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Ehre den Dächern von Paris!

Seit einigen Wochen läuft in Frankfurt der französische Tonfilm: »Unter den Dächern von Paris«, und obwohl an dieser Stelle, anläßlich der Uraufführung in Berlin, unser Berichterstatter in besonders auszeichnender Ausführlichkeit das außergewöhnliche Werk bereits gewürdigt hat, erscheint es uns dennoch notwendig, noch einmal darauf hinzuweisen. Uns ist, als müßte man durch wiederholtes Lob die noble Diskretion dieses Tonfilms all jenen liebenswert zu machen versuchen, die seit der Erfindung der tönenden Schatten in den Kinos der europäischen und amerikanischen Städte gezwungen werden, zu vergessen, wie edel heute noch die Stille sein kann und wie golden das Schweigen. Aber es bedürfte auch dieser propagandistischen Nebenabsicht nicht, damit wir die Stimme erheben, um den Preis der Stille zu verkünden; allein schon, um ihr zu danken, müßten wir sprechen.

Die Handlung dieses Tonfilms entsteht ebenso aus der Atmosphäre der Stadt Paris, wie etwa ein Volkslied entsteht aus der Seele einer bestimmten Landschaft. Es ist, als gebäre der zitternde, ewig bewegte Nebel über den Dächern von Paris die Geschehnisse, die sich unter ihnen abspielen. Der leichte, graue Dunst über dem tänzelnden Gewirr der Schornsteine, der das erste Bild des Films überschwebt, gleicht einem Vorhang, der sich auflöst und in das Spiel verwandelt, das er in sich geborgen hat. Ist das Spiel dann zu Ende, so hat es nicht etwa aufgehört, sondern es ist wieder eingekehrt in den fruchtbaren Nebel, der sein Ursprung ist und seine Heimat. Ähnlich entstehen im Kosmos die Wellen und gehen wieder unter. Ähnlich entstehen Lieder und tauchen zurück in die ewigen Gründe der Melodien der Welt. Die Mustergültigkeit dieses Tonfilms beruht denn auch auf der Parallelität und der gesetzmäßigen Gleichnamigkeit des Films und des Gassenhauers, der die Handlung durchwirkt, begleitet und umsäumt. Die Bilder erheben sich aus dem Fluß der Melodie, und sacht und ohne Aufhören umschmeichelt sie die Konturen der Bilder. Alle alte, verfallene, ewig verfallende Süße des Pariser Volkslebens entströmt ihnen: der heitere Moder der kleinbürgerlichen Wohnungen hinter den langen Fenstern von schlanker, fürstlicher Noblesse; der Kaffee- und Schnapsgeruch der engen Bistros, der anmutigsten Sündenpfuhle der Welt, dieser Schenken, die keine Lasterhöhlen sind, sondern Lastergrotten aus dem Märchen. Die lächelnde Anmut der kleinen Mädchen überstrahlt die Gefährlichkeit ihrer kleinen Apachen, aus der Baufälligkeit der Mauern, die allein durch die Gnade des Wunders erhalten werden, glüht das alte neue Leben, und über dem hitzigen Zorn der Kämpfer leuchtet schon die Sonne der Versöhnung. Im lauschigen Rund der kleinen Plätze des Montmartre erklingt die Ziehharmonika, das Instrument der Armen. Ein Bettler, hockend im Winkel, handhabt es. Die langgedehnten Seufzer der Verlorenheit entlockt er ihm nicht, sie scheinen dem vielgefältelten Leib der Harmonika von selbst zu entweichen, und der Musikant ist eher bemüht, sie zu dämmen als sie hervorzurufen. Sie aber, die melodischen Stimmen der Armut, können gleichsam den Lauschern nicht widerstehen, die den Sänger und Verkäufer des Gassenhauers umringen, für alle Herzen im Rund, in denen die echten, aber stummen Seufzer verborgen sind, erklingen sie als Echo. Und die falschen Stimmen, die das Lied singen, und der kreischende Wohllaut des Instruments, der die Sänger ebenso begleitet, wie er den bewegten Tanz der Schornsteine auf den Dächern von Paris zu kommandieren scheint, ergeben zusammen den heiligen Choral der kleinen, heiteren Armut. Gereinigt durch den Gesang, die Ziehharmonika, die lauschende Andacht sind sie alle, und eingeschlossen im Ring des kleinen Platzes, der die Strophen des Gassenhauers ebenso zärtlich umrandet wie das Rund der Zuhörer. Auch den Taschendieb noch, der die Versunkenheit der fetten Portiersfrau schmählich, aber auch schelmisch mißbraucht, um ihr Handtäschchen zu leeren, bindet die Musik an sein Opfer. Um so mehr noch sein Verrat an der Kameradschaft der Lauscher als sein Diebstahl beleidigt unser Gewissen. Er macht sich weniger eines Verbrechens schuldig als gleichsam eines Sakrilegs: Er stört die Andacht, er unterbricht die Weihe des Orts und der Begebenheit; er schändet die Religiosität dieses »Milieus«.

Sieh, wie sie die letzte Zigarette teilen, um gleich darauf in Streit zu geraten, um wiederum gleich darauf einander in die Arme zu fallen! Welch zärtlicher Pomp der Pantoffeln, die der Verliebte seinem Mädchen kauft! Wie viele Jahre des Ekels und der Gleichgültigkeit im Ehebett der alten Portiersleute und wieviel sinnliche Süße in jener ersten Liebesnacht zwischen den jungen Leuten, die aus Keuschheit das Bett verachten, um beide am Boden zu schlafen! Wieviel rührende Treulosigkeit in dem kleinen Herzchen des kleinen Mädchens, das aus Verzweiflung über die Verhaftung des Freundes unmittelbar in die Flitterwochen mit dessen Kameraden fällt; ja, fällt! Denn es ist ein schönes, sachtes Fallen in ihrem Leben, sie gehorcht den Gesetzen von der Schwerkraft, die sie lächelnd befehlen, ein reizendes Geschöpf der Torheit, die vollkommenste Personifikation der weiblichen Schwäche. Es ist, als hörte man das sündige, dünne Stimmchen ihres roten Blutes. Sie fällt, sie fällt! Sie liebt, sie tanzt, man würfelt um sie, den lieben Gegenstand! Heute läßt sie sich erobern und morgen lediglich gewinnen. In ihrer schönen kleinen Brust sind ihres Zufalls Sterne.

Die ganze Anmut der Verlorenheit ist in diesem Tonfilm. Keiner von allen, die hier spielen, wird diese Welt verlassen. Immer tiefer werden sie hinabsinken, eintauchen in den Berg der Jahre, die anrollen, unaufhörlich, lächelnd, im Gesang der Ziehharmonika. Die Wehmut wird immerdar die Schwester ihrer Freuden sein. Sie werden immer trinken, lieben, würfeln, stehlen. Ihr Schicksal ist unerbittlich. Das gibt dem Film die Trauer. Aber die Unerbittlichkeit ist eingetaucht in Milde, sie ist gleichsam geradezu erbittlich. Deshalb ist der Film so heiter.

Frankfurter Zeitung, 28. 10. 1930

 


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