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Mitten in Deutsch-Kreuz eine Filiale der Leopoldstadt.
Siebzig jüdische Familien wohnen seit tausend Jahren im Deutsch-Kreuzer Getto. Denn sie wohnen alle zusammen, in einer großen Häusergruppe hinter den weiten Gehöften der reichen Bauern, und führen ein eigenes Leben.
In der Mitte steht der Tempel, mindestens ein paar Jahrhunderte alt. Links vom Tempel wohnt der Rabbiner, ein Mann in mittleren Jahren mit blondem Bart und einem schwarzen Samtkäppchen auf dem Haupte. Er sitzt an einem langen Tisch und um ihn herum seine Jünger. Judenburschen im Alter von sechzehn bis zwanzig. Sie lernen Talmud, alle durcheinander, in ihren monotonen Sing-Sang klingt nur von Zeit zu Zeit der grelle Schrei der Ziehharmonika vom Wirte drüben.
Ich will mit dem Rabbi über die Gemeinde sprechen. Er drückt mir die Hand und bittet mich um Verzeihung: Er habe leider keine Zeit. Ich möchte zum Kultusvorsteher Herrn Lipschütz gehen.
Herr Lipschütz ist ein Mann um die Fünfziger. Ist auch schon in Budapest und, als er noch jung war, sogar in Wien gewesen und hat Manieren.
Er bittet mich in den »Salon«. Ein dunkelrot gehaltenes Zimmer, lauter Plüsch und Samt und verstaubte Nippessachen, Tintenfässer, Vögel, Hunde aus Bronze auf der Konsole. Der Stuhl, den er mir anbietet, ist leider durchgedrückt, und ich rutsche in eine Versenkung, aus der ich mich mit vieler Mühe wieder hinausrette, um fortab am Stuhlrand sitzen zu bleiben.
Herr Lipschütz erzählt mir:
Vor vielen Jahren seien die Juden aus Österreich vertrieben worden und wären zum Fürsten Esterhazy gekommen. Dieser habe ihnen sieben Gemeinden, die sogenannten »Schweh-Khilles«, angewiesen. Es sind lauter deutsche Gemeinden. In einigen haben die Juden volle Autonomie und sogar eigene Bürgermeister. Die Juden sprechen ein reines, fehlerloses, etwas hartes Deutsch und vertragen sich ausgezeichnet mit der Bevölkerung. Die deutschen Bauern machen einen strengen Unterschied zwischen »Budapester« und »unseren« Juden.
Das Haus des Herrn Lipschütz ist einstöckig, mit einem großen Hof. Er ist der reichste Jude in der Gemeinde, und sein Name ist weit und breit bekannt.
Der Kantor, der vor ungefähr 50 Jahren noch im Deutsch-Kreuzer Judentempel die Gebete sang, hieß Goldmark. Sein Sohn war der berühmte Komponist Goldmark, der aus einem Deutsch-Kreuzer Judenjungen ein Mann von Weltruf ward.
Die Gemeinde zählt auch den ungarischen Romanschriftsteller und späteren Sektionschef Alexander Doczi recte Dux mit Stolz zu ihren Söhnen.
Die Juden von Deutsch-Kreuz und den Schweh-Khilles beschäftigen sich nur mit ehrlichem Handel und werden von der christlichen Bevölkerung sehr geschätzt. Sie haben sich rein und unvermischt erhalten, und aus ihren Gesichtern klagte das jahrtausendealte Leid Ahasvers. Sie kennen keinen Tanz, kein Fest und kein Spiel. Nur Beten und Weinen und Fasten. Die Deutsch-Kreuzer Juden fasten zweimal in der Woche und beten den halben Tag lang.
Der Tempeldiener kommt morgens und abends an jede Tür, klopft mit einem Hammer und ruft die Juden zum Gebet. Ich besah mir den Hammer: Er ist schon ganz klein, schwarz, fertig und »abgeklopft«. Er mag so alt sein wie die Gemeinde.
Manchmal wächst ein Judenjunge heran, hat Begabung und Glück und wird ein Goldmark oder Doczi. Aber nur manchmal.
Die meisten leben und sterben, wo sie geboren sind.
Das ist die Geschichte der Juden von Deutsch-Kreuz und der »Schweh-Khilles«.
Der Neue Tag, 9. 8. 1919
Joseph Roth