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Ödenburg

Ich würde ein großes Tor errichten als Eingangspforte und mit riesigen, weithin sichtbaren Lettern darüberschreiben: Nomen est omen! Denn nie sah ich eine Stadt, zu der der Name besser paßte.

In Ödenburg stehen alle Uhren. Ich glaube: Die Uhren streiken. Denn Ungarn wollte der europäischen Zeit um eine ganze Stunde vorauseilen, und die Räteregierung führte, um die konservativen Bauern zu ärgern, die Sommerzeit ein. Die westdeutschen Komitate kümmerten sich nicht darum: In allen deutschen Dörfern zeigen die Turmuhren die mitteleuropäische Zeit.

Auch die Ödenburger Uhren sahen ein, daß Ungarn, statt der Zeit um eine Stunde vorauszueilen, um ein paar Jahrhunderte zurückgeblieben war. Da sie aber die kommunistischen Machthaber der Stadt fürchteten, gingen sie nicht mitteleuropäisch, sondern blieben stehen. So weiß man in Ödenburg nie, wieviel es geschlagen hat: auch politisch nicht. Denn Budapest ist weit, und die neuesten Nachrichten nehmen den kleinen Umweg über Wien, um nach Ödenburg zu gelangen.

Ödenburg hat 50 000 Einwohner und hält sich also für berechtigt, eine elektrische Straßenbahn vom Südbahnhof zum Raaber Bahnhof und zurück pendeln zu lassen. Die Elektrische trägt keine Nummer, keine Tafel, sondern die Aufschrift: »Kauft Milka-Suchard!« Aber die Aufforderung vermag keinen darüber zu belehren, ob der Wagen zum Raaber oder zum Südbahnhof fährt. Das wissen nur die Einheimischen, und die gehen infolgedessen zu Fuß.

Bis zehn Uhr vormittags sind die Kaffeehäuser offen. Man bekommt eine Portion »Vörös Ujsag« und dazu einen Fingerhut Schwarzen. Wenn man Blaugeld hat, kann man sich den Sport, will sagen: die Sport um eine Krone achtzig leisten. Als Rest bekommt man ein paar Papierschnitzel mit buntem Aufdruck. Es sind keine Briefmarken, sondern Geld. Ungarisches Geld.

Im »Deutschen Haus« kann man eine Anweisung auf Quartier und Essen bekommen. Da die Amtsstunden um neun Uhr beginnen, kommt der kommunistische Beamte schon um halb elf. Er hat einen glänzend pomadisierten Schädel und tadellose Bügelfalten. Er sagt dem Türsteher »Genosse« und »Ala solgaja!«, worauf der an der Tür stehende Genosse zusammenklappt wie ein Patent-Taschenmesser. Denn in Ödenburg sind alle Menschen gleich.

Die Quartieranweisungen werden hier zur Abwechslung nicht auf weißem, sondern auf rotem Zigarettenpapier ausgestellt.

Wenn man aber speisen will, so geht man nicht dorthin, wohin man gewiesen wurde, sondern in einen kleinen nicht-sozialisierten Betrieb. Die kleinen Betriebe wurden bekanntlich nicht sozialisiert und bekommen infolgedessen so viel Zuspruch, daß sie beim besten Willen nicht klein bleiben konnten. Dagegen wurden die großen, sozialisierten Betriebe kleine Tohuwabohus.

In den nichtsozialisierten Betrieb kommt auch der Herr Stadtkommandant, von Beruf Buchdruckergehilfe und im Kriege zum Stabsfeldwebel avanciert. Jetzt trägt er Offizierskappe und -bluse, weiße Hose, Sporen und eine Reitgerte. Wenn er das Gasthaus betritt, springt das ganze speisende Ödenburg auf. Denn in Ödenburg sind alle Menschen gleich ...

»Der Ödenburger Proletarier« enthält vier Seiten amtlicher Kundmachungen in miserabelstem Deutsch und hat vierundzwanzig Redakteure, von denen nur einer Journalist von Beruf ist. Die anderen sind Setzergehilfen. In der Zeitungsdruckerei wird das Ödenburger Stadtgeld gedruckt.

Der frühere Herausgeber und Chefredakteur ist in keiner Gewerkschaft organisiert und verhungert langsam, aber sicher. Er hat eine Monatsgage von 450 Kronen, die »Redakteure« bekommen 4000 Kronen monatlich.

Der Obmann des Deutschen Gaus residierte in Odenburg. Er hieß Geza Zsombor und gab sich für einen Deutschen aus. Er paktierte mit den Anschlußfreunden, verriet diese bei der Räteregierung, und es gelang ihm, nach Paris zur Friedenskonferenz zu kommen, wo er bald den Anschluß betrieb, bald zu verhindern suchte. Geza Zsombor wohnt jetzt in Wien und wartet auf weitere Konjunkturen ...

Von 10 bis 6 Uhr täglich kannst du in Ödenburg verhungern, ohne daß sich jemand um dich kümmert, wenn du nicht organisiert bist.

Ich ging in ein beliebiges Privathaus und bat um Essen. Ich bekam Brot und saure Milch und sprach mit einer ungarischen Dichterin, die über den Sturz Bela Kuns klagte. Es gibt auch ehrliche Kommunisten in Ödenburg. Sie sind entweder Dichter oder Narren oder beides.

Ödenburg hat auch etwas Schildamäßiges wie jede Kleinstadt. Ein junges Mädchen aus Ödenburg – so ging die Sage – sei in Wiener-Neustadt verhaftet und eingesperrt gewesen. Das Mädchen kam in ihre Heimatstadt und wurde von allen ehrlichen Ödenburgern boykottiert. Sie mußte nach Wien flüchten. Jetzt wird sie wahrscheinlich ausgewiesen und den Schildbürgern von Ödenburg erbarmungslos ausgeliefert. Denn Schildbürger und Schildbürger halten fest zusammen: die von Wien und die von Ödenburg ...

Unheimlich ist Ödenburg in den Abendstunden, wenn die Rotgardisten spazierengehen. Sie haben das Recht, Passanten anzuhalten und zu visitieren. Und unter »Blaugeld« versteht man: Uhren, Ringe, Zigarettendosen usw.

Am Abend verließ ich Ödenburg und wanderte in die Umgebung; denn ich hatte bloß eine Taschenuhr ...

Der Neue Tag, 8. 8. 1919

 


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