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Das Frühlingsschiff

Vielleicht, daß ein Schlafloser, dessen Fenster auf den Kanal hinaussieht, in der Nacht ein kurzatmiges Taktprusten der rastlosen Schiffslunge gehört hat und das leise Geklirr ausgeworfener Ketten, als das Schiff haltmachte. Das weiß man nicht. Morgens sieht man plötzlich ein weißes Dampfschiff. Es schmiegt seine Wange ans Ufer, schlingt getreulich lange Kettenarme um die Pfosten, die aus der Böschung herauswachsen, und hackt spitze Eisenklauen in die weiche Ufererde.

Das ist weit draußen, im Donaukanal.

Es ist ein Frühlingsschiff und sicherlich – wer weiß – über Nacht aus Tiefen emporgetaucht, die bis jetzt vereist waren. Es ist ein laubweißes Haus mit unzähligen winzigen Fensterscheiben. Es raucht blaue Wölkchen aus einer langen Schornsteinzigarre. Taue und Rollen und seltsames Gestänge, Räderwerk und rätselhaftes Gerät aller Art ist auf Deck zu sehen. Windeln und Kinderwäsche spielen Segel auf ausgespannten Schnüren. Um Kiel und Bug plätschert silbriges Schaumwellengekräuse.

In einem Wächterhäuschen an Bord wohnt der Bootsmann mit seiner Familie. Er hat ein unbestimmbares Alter und stammt aus der Stormschen Novellensammlung. Nordseewind hat sich in seinem Backenbart verfangen, und an seinen Händen klebt sicher salziger Heringsgeruch. Natürlich raucht er auch eine kurze Holzpfeife, sie hängt ihm im rechten Mundwinkel wie ein eingehaktes Fragezeichen. Er spaltet Holz mit langsamen Gebärden. Seine Frau sieht ihm zu, mit einem Säugling im Arm.

Kinder werden hier geboren, wachsen auf und werden alte Bootsmänner mit Backenbart, salzigem Heringsgeruch und kurzen Holzpfeifen. Ganze Generationen von Schiffsmenschen kommen und verschwinden. Gewiß werden die Toten nicht am Zentralfriedhof begraben, sondern in weiße Segel gehüllt und an Ankertauen in die Fluten gesenkt, wo schuppengeschwänzte Nixen sie mit kühl-silbernen Armen aufnehmen.

Der Bootsmann ist, wenn ich ihn frage, aus Neutitschein und bei der Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft engagiert. Er ist ein simpler Neutitscheiner, er kennt nur die Donau und keine Nordsee. Und Heringe kauft er im Delikatessengeschäft.

Wozu fragen?

Kinder spielen am Donaukanalufer. Auf der schmalen wippenden Landungsbrücke, die wie eine hölzerne Zunge des Schiffes das Land bedeckt, rennen sie hin und her, dieweil der Bootsmann schilt und dräut. Wenn man näher hinhört, merkt man ein bißchen Böhmakelndes. Wozu hinhören? Ich denke, der Bootsmann ruft ungefähr: Lüpp de Lüpp nit upp! Oder so.

Auf den alten Ufersteinen, die mit blaugrünem Moos austapeziert sind, zwischen denen grünsamtene Grasbüschel steilgekämmt und justament den Wolken ins Angesicht schauen, ist Wäsche aus der Nachbarschaft gebreitet. Die Fenster der Häuser am Kanalufer stehen weit offen. Alles ist der Sonne preisgegeben.

Das Schiff aber beherrscht, leuchtend und stolz, Fluß und Land, die Häuser und die Menschen. Am Abend, wenn sie aus den Fabriken kommen, holen sie wacklige Stühle vor die Haustüre, setzen sich in Gruppen und reden vom Schiff. In den Nächten träumen alle Kinder von weißen schwimmenden Häusern und schimpfenden Bootsmännern. Und die kleinen Mädchen von Matrosen und fliegenden Holländern.

Über Nacht ist es dann plötzlich verschwunden.

Und ich glaube nicht, daß der alte Bootsmann ein paar Kilometer weiter seine Taue ans Land geworfen hat. Sondern daß er jetzt weiß Gott in welchen Meeren mit seinem weißen Haus herumschwimmt, um an fremden Ufern plötzlich aufzutauchen.

Vielleicht hört ein Schlafloser, dessen Fenster über dem Ufer liegen, in der Nacht ein kurzatmiges Taktprusten der rastlosen Schiffslunge und silbernes Klirren ausgeworfener Ketten. Aber so bestimmt kann man das nicht sagen.

Josephus

Der Neue Tag, 18. 4. 1920

 


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