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Wiener Hoffnungslichter

Die Nachtbeleuchtung der Wiener Cafes

Sie brannten gestern zum erstenmal und offenbarten eine gewisse Eigenschaft, von der man in guter Gesellschaft nicht gern spricht. Um deutlicher zu werden: Sie dufteten nicht...

Also, die Sache begann so: Um 10 Uhr stellte ein Mann ein Gefäß auf einen Tisch. Ein Gefäß, das man ebensogut für eine Handgranate wie für eine vorsintflutliche Lampe aus dem Tempel der Astarte von Sidon aus dem Jahre 700 v.Chr. halten konnte. Dazu kam eine Leiter, wie sie Zimmermaler zu benützen pflegen. Die Musik brach ab. Eistassen blieben unausgelöffelt. Schwarze wurden kalt. Unter allgemeiner andächtiger Aufmerksamkeit bestieg der Mann die Leiter. Ein Kellner reichte ihm die Lampe.

Nach fünf Minuten erschien am oberen Lochrand des Gefäßes ein Etwas. Der Ober sagte, das wäre ein Docht.

Und alle glaubten es.

Der Mann auf der Leiter brannte ein Streichholz an. Es verlosch. Ein zweites. Ein drittes. Ein viertes. Ein fünftes. Eine ganze Schachtel.

Der Ober brachte ihm eine neue.

Ich zählte: Beim zweihundertzweiunddreißigsten fing jenes Etwas, von dem ein offenbar phantasiebegabter Kellner gesagt hatte, es wäre ein Docht, zu brennen an. Ein blaues Flämmchen flackerte. Es war kein Zweifel: Die Azetylenlampe war da. Wiens neueste Kaffeehauserrungenschaft. Wiens Nacht- und Hoffnungslicht...

Es drohte jedesmal auszulöschen. Es war beleidigt. Konnte die noch brennenden protzigen elektrischen Lichter nicht vertragen. Weshalb das Fräulein an der Kasse »Auslöschen!« kommandierte.

Und eh' man sich's versah, war's finster.

Nur die blauen Flämmchen brannten an einigen Tischen und zwei an der Decke. Es war wie im Bergwerk. Eine undefinierbare Gestalt ging von Tisch zu Tisch. Es war der Herr Direktor. Er sagte nicht: Ergebenster! Auch nicht: Habe die Ehre! Und nicht: Küss' die Hand! ...

Er rief: Glück auf!

Die Musik intonierte: In der Nacht, in der Nacht... An meinem linken Nachbartisch erwachte die Liebe. Es war wie im Kino. Einfach zum Küssen ...

Nur der Mond störte. Ausgerechnet Vollmond! Durch keinerlei Kohlennot gedrosselter Vollmond.

Infolgedessen begann die Musik: Droben, wo die Sternlein stehn ...

Als ich zahlen wollte, fand ich im Lichte der Azetylenlampen den Ober nicht. Er war seinerseits damit beschäftigt, Gäste zu suchen, deren Verschwinden der erste Segen der neuen Lichtquellen war...

Auf meinem Rundgang durch die Stadt beobachtete ich die herrlichste Silvesterstimmung. Diese neuen Lampen! Irgendwo hörte ich Champagnerpfropfen knallen. Man begrüßte das neue Licht.

Am Ring saß Goethe und zitierte: Mehr Licht! ...

Im Café Zentral leuchteten die Geistesblitze zur Genüge ...

Im Scheine dieser schrieb ich das Obige ...

Josephus

Der Neue Tag, 13. 8. 1919

 


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