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20 Minuten vor dem Krieg

In einem Pariser Kino zeigt man Aktualitäten der tausendfach vergangenen, weil durch den Krieg von uns geschiedenen Wochen, die Aufnahmen der altgewordenen Neuigkeiten, der Moden, der Tänze, der Fünf-Uhr-Tees einer Epoche, die aus ihrer läppischen Lächerlichkeit unmittelbar in ein blutiges Grauen hineintänzelte – einer Epoche, die so verlogen war, daß sie die Wahrheit ihres eigenen Untergangs gar nicht mehr erlebte. Sie war vor ihrem Tode schon tot. Ihre Kinder waren zu Lebzeiten schon Gespenster, in Gartenlauben aus Pappe gezeugt.

Die regelmäßig bei jedem Programmwechsel sich erneuernden alten Filme laufen unter dem ständigen Titel: »20 Minuten vor dem Krieg«. Ihretwegen ist das Kino täglich ausverkauft, manchmal überfüllt. Alle Söhne gehen hin, ihre Väter auszulachen. Das große Familienalbum der Vergangenheit wird vor ihnen aufgeblättert. Es besteht aus Gräbern, die kein Grauen ausströmen, sondern unwiderstehliche Komik. Die Wirkung der Bilder gleicht ungefähr jener, die durch zwanzig Zylinder bei einer Leichenfeier hervorgerufen wird: Über der Lächerlichkeit der Hüte verliert man den Schauer vor dem Sarg. Es entsteht eine sehr merkwürdige Art von Grauen, das nicht die Seele, sondern das Zwerchfell tangiert.

Wir sitzen vor der Leinwand und sehen eine jener alten preußischen Militärparaden, den Stechschritt der Regimenter zu Ehren des Kaisers, die wedelnden Pferdeschwänze an ihren natürlichen Orten und auf den Helmen, die fetten, dienstbeflissenen Gesichter, aus steifen Kragen hervorgepreßt und um künstliche Doppelkinne bereichert, Lakaien in Bratröcken, Bärte aus blondem Zwirn. Von Stolz und Eifer gezeugter Schweiß tropft auf knarrende Hemdbrüste, glänzende Manschetten aus leinwandähnlichem Blech rutschen über verlegen geschäftige, Hüte abreißende, Fähnchen schwenkende Hände. – Wir sehen die Pariser Menge von 1910, die den französischen Präsidenten erblicken möchte, Männer mit zusammengerollten Würsten aus schwarzer Seide, die Regenschirme im Ruhestand sind, mit Zwickern an breiten Halsbändern, die im Winde schaukeln wie Hängematten für Sommerfliegen, mit Krawatten, die wie Matratzen über Brüste gebettet sind. Wir sehen Frauen in langen Schleppen, die wie unabsichtlich mitgezogene Teppiche sind, in Überziehern, die an den Hüften plötzlich Glocken werden, in kleinen Kapotthütchen, vielfach gestalteten, auf hohen Haartürmen sitzenden, mit Bratspießen befestigten. Alle Frauen haben die Form runder Türme, unten breit, oben schmal, wenn sie stehen, verdeckt das Kleid ihre Füße, es ist im Straßenpflaster eingepflanzt, im Innern von einem Drahtgerüst gehalten. Auf der Spitze des Turms wimmern drei Kirschen aus Glas ...

Man sieht den allerneuesten Pariser Tanz von 1908, vom berühmtesten Tanzprofessor jener Zeit vorgetrippelt. Der Professor trägt einen Cutaway mit blonder Weste, einen geschlossenen Stehkragen, der den Hals umgibt wie eine geschliffene Festungsmauer, ein kleines, schwarzes, gezwirbeltes Schnurrbärtchen. Er hat winzige Füßchen, er tanzt auf den Füßchenspitzen, mit Daumen und Mittelfinger hält er Daumen und Mittelfinger seiner Dame. Er trippelt zwei Schrittchen vor, eines zurück, dreht sich um seine Achse, legt das Köpfchen kokett auf die Schulter, betrachtet seine Füßchen und klappert mit schamhaften Augenlidern den Takt zu seinen Bewegungen.

Man sieht die Modeschöpfungen eines alten großen Ateliers: Vom Hals bis zu den Hüften sind Mannequins Atlaspanzer, von den Hüften bis zum falschen persischen Teppich sind sie Vorhänge von Provinzbühnen. Manchmal, wenn es hoch und schamlos hergeht, entblößen sie unzüchtig einen Ellenbogen, die Verworfenen! Und wenn sie sich setzen, heben sie mit zwei Fingern das Kleid und locken mit sittlich verderbten Knöcheln. Oh, wie kupplerisch sind die Moden! Große, aus Draht geflochtene, mit Samt und Tüll überzogene Teller wackeln auf den Köpfen, Straußfedern schaukeln auf den Tellern, fallen als Fliegenwedel ins Gesicht. Über die Kleider gehängt sind Bettvorleger, dreieckige, die in einer Troddel endigen. Alle Frauen legen, wenn sie lächeln, den Kopf auf eine Schulter. Und wann lächeln sie nicht, die Neckischen? Sie schlagen die Augen auf und zu, wie kostbare Schreine, in denen Versprechungen liegen ...

Man sieht Filme, die vor dem Kriege gedreht wurden, zum Beispiel den von den Banknotenfälschern. Der junge Mann verbreitet das falsche Geld, um die Ansprüche seiner verworfenen, bis zum Hals zuchtlos zugeknöpften Geliebten zu befriedigen. Er wird entdeckt, seine Mutter kommt, er stand verborgen hinter einem Paravent. Jetzt stürzt er hervor, vom moralischen Impetus seiner Wandlung fällt die chinesische Wand um, er selbst folgt ihr und legt sich, mit steifem Oberkörper, in einem Winkel von 90 Grad auf die Knie, erhebt sich, von einer göttlichen, unsichtbaren Schnur hochgezogen, fällt mit hebelartig ausgestreckten Armen seiner Mutter um die Federboa, die ihr Hals ist.

Vor solch erschütternden Ereignissen sitzen wir da, die Kinder der Gegenwart, die Überwinder Darwins und Ibsens, der unverstandenen Frau mit der »Pleureuse«, der Suffragette sogar, der Paradeuniform, des Regenschirms, des Vollmannes und des Suderbarts, der Schleppe und der Turmfrisur aus Zopf und Spießen; wir, die Betrachter der Neger-Revuen, der nackten Mädchen, wir im Trommelfeuer Gehärteten und Gezeugten, Verächter der schönen Lüge, Bekenner der sozusagen häßlichen Wahrheit. Vor dem ganzen verlogenen Jammer unserer Väter, die den Film erfunden zu haben scheinen, um uns ihre Lächerlichkeit zu überliefern, lachen wir, lachen wir. Wir haben Boxer und Sportidioten, Amerika und Dauerläufer, Girls, die von Pastoren gezüchtet werden, eine Internationale sonntäglich wehender Windjacken. Aber wir haben keine Mieder statt der Brüste, keine Federboas statt der Hälse, keine Vorhänge statt der Beine und statt der Tragik keine Zylinder! Wo der Stechschritt noch ertönt, ist er bewußt verstorben, die Paraden dieser Zeit weihen schlimmstenfalls lebende Denkmäler ein (und nicht tote). Wir sind keine Optimisten, aber wir erwarten das Selbstverständliche. Wir wissen, daß die »Pleureusen« zum Stahlhelm führen mußten, daß ein gerader Weg sich zieht vom züchtigen Schleier zur Gasmaske und von der Gartenlaube zum Schützengraben. Und jenen Landsturm ohne Waffe, der die Felder der Ehre gepflügt hat, um uns dann hinzusäen mit weinerlichem Segen – diesen verlogenen Vorabend des Krieges verlachen wir jeden Abend zwanzig Minuten lang, nicht länger, aus voller Brust. –

Frankfurter Zeitung, 11. 6. 1926

 


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