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Ohne die Uhr am Stephansplatz wäre ich kein Schriftsteller. Die Stephansturmuhr ist eines meiner unumgänglich notwendigen Schriftstellerrequisiten. Wenn ich schon gar keinen Stoff habe, so gehe ich zu meiner Stephansturmuhr. Sie hat immer irgendeine Liebenswürdigkeit für mich parat in ihrem Uhrgehäuse. Ich besuche sie regelmäßig, ungefähr wie man eine alte Tante besucht, von der man weiß, daß es nicht ganz richtig mit ihr ist, daß sie aber dennoch irgendwelche Leckerbissen im Schrankfach hat.
Es ist immer irgendwas kaputt an der Stephansuhr. Sehr oft steht sie, manchmal geht sie falsch, fast immer zurück, als sehnte sie sich nach vergangenen, guten alten Zeiten. Seit einigen Wochen hat sie eine gar wunderliche Laune: Ihre linke Gesichtshälfte, dort, wo die Ziffern immer so wundervoll springen, kümmert sich einen Schmarrn um die rechte, auf der das Ziffernblatt mit den Zeigern angebracht ist. Künden die Zeiger rechts halb zehn, so sagen die Ziffern links dreiviertel neun. Ich glaube, die gute Tante Stephansuhr weiß ganz gut, was sie will. Als ein Wiener Symbol fühlt sie die Verpflichtung, ein Wiener Symptom zu werden. Sie kündet nicht die Zeiten der Stunde, sondern gleich die der ganzen Zeit. Sie spielt Verordnung und Erfolglosigkeit, Erlaß und Widerruf, Nachricht und Dementi. Sie sagt: Nur nicht alles gleich ernst nehmen in Wien! Es kommt immer ganz anders ...
Josephus
Der Neue Tag, 8. 11. 1919