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Tournon

Tournon war im 16. Jahrhundert eine berühmte, von Gelehrten und Dichtern besuchte und bewohnte Stadt. Der Kardinal von Tournon begründete hier im Jahre 1542 das Lyzeum, das lange Zeit von den Jesuiten geführt wurde und in dem heute noch unterrichtet wird. Der Kardinal hatte eine der glänzendsten Karrieren seiner Zeit gemacht. Sein Monument steht vor dem Eingang zum Lyzeum. Sein Angesicht hat die Züge eines diplomatischen Klerikers und den eleganten Skeptizismus des Mannes von Welt. Sein Mund ist schmal, seine Nase zart, und sein Blick, scheinbar versonnen, wie es sich für einen Denker geziemt, reicht keineswegs in jene Fernen, die der praktischen Klugheit ewig verschlossen sind und erst der Weisheit sich öffnen, die nicht von dieser Welt ist.

Der Kardinal hätte trotz seiner Berühmtheit wahrscheinlich kein Monument bekommen, wenn er nicht dieses Lyzeum, begründet hätte, aus dem viele begabte und einige berühmte Franzosen hervorgegangen sind. In der Schule ist das Andenken des Kardinals sehr lebendig. Man kann für die Dauer seines Namens nichts Besseres tun als Schulen gründen, Häuser, in denen junge Menschen leben. Viele Generationen tragen den Namen des Kardinals, in dessen Schule sie gegangen sind, wenn nicht im Herzen, so doch im Kopf.

Jetzt im Juli sind Ferien, das Lyzeum ist geschlossen und von einer Pförtnerin bewacht, die, alt und beredt, ihre eigene Geschichte des immerhin älteren Lyzeums erzählt. Sie zählt 62 Jahre, ist verheiratet und kinderlos, ihr Mann ist ein Gärtner und sehr schweigsam, still geworden an der Seite dieser Frau, die ihm seit 40 Jahren jedes Wort aus dem Mund nimmt und das lästige Reden erspart. Mit welcher Freude empfängt sie einen seltenen Gast, dem der Mann schon bekümmert entgegengesehen hatte! Vor 30 Jahren war sie in Paris, und schon damals war der Lärm in den Straßen zu arg. Ob ich ihn ertragen könnte? Ich wäre wohl jung und glücklich? Ich führe in einem Auto durch die Welt und hätte nichts zu tun? Ich bin doch höchstens 25 und mache meinen Eltern Freude? Und dieses Lyzeum ist alt! Sie sagt »alt« mit so lange gedehnter Bewunderung, daß man große Ehrfurcht vor den Mauern bekommt und daß man fühlt, was » Geschichte« bedeutet.

In den Sommerferien, wenn die Sonne schräg durch die Fenster der Schulen scheint und silberne Vierecke in stillen Gängen malt, wenn die Klassentüren offen sind und man leere Bänke sieht, die nichts mehr und noch nichts zu tun haben, die alten Bänke mit den eingeritzten Namen der Insassen, die sich gelangweilt haben – in dieser Zeit sind alle Schulen so schön, daß man selbst durch die Tür treten möchte, über der » Sekretariat« geschrieben ist, um sofort wieder ein Schüler zu werden. Alle Schulen sind im Sommer schön; und ein Lyzeum aus dem 16. Jahrhundert am schönsten.

Im Park rauschen die Bäume über dem Schwimmbassin, das jetzt trocken ist und auf dessen Grund Papierschnitzel, Bindfaden und Blechschachteln liegen; in den alten weißen Gängen herrscht die peinliche Sauberkeit eines Raums, der Gäste erwartet. Jeder Schritt hallt wider, zweimal, dreimal, jeder Laut entlockt den Mauern eine ernste, tiefe Antwort, und das Gehen ist wie ein Zwiegespräch zwischen Fuß und Stein.

An den Wänden der Kapelle, die von den Jesuiten gebaut wurde, lese ich die Inschriften der Schüler. Neben die Beichtstühle haben sie ihre Namen geschrieben und die Namen der Mädchen, die sie lieben, während der Beichtvater, unsichtbar, aber auch nichts sehend, viel gleichgültigere Geständnisse entgegennahm als die Wand.

Alte Gobelins von unschätzbarem Wert in den Gängen. Die jüngsten stammen aus dem 17. Jahrhundert. Sie stellen biblische Vorgänge dar, in einer frommen Demut, mit einer geraden und kindlichen Einfachheit, die aus einfachem Herzen kommt, aber auch zu verschlossenen spricht.

»Alles mit der Hand gemacht«, sagt die alte Pförtnerin.

Es wird Abend, die Vögel zwitschern, es ist ganz still im Lyzeum. Die alte Frau ist schweigsam geworden. Wir gehn nebeneinander her wie alte Freunde, die schweigen. Sie hat niemals meine Heimat gesehn, sie ahnt nicht, wo sie liegt, sie weiß nichts von mir, aber wir beide kennen jetzt das alte Lyzeum, und ich kenne das Leben meiner Begleiterin. Es ist nichts Merkwürdiges daran, daß ich in einer Stunde der Freund dieser Alten geworden bin. Hier ist nichts merkwürdig.

 

Hier ist nur die Stadt merkwürdig. Es ist die unbequemste Lage für eine Stadt. Tournon liegt nicht eingebettet, sondern eingeklemmt zwischen felsigen Hügeln. Man könnte glauben, alle die kleinen Häuser waren einmal auf einer Flucht begriffen gewesen und hätten sich in einer schluchtenreichen Welt verfangen, ohne die Aussicht, je wieder herauszukommen. Die Felsen erdrücken die Häuser, diese rücken zusammen und erdrücken die Gassen, diese wieder krümmen sich fortwährend, um endlich einen Ausweg zu haben, bilden Knäuel, verwirren sich ängstlich, klimmen zitternd empor und fallen plötzlich wieder hinunter. Dem Spaziergänger preßt es den Atem zusammen. Nirgends öffnet sich ein Platz. Es gibt keinen Markt. Es sei denn, man würde den Hof, von der Größe eines kleinen Weihers etwa, als Markt ansehen, der vor der Burg liegt.

Die Burg birgt sich in der Festungsmauer, als hätte sie Angst, eine Burg zu sein. Sie sieht immer verschlossen aus. Sie könnte alle ihre Türen und Fenster öffnen – es wären doch Gitter davor. Im dieser Burg ist das Gefängnis untergebracht, die Präfektur, das Bürgermeisteramt. Aber es ist schwer, die drei Institutionen voneinander zu unterscheiden. Der Herr Bürgermeister und der Herr Polizeipräfekt sitzen hinter Gittern, genauso wie die Gefangenen. Alle Einwohner von Tournon sind eingesperrt. Sie leben zwischen schiefen Mauern, in flüchtigen, krummen Gassen, unter Dächern, die sich biegen, alle ihre Tage sind wie wüste Träume, spitz und scharf ragen die Giebel in ihr Leben. Wer nicht in Tournon geboren ist, kann sich in dieser Stadt nicht zurechtfinden. Man verirrt sich hier, obwohl es nur 5000 Einwohner gibt. Aber auch wenn man sich nicht verirrt, ist jeder Schritt ein irrender, die Häuser, die auf ihrem Platz zu stehen scheinen, sind in fortwährender Bewegung, in ängstlicher Hast, furchtsam gekrümmt, und jeder runde Türbogen drückt wie ein Joch den Rücken des Eintretenden.

Welch ein Glück, daß man sich in zwei Minuten zur Rhône retten kann und auf die große Hängebrücke (die erste Frankreichs), die leicht und schaukelnd ist, als wären die Ketten am Himmel befestigt, und auf der man nicht fühlt, daß man geht. Es ist, als hinge man selbst an einem Strick und pendelte an das andere Ufer, ein Spaziergänger und ein Wunder der Technik zugleich.

Drüben liegt Tain, flach, klein und jünger und ohne die furchtsame Wirrnis des Auf und Ab. Tain hat einen winzigen Ringplatz, auf dem ein Marionettentheater steht. Man gibt heute das alte Spiel vom Schuster und den Zwergen, und der dritte Platz ist ausverkauft.

Der erste kostet 1 F. 50 C.

Frankfurter Zeitung, 23. 9. 1925

 


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