränken an, wo Schubladen mit stolzen Aufschriften: Pfeffer, Zimt, Salz, Schmirgel in die öde Kachelweiße des Küchenraumes schwarz hineinstieren. Aber wer kauft diese fertiggewickelten Fränschen und Zipfelchen?

Lauter, lauter Nichtigkeiten! Gegenstandsloses Zeug. Alberne Nichtsnutze. Törichte Sächelchen, vom Wegrand der Zeit aufgeklaubt. Das Leben hat sie fallen gelassen oder gar, wer weiß, weggeworfen. Nein! Nicht weggeworfen! Solche Dinge sind zu wertlos, um weggeworfen zu werden. Man läßt sie fallen, achtlos! Sie gleiten aus den Taschen, zwischen den Fingern durch. Alle diese Torheiten, die das kleine Männchen am Stephansplatz zu verkaufen sich einbildet, die sind, weiß Gott! nichts, nichts, gar nichts wert. Impotenzierte Wertlosigkeit.

Ich habe nie gesehen, daß jemand etwas dem Männchen abgekauft hätte. Sein Mäntelchen ist abgeschabt-papageigrün. Die Nähte sind offen wie die scharfen, spitzen Zähnchen der Not. Auf der sanften Rundung seines winzigen Rückens wuchten viele Jahrzehnte, Jahrhunderte vielleicht. Sein Gesicht mit dem Vollbärtchen klebt in einer Wollhaube. Dieses Gesichtchen birgt sich in der Wolle wie ein Vogel in einem Nest. Wie aschgraue Mäuschen huschen verschüchterte, scheue Blicke aus den Augen.

Ich habe lange Zeit nicht begriffen, wozu das Männlein dort steht. Eines Tages sah ich es.

Ich ging um die Mittagsstunde über den Stephansplatz.

Das Männchen stand nicht auf dem Bürgersteig – sondern, o wie merkwürdig! –, das Männchen stand in der Straßenmitte. Und um ihn rauschte ein Gezwitscher und ein Gejubel von hunderttausend Spatzen. Das Männchen fütterte sie. An seiner Nasenspitze blinkte ein hartnäckiger wasserheller Tropfen. Es hatte keine Zeit, ihn wegzuwischen. Mit beiden Händen streute das Männchen Brotkrümchen. Ein sehr stilles Lächeln kollerte wohlig und rundlich über sein Gesicht. Seine kleinwinzige Gestalt verschwamm, ertrank, tauchte unter in den Wellen eines brandenden Gezwitschermeeres. Und das Männchen hatte nur einen Wunsch: Oh, hätt' ich doch ein Dutzend Hände! ...

 

Seitdem weiß ich, wozu das Männchen dasteht. Ja, ich sehe, es ist gar kein Bettler. Es ist irgendwoher aus dem sterbenden Wald mit seinen Vögeln geflüchtet. Ist sein Bärtchen nicht aus den Flaumfedern kleiner Vögel? Sein Wollhäubchen ist ein über den Kopf gestülptes Vogelnest. Und sein Mantel ist so grün, weil er aus Waldmoos gesponnen.

Ich stelle mir vor, daß es in der Seele dieses Männchens aussieht wie in einer kleinwinzigen, verlorenen Kapelle, irgendwo am Wegrand.

So wohlig und heimlich. Und eine dunkelrote Ampel brennt ewig darin unter einem Jesusbild.

Und ich weiß, wie dieses Männchen sterben wird:

Eines Morgens wird sein Kopf auf dem Körbchen mit den winzigen Nichtigkeiten ruhen. In der Nische vor der Stephanskirche.

Und von hunderttausend zwitschernden Spatzen getragen, wird seine Seele emporschweben.

Und auf seinem verschämten Holzkreuz in der Friedhofsecke wird Tag und Nacht ein Spatz sitzen und Wache halten und zwitschern.

»Requiescat in pace!« wird er zwitschern.

Fast so schön wie ein Kanarienvogel.

Josephus

Der Neue Tag, 14. 12. 1919

 


 << zurück weiter >>