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Lyon

Acht Stunden dauert die Fahrt von Paris nach Lyon. Unterwegs verändert sich die Landschaft sehr plötzlich. Nachdem man einen Tunnel passiert hat, ist man in einer südlicheren Welt. Steile Abhänge, gespaltene Felsen, die ihre steinerne Struktur enthüllen, tieferes Grün, weicher, blaßblauer Rauch von stärkerem, entschiedenem Himmelblau. Ein paar Wolken stehen träge und massiv am Horizont, als wären sie nicht Dunst, sondern dunkles Gestein. Die Konturen aller Dinge sind schärfer, die Luft ist unbeweglich, ihre Wellen umschmeicheln die festen Körper nicht mehr. Jeder hat seine unverrückbaren Grenzen. Nichts schwebt mehr zwischen hier und dort. Es ist unbedingte Sicherheit in allem, als wüßten die Gegenstände mehr von sich und ihrer Stellung in der Welt. Hier zweifelt man nicht mehr. Hier ahnt man nicht. Man weiß.

In Lyon zeigt das Thermometer 35 Grad. Es ist sehr heiß. Dennoch sind Straßen und Menschen nicht träge und müde, sondern heiter und bewegt. Jeder Mensch bemerkt: »Diese Hitze!« und beweist also, daß er sie noch frohgemut erträgt. Der Gepäckträger sagt es, der Chauffeur und der Liftboy. Nur der Zimmerkellner glaubt, es wäre eine unerlaubte Intimität, von der Temperatur zu sprechen. Er kämpft einen schweren Kampf mit sich. Da sage ich: »Diese Hitze!«, und er ist befreit, als hätte ich ihm Kühlung verschafft.

Dieser Kellner ist höflich wie alle seine Lyoner Kollegen. Sie haben nicht die subalterne Höflichkeit des Bedienens, sondern die selbstbewußte des Bewirtens. Ich bin ihr »Gast« nicht nur im fachtechnischen Sinn. Wenn sie so beschäftigt sind, daß sie mich nicht anhören können, lächeln sie wenigstens. Ich weiß, daß sie mich nicht vergessen, daß sie wiederkommen. Sie erklären mir, wie die Speisen aussehen, die sie mir empfehlen, ohne Übertreibung, aber mit überzeugender Rhetorik. Sie unterscheiden sich sehr vorteilhaft von ihren Pariser Kollegen, die hastig sind und Geschäftsleute mit Bravour.

Die Lyoner sind höflicher als die Pariser, nicht nur, weil sie ruhiger sind und mehr Zeit haben, sondern auch, weil sie vornehmer sind. Lyon ist eine alte Stadt, es ist 43 Jahre vor Christi Geburt gegründet worden. Der Führer berichtet, daß Augustus in Lyon einen Palast, mehrere Monumente und einen Aquädukt von 84 Kilometern hat aufführen lassen. Dieses alte Lyon liegt am rechten, ziemlich jähen Ufer der Saône. Steinerne Treppen verbinden die übereinanderliegenden Gassen. Die Häuser steigen steil an, ihre Dächer bilden Stufen. Eine Zahnradbahn führt zur Höhe und zur Kathedrale, die ihre stolze Front wie ein herrschendes und wachendes breites Angesicht der Stadt zugewendet hat – der alten, der späteren zwischen Rhône und Saône und der jüngsten, am linken Ufer der Rhône entstandenen und immer noch wachsenden.

Es sind drei durch die Flüsse Saône und Rhône voneinander getrennte Städte. Dank den Flüssen drei Städte von verschiedenem Charakter. Es ist an diesem Beispiel zu sehen, wie sehr Wasser scheiden kann. Im ältesten Teil mischt sich Heidnisches mit frühem Mittelalter und mit der Gegenwart in einer lebendigen und intimen Weise. Steine, Töpfe, Brunnen, Scherben, Tiergestalten überall. Das Steinbild eines Hundes vor einem Garten, in dem Rosen blühen, trägt die Inschrift »Cave canem«; und es ist beruhigend zu sehen, daß die Schulgrammatik wirklich recht hatte.

In diesem ältesten Teil der Stadt ist kein historisches Andenken tot. Die alten Gegenstände liegen an den Wegen. Das neue Leben blüht nicht aus den Ruinen. Die Ruinen blühen im neuen Leben. In einem Museum wären sie Gegenstände der Bildung gewesen. Hier aber entdeckt jeder Vorübergehende jeden Stein aufs neue, und jeder fühlt die Wonnen des ersten Entdeckers.

In dieser Stadt wird die französische Seide erzeugt, die in alle Länder der Welt geht. Hier leben Chinesen, Levantiner, Spanier, Tunesier, Araber. Man arbeitet, wie man nur in einer deutschen Stadt zu arbeiten versteht. Aber man freut sich, ißt und lebt, wie man nur in einer französischen sich freuen, essen und leben kann. Ein Fremder ist hier weniger fremd als in Paris. Niemand wundert sich über ihn. Viele Welten stoßen hier zusammen. Griechische, polnische, spagniolische Juden machen hier Geschäfte. Die Seide ist ein edles Produkt. Ich glaube, daß es ein großes Vergnügen ist, an der Seide zu arbeiten. Aber ein größeres, an ihr zu verdienen.

Die Fabrikanten haben Villen jenseits der Rhône. Hier wohnen auch die Arbeiter – aber nicht in Villen, sondern in Mietskasernen. Am Abend gehe ich hierher. Nur bei den Armen fühlt man den Abend. Den andern ist er die Fortsetzung des Tages. Den Armen ist der Abend die Ruhe. Sie sitzen vor den Türen, sie stehen vor den Fenstern, sie wandeln langsam zu den Ufern und sehen ins Wasser. Aus ihren harten Händen rinnt die große Müdigkeit des Tages. –

Frankfurter Zeitung, 8. 9. 1925

 


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