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Über den Dächern der Häuser von Paris lächelt ein fürchterlicher Riesensäugling von kolossaler Gesundheit. Er macht Reklame, er ist Reklame für eine Seife, deren entsetzliche Wirkungen er selbst übertreibend repräsentiert. Dieser aufgestockte Säugling ohne Unterleib, dessen Mund 15 Meter breit ist, dessen runde Tieraugen einen Durchmesser von drei Metern haben, nistet an den Mauersimsen und Bretterzäunen, ein robustes Ungeheuer, das heute noch lächelt, morgen schon grinsen wird, ein Sportsäugling, dessen Antlitz ein bunter Fußball ist und der den kommenden Menschen ankündigt. Es wird der Idealtyp des amerikanischen Mannes sein, der immer schon so große Kinderschuhe getragen hat, daß er sie niemals abzulegen braucht; der naive und brutale, sentimentale und eiserne, hundertprozentige und Kinderwagen schiebende Rekordläufer. – Es ist zwar eine französische Seifenfirma, die diesen Säugling über Paris schwingt. Aber es ist mehr als eine Reklame, es ist ein Symbol, es ist Amerika: Amerika über Paris.
Ich fühle den schwarzen Schatten der Wolkenkratzer und ahne sein Dunkel im Anblick der bunten, tanzenden Lichter, die Schuhe, Kinos, Füllfedern und Frauen versprechen. Ein internationales Publikum, das nicht international ist, sondern nur so genannt wird, weil es mit verschiedenen Währungen zahlt, verlangt für sein Geld die allerletzten Revuen mit elektrischem Scheinwerferlicht und Heißluftbädern und die mit modernstem Komfort ausgestatteten Hofman-Girls; aber auch echtes Pariser Apachentum und lokale Sensationen mit garantiert vorübergehendem Nervenschock. Willig fügen sich die Boulevards und Amüsements den Forderungen des Fremdenverkehrs. Nichts ist ihnen für die Gäste zu billig. Alles wird ihnen teuer gemacht. Manchmal degradiert sich die ganze wunderbare Stadt zu einer Saison für Fremde; und ist intimer noch eine wunderbare Stadt. Die langweilige Buntheit der Lichtreklame wird hier eine lebendige Buntheit. Dennoch kämpft die ewig formende Atmosphäre von Paris auf die Dauer vergebens gegen den brutalen Inhalt, der ihr unaufhörlich geliefert wird.
Sie kann kaum noch die Fremden verdauen, die gekommen sind, um an anderen Fremden zu verdienen: Da tummelt sich eine große Schicht wesenloser und hurtiger Konjunkturgeschöpfe; Sumpfgeborene in steter Amüsierbereitschaft und im »Fieber der Eröffnungen«. Da leben die Balalaika-Russen, die ihre Heimat aufgegeben haben und vor Sehnsucht nach der guten, alten Zarenzeit sie durch Seide und Flitter im Varieté zu rekonstruieren suchen. Arme Menschen, blind geworden vom Blitz der Revolution, vom Schicksal verflucht, aus ihrem Heimweh Profit zu schlagen, ohne Zusammenhang mit der Erde, die ihre Talente genährt hat, und nur von Erinnerungen zehrend und Historie gewordenen Begriffen, deren Verwendbarkeit gerade noch für die Wahrheit einer Operette reicht. Da kommen aus England die Sänger, die nicht singen können, aus Amerika die Tänzer, die nicht tanzen können, und aus allen Teilen der Welt die schönen, nackten Frauen, die nicht schön und nicht nackt sind. Da kommen die Steptänzer, deren Sohlen so klappern, als liefen Totengerippe auf Holzpantoffeln, und die Saxophonetiker, deren Instrumente so tönen, wie wenn sich eine ungeölte Höllentür in den Angeln bewegte. Da kommen die Schneider, die Bühnenrevuen erdichten, und die Dichter, die Frauenkleider zuschneiden, die Beleuchtungskünstler mit den Lichteffekten und die Semi-Spanier mit den Kastagnetten. Und nur da und dort, zwischen so viel Blendwerk und Dilettantismus, der sich lächelnd zu erkennen gibt, die schöne Weiblichkeit der Spanierin Raquel Meiler, das Temperament der Mistinguette, die große Bosheit des großen Krüppels Little Titch, der schöne Körper einer spanischen Tänzerin und der tragische Humor einiger Clowns aus der Welt Shakespeares. Sie gehen nicht unter, aber sie kommen zur Geltung in diesem Gewimmel der Dummheit – und das ist noch trauriger. Man geht ebenso ihretwegen hin, wie um die Frauen zu sehen, die (als hätten sich Pfaue von Straußen Federn ausgeliehen) große Räder schlagen in den modernen Straußenkostümen; um die Chansons zu hören, die ein heiserer Frack ableiert; um sechsunddreißig zur Anregung bestimmte und dennoch den guten Ruf wahrende Girl-Beinchen zu sehen, die aus der keuschen Gymnastik ein erotisches Geschäft machen. In der Pause aber, die keine Pause ist, lädt ein fetter Halborientale zu orientalischen Bauchtänzen ein und läßt alltägliche, allnächtliche Frauen aus Smyrna und Czernowitz törichte Drehungen auf Kunstgewerbeteppichen vollführen.
In den engen Gassen des Montmartre tönen die Hupen der Autos mit hundertfachem Echo wider, grelle Lästerungen gegen die Ehrwürdigkeit der Mauern und gegen die Echtheit, die sich hier verbirgt, um sich, wenn der Abend kommt, vom zahlenden Publikum doch herauslocken zu lassen. Flink legt die echte Schminke noch eine falsche Schminkschicht auf. Das Elend der Blumenhändlerin wird unwahrscheinliches Elend. Das Gebrest des Bettlers ein übertriebenes Gebrest. Weil dieses Auditorium dem echten Sänger lauscht, wird sein Lied falsch. Eine Welt von Snobismus bricht aus den Automobilen. Ihre schmerzenden Scheinwerfer schälen das schöne Dunkel von den schönen Häusern. Die Wagen warten in den engen Winkeln, bis die Gäste vom Lokalkolorit genug haben, das man ihnen gegen Eintrittskarten serviert, und sausen dann abwärts in die modernen Garagen nüchterner Welthotels. Es dauert lange, nächtliche Stunden, ehe die Schönheit der Gassen wieder zu sich kommt.
Aber sie kommt immer wieder. Keiner der vielen Panoramasucher von Geburt und Bankdepot kann die Schönheit dieser Welt banal machen, der Stadt mit tausend bewegten Türmen in einer Luft von Glanz, Wind, Himmel und Abend. Millionen unruhiger, nervöser Schornsteine auf Millionen Dächern, ein Ozean von Häusern mit kaum geahntem Ufer, ein zu Harfenlauten erstillter Tumult, eine bewegte Erhabenheit, die jeden in die Tiefe lockt wie ein Wasser ...
Da flammt, die ganze Höhe des Eiffelturms entlang, der Name einer berühmten Firma auf, die es sich leisten kann, die Wahrzeichen der Welt zu kaufen – und Amerika ist wieder über Paris ...
Der Schluß dieses Aufsatzes wird durch einen Brief, der uns heute aus Paris zugeht, nur allzusehr bestätigt. Er lautet:
Dieser Sommer in Paris ist nicht heiß, nicht kalt, nicht regnerisch, er ist amerikanisch. Überall hört man das amerikanischnasale Englisch sprechen, überall begegnet man hageren Gestalten mit absatzlosen Schuhen, mit großen Hornbrillen – auch bei den Frauen –, überlebensbreiten Herrenanzügen, rote Baedeker in den Händen und viele Stöcke und Schirme. Auf allen Boulevards vor den großen Vitrinen wird laut diskutiert, ob die ausgestellten Gegenstände teuer oder billig seien. Über alle Avenues fahren »Gesellschaftsautos«, vollgestopft mit 50 bis 60 Amerikanern, die artig und fromm, wie in einer Schule, auf den Bänken sitzen. Ein »Guide« läßt das Auto ab und zu halten und belehrt seine Opfer, die ihm mit einem »Ouhh!« im Chorus antworten. In allen Restaurants sind alle Kellner auf amerikanisches Publikum hin trainiert; auch ein Tschechoslowake, ein Russe oder ein Deutscher, wenn er nur sein Essen in gebrochenem Französisch bestellt, wird von mindestens fünf Kellnern bedient. Die Rechnungen werden gleichfalls speziell zu diesem Zweck fabriziert. Die Franzosen selbst sind wirklich zu bedauern: Sie werden überhaupt nicht bedient; stundenlang sitzen sie da und verlangen hungrig und verzweifelt nach dem Essen, das die feschen und jonglierenden Kellner vor ihren Nasen den »amerikanischen« Herrschaften servieren. Nur im Sommer sieht man so viele mit Gold und Silber bestickte Kleider in den Schaufenstern. Die elegante und geistreiche Linie der Pariser Schneider und Modisten wird im Sommer üppig und reich: amerikanisch. In den Schuhgeschäften sieht man seltsame Schuhe ohne Absätze, ein Mittelding zwischen Sandale und Sportschuh, aus farbigen Brokaten, aus Gold, Silber und Perlmutter; so etwas würde eine Pariserin nie sich anzuziehen trauen ... In der Kunstgewerbeausstellung gibt es in der italienischen Abteilung einen Pavillon der mit Gold und Silber bemalten Stoffe der Signora Gallenga. Prächtige Mäntel und Kleider, mit Renaissance-Ornamenten verziert. Hier geben sich die amerikanischen Damen ein Rendezvous. Sie betasten diese Stoffe stundenlang und probieren alle an. Die jüngeren, mit kurzen Näschen und schlanken, schönen Beinen, wickeln sich wollüstig in diese »Borgia«-Mäntel und sehen darin aus wie Varieté-Girls. Auch die älteren, üppigen Matronen mit großen Hornaugengläsern können der Versuchung nicht widerstehen, und auch sie hüllen sich in eine rote oder violette Renaissance-Samtrobe – – – »Ouhh!« Auch im Louvre vor der Venus von Milo, vor der Mona Lisa und vor den Sklaven des »Maikel-Engil« singen sie ihr »Ouhh!« Nach dem Diner residieren sie in den großen Musikhallen. Alle billigen Plätze sind leer, aber die Logen und das Parkett sind überfüllt. Auf der Bühne Tänze, englisch sprechende Exzentriks und Akrobaten, die unvermeidlichen Girls in fabelhaften Toiletten dort, wo es mit Nacktheit schlechthin nicht mehr geht ... Dafür im Zuschauerraum trotz der Hitze keine Dekolletés, denn alle Amerikanerinnen haben ihre ... Pelzmäntel an. Hermelin- und Chinchilla-Mäntel, Füchse und Hermeline ...
Frankfurter Zeitung, 26. 8. 1925