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Im März lockt eine vielversprechende Sonne hier und dort ein »Ringelspiel« aus dem Vorstadtboden. Man fährt eine endlose Straße entlang, an grauen Zinshäusern vorbei, die Kaufläden werden immer spärlicher, die Kinder schmutziger. Knapp vor dem Viadukt gähnt die Straße plötzlich, ihre Kinnbacken sind sperrangelweit offen und lassen einen freien Platz sehen, eine Wiese oder so. Man weiß nicht recht, was das sein mag. Die Stadt hat sich noch nicht entschieden, ob sie sich hier fortsetzen oder enden soll, es ist überhaupt soviel Zaghaft-Ungewisses in dem Bretterzaun, der am liebsten schon ganz auf dem Boden liegen möchte und nur noch aus Repräsentationspflichten sich mühsam-gebeugt hält; in dem Gras, das zwischen dem Grau der Straße und dem Grün des Frühlings unentschlossen aus dem Boden sprießt; in den Menschen, die am Hals eine städtische Krawatte haben und ländliche Stiefel an den Füßen.
Hier beginnen die Ringelspiele.
Der Platz badet, schwimmt im Frühlingslicht. Als hätte man aus Kübeln Sonne auf den Boden geschüttet. Kinder buddeln in aufgewühlten Erdhaufen. Ein philosophischer Pudel wundert sich über den Mangel an Fliegen bei dem Sonnenwetter. Ein paar Eisenbahner, Pfeifen im Mund, stehen wie blaue Pinselstriche in der Landschaft. Sie duften nach Steinkohle und Sehnsucht. An der Wiesenböschung rastet ein Rudel junger Menschen.
Und in der Mitte, von einem Draht abgesperrt, ist das Karussell.
Ein dicker Stamm verzweigt sich an seinem oberen Ende. Er sieht aus wie ein tausendfach vergrößertes Skelett eines Regenschirms. An langen Ketten schwanken Sitzbretter. Und zehn Burschen stehen oben auf einer Art Karussell-Dachboden und zerren an den Ketten, immer rundherum, rundherum. Wer einen halben Tag gezogen hat, darf zehnmal hintereinander umsonst Ringelspiel fahren.
Herr Rambousek, Ringelspieldirektor, ist imposant. An seiner silbernen Uhrkette baumelt ein Elefantenzahn. Herr Rambousek hat einen Anzug aus blauem geripptem Samt. Eine Reitpeitsche schwingt er – schwups! Knall! Hast du nicht gesehn? – in der Rechten. Und nach jeder Runde läßt er einen schrillen kleinen Schrei seiner Pfeife entfahren. Die Buben auf dem Dachboden hören auf, sich zu drehen. Die Kreisbewegungen der Sitzbretter verebben auf Befehl der Pfeife. Dann geht Herr Rambousek – schwups! Knall! Reitpeitsche in der Rechten, Sportkappe in der Linken – von seinen Passagieren das Reisegeld absammeln. Zwanzig Heller für die Runde.
Drüben poltert ein Spielkasten, Polonaisen im Galopp. Rasende Baßtöne stürzen sich schnaubend auf junge Quetschlaute. Balgerei unter den Klängen. Im Bauch des Kastens muß Fürchterliches vorgehen. Die Molltöne unterliegen. Natürlich. War vorauszusehen. Wenn Herr Rambousek pfeift, liegt alles, Dur und Moll, tiefes G und hohes Cis, durcheinander auf dem Boden.
Herr Rambousek hat Familie. Alle wohnen in einem Waggon auf Rädern. Herr Rambousek kommt weit herum und ist jederzeit reisefertig. Er braucht nur zwei Pferde vorzuspannen. Und dann sitzt er auf dem Kutschbock – schwups! Knall! Hast du nicht gesehn? – Fort ist er!
Ich wüßte gern, wie Herr Rambousek das mit seinem Paß macht und mit den Grenzen.
Aus dem Waggonhaus hörst du einen Säugling jammern. Frau Rambousek ist im Negligé – es ist erst vier Uhr nachmittags.
Sie gießt mit theatralischem Schwung schmutziges Spülwasser aus einer Schüssel über den Platz. Der Pudel ist aufgeschreckt aus seinen Grübeleien. Seine Gedankenkette ist patschnaß geworden. Er zittert, triefend vor Nervosität und Nässe.
Auf weitgespannten Schnüren hängt Wäsche. Der Wind bläht die Intimitäten der Familie Rambousek. Der Platz sieht aus wie ein Segelschiff.
Über dem Ganzen leiser Hauch einer halbvergessenen Romantik. Landstreicherluft. Drei Zigeuner sah ich einmal, lieblich war die Maiennacht ...
Vom Boden steigt warmer Märzduft empor, man riecht Blühen irgendwo. Der Säugling jammert noch immer, der Spielkasten tobt.
Und Herr Rambousek, immer obenauf, leichtbeschwingter Tänzer über der Beschwer des Alltags – schwups! Knall! Hast du nicht gesehn? – ruft: Eine Runde! Eine Runde!
Josephus
Der Neue Tag, 25. 3. 1920