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Solange Bela Kun regierte, stand es zweifellos fest, daß eine eventuelle Abstimmung über den Anschluß Westungarns an Deutschösterreich zugunsten Deutschösterreichs ausfallen würde. Der Kommunismus fand gerade in Deutsch-Westungarn am spätesten Eingang, und der zähe Konservativismus der westungarischen Bauernschädel machte der Budapester Räteregierung mehr zu schaffen als die politischen Umtriebe der gestürzten Magnaten und Junker. Bald bewaffneten sich deutsche und kroatische Bauern in der Umgebung Ödenburgs, fest entschlossen, die Rotgardisten nicht nur nicht in die Dörfer zu lassen, sondern auch die Stadt Ödenburg zu überfallen und zu erobern. Die Bauern legten Schützengräben an und verteidigten sich vierzehn Tage lang gegen die Rotgardisten. Erst vor der Artillerie mußten sie weichen. Die einziehenden Rotgardisten hielten strenges Gericht: Ein Pfarrer wurde standrechtlich erschossen, ein paar Bauern aufgehängt, einige zu lebenslänglichem Kerker verurteilt. Die am Leben und in der Freiheit blieben, verbargen ihren Haß auch weiterhin nicht und warfen die kommunistischen Agitatoren zum Dorfe hinaus. Der Terror der in der Gegend herumvagabundierenden Räuber, die die Organisation der »Leninbuben« bildeten, die ewigen Requisitionen, Alkohol- und Tanzverbote der Räteregierung, nicht zum geringsten Teil auch ihre Geldmißwirtschaft erweckten in den Bauern das Verlangen, Ungarn Lebewohl zu sagen und den Anschluß an das sprach- und stammverwandte Deutschösterreich zu suchen. Selbst die magyarischen Bauern Westungarns antworteten, als man ihnen vorhielt, daß sie der deutsch-österreichischen Regierung die gesamten Viehbestände würden ausliefern müssen, daß sie lieber den Deutschösterreichern ihre Kühe als an Bela Kun ihren ganzen Besitz geben wollten. In Kapuvar, einem rein magyarischen Dorfe, sagte mir ein Deutsch radebrechender Bauer, mit dem ich über den Anschluß sprach, daß alle Magyaren im Falle eines Anschlusses nach zwei Monaten Deutsch gelernt haben würden.
Mit dem Sturze der Räteregierung zog neue Hoffnung in die Gemüter der Deutsch-Westungarn ein. Zwar ist im Lande noch herzlich wenig von einer Änderung der Situation zu spüren. Die elenden Eisenbahn- und Postverbindungen in Ungarn verhindern eine rasche Durchführung der neuen Regierungserlässe, und während zum Beispiel in Budapest das Alkoholverbot längst aufgehoben ist, kann es passieren, daß ein Schankwirt in Wieselburg vor das Revolutionsgericht gestellt wird, weil er einem Reisenden ein Stamperl Schnaps verkauft hat. Die Organe der Räteregierung halten sich immer noch in den Amtsstuben Deutsch-Westungarn fest. Sie hoffen, ihre Dienste würden auch von einem anderen Regierungssystem geschätzt werden, und auf eine Gesinnungsänderung mehr kommt es ja gar nicht an. Das ganze Geschmeiß der Detektive und Lockspitzel lungert immer noch auf allen Bahnhöfen herum und verhaftet mir einer unnachahmlich geschickten Anpassungsfähigkeit den Verhältnissen entsprechend sowohl jene, die für, als auch jene, die gegen die Räteregierung sich laut äußern. Die Rotgardisten überfallen immer noch wehrlose Juden auf offener Straße, um Blaugeld zu requirieren – auch Taschenuhren sind unter Umständen Blaugeld – temporamutantur-Spitzel, Rotgardisten und Macher in Volksbeglückung bleiben ... Trotz alledem ist die Stimmung: Warten wir ab! Man weiß ganz gut, daß die rein sozialistische Regelung nicht von Dauer ist, und hofft. Der Glaube: Extra Hungariam non est vita hält jeden ungarischen Bürger ohne Unterschied der Nationalität in seinem starken Bann. Extra Hungariam non est vita – in Deutschösterreich werden wir krepieren! Also: Warten wir ab! ...
Denn der westungarische Bauer hat kein Nationalgefühl. Es ist höchstens ein Stammesgefühl und nicht einmal das ganz. Der verachtet den Fremden, ob dieser ein Budapester oder ein Wiener ist. Er begreift, daß er kulturell höher steht als sein Nachbar, der Magyare oder der Krowot. Er will seinen Erlaß in deutscher Sprache haben. Nicht so sehr, weil er die deutsche Sprache liebt, sondern justament, weil man in Budapest mit ihm Ungarisch sprechen will. Er will seinen deutschen Lehrer haben: Der Bub soll Deutsch lernen, wie er es selbst gelernt hat. Instinktmäßig, triebhaft, ganz, ganz dunkel fühlt er sich vielleicht eins mit dem ganzen Deutschtum der Welt. Bewußt kommt es nie zum Ausdruck. Das Schicksal des großen Deutschen Reiches kränkt ihn nicht. Was ist ihm Berlin?! Einen Norddeutschen haßt er, weil er ihn nicht versteht. Er weiß nicht einmal, ob er selbst Deutscher ist. Ich habe etwa fünfzig Bauern gefragt: »Sie sind Deutsche?« Zwanzig von ihnen sagten: »Na, mir san Ungarn.« Die anderen dachten angestrengt nach, um schließlich zaghaft zu stottern in der Angst, vielleicht doch nicht richtig verstanden zu haben: »Ja, mir reden deutsch!« Das ist es: Sie sprechen mehr deutsch, als sie es sind ...
Nationalehre? Volkszugehörigkeit? Das gilt den wenigsten etwas. Braucht der Bauer von Deutsch-Kreuz seinen Goethe? Er braucht sein Geld, seinen Boden. Wenn Goethe morgen zu ihm käme und ihn um ein Nachtquartier bäte, er wiese ihn ab.
Die Vorteile für Deutschösterreich liegen auf der Hand. Was aber können wir den Westungarn bieten?
Das ist der springende Punkt: Wir können ihnen wenig geben und doch unendlich viel! Eben das, was ihnen fehlt: den Zusammenhang mit der deutschen Kultur. Was sie vom Deutschtum haben, ist nicht viel mehr als Abstammung, Sprache und Sitte. Aber es fehlt der Zusammenhang mit der großen deutschen Geistesgemeinschaft. Von deutscher Kultur kann in diesen Gegenden keine Rede sein. Es ist bloß deutsche Ordnung, deutsches Gemüt und deutsche Sitte. Aber das ist gerade nicht wenig. Wir könnten den Deutsch-Westungarn noch dazu den Glauben geben, daß extra Hungariam nicht nur vita ist, sondern sogar höheres Leben. Nicht nur Korn und Weizen und guter Wein und Gulasch und Paprika. Extra Hungariam gibt es noch ganz andere Dinge ...
Nur dürfen wir nicht gewaltsam bekehren. Es wird sicherlich zur Volksabstimmung kommen. Es ist schwer anzunehmen, daß die Ungarn nicht Gewalt oder List anwenden würden. Schon Ende April dieses Jahres wurden neunhundert stockmagyarische Studenten in das Komitat Odenburg gebracht, damit sie die Abstimmung beeinflussen. Ohne eine militärische Besetzung des Landes durch eine neutrale Macht wird die Abstimmung kaum vor sich gehen können. In Budapest werden von der augenblicklich bestehenden Regierung eventuelle Investitionen in Deutsch-Westungarn lebhaft abgelehnt. Man rechnet nicht mehr ganz mit diesen Komitaten. Es liegt also vieles an der Bevölkerung, manches an uns. Sie mögen für uns stimmen. Wir werden sie herzlich aufnehmen!
Der Neue Tag, 8. 8. 1919