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Vor einem Jahre noch zog ihn ein Karren durch die Straßen. Heute schleppt er einen Wagen. Ehemals hatte er überhaupt keinen Namen. Keine Firma. – Er war zwar kein Niemand. Aber ein Irgendwer. Ein Würstelverkäufer. Ein Gattungsexemplar. Heute hat er sogar einen Titel. Mehr: eine Schutzmarke. Noch mehr: Popularität. Er übersprang jene Stufe auf der Leiter eines Würstelverkäuferlebens, auf der man seinen Namen auf ein Schild malt. Aus einem Würstelverkäufer wurde er – aus Hochachtung möchte ich sagen: ward er, also ward er ein Sacher. Ein kleiner zwar, aber ein Sacher. Das nenn' ich Karriere.
Ein Sacher hat es nicht notwendig, durch die Straßen Würstel spazierenzuführen. Den Leuten nachzulaufen. Zu einem Sacher müssen die Leute selbst kommen. Deshalb schleppt er seinen Wagen bloß einmal täglich zu seinem »Stand«.
In der Praterstraße. Da sieht es aus wie bei einer ältlichen Chansonsängerin aus einem Varieté zweiter Güte. So ein bißchen puderbestaubte, billige Romantik. Überschminkte – Vorvergangenheit. Erlebnisse, die weit zurückreichen. Ein Alter, in dem man's »billiger gibt«. Ein vor zehn Jahren lebendig gewesenes, seit zehn Jahren steril gewordenes Lächeln um den Mund, das im Begriff ist, aus einer Maske eine Fratze zu werden.
Tagsüber ist die Praterstraße eine sogenannte »Verkehrsader«. Lastfuhrwerke stampfen roh und ungelenk über ihren Boden wie Möbelpacker. Autoräder stolpern über seine Unebenheiten, und Pneumatiks platzen mit scharfem Knall vor Wut über die spitzen Steine. Für den Tag hat sich nämlich die Praterstraße den Nordbahnhof sozusagen als Nebenbeschäftigung genommen. Am Abend ist die Praterstraße zwar nicht gewaschen, aber geschminkt. Ihre Besucher sind: Mädchen für alles, die »Ausgang« haben, in Hüten vom vorletzten Herbst; kleine Kommis mit fabelhaft schillernden Selbstbindern und hartem Hut auf dem linken Ohrwaschel; Gymnasiasten, die Geburtstag feiern und ausziehn, die Liebe zu lernen; kleine, ganz kleine Kettenhändler, Kategorie: »Rucksack«; Pikkolos, die angeblich zum Zahnarzt mußten und einen halben freien Tag haben. Und überhaupt alles, was dereinst Haken werden will und sich beizeiten in der nächtlichen Praterstraße krümmt.
Hier hat der kleine Sacher seinen Stand. Wo denn sonst? Wenn ich nicht wüßte, wo er herkommt, ich würde glauben, der kleine Sacher sei eine patentierte Erfindung der Praterstraße.
Der kleine Sacher besteht aus drei Hauptteilen: Da ist zuerst ein Wagen, dann eine Frau, dann er selbst. Der Wagen hat die Höhe eines Wächterhäuschens und steht auf einem Rädergestell. Man sieht es dem Wagen an, daß er sich aus einem Karren emporentwickelt hat. Im Anfang waren die Räder. Jetzt sind sie immer noch da.
Die Frau ist groß, stark, blondhaarig, blauäugig. Eine etwas billige Germaniakopie. Ein viereckiger Ausschnitt in der Wagenwand – das Fenster – faßt ihre Blondheit ein. Sie nimmt die Bestellungen der angestellten Kundschaft entgegen und erteilt ihrem Mann Aufträge.
Der kleine Sacher selbst schielt. Das ist wichtig. Andere Wurstzeughändler schauen gradeaus und gehen dabei zugrunde. Oder bleiben bestenfalls Karrenzugtiere. Der kleine Sacher aber vermochte sich alle Vorteile zu erschielen. Ich hätte die ganze Geschichte nicht erzählt, wenn nicht folgendes passiert wäre:
Zwischen jugendlichen Schieberaspiranten stand ein Mädchen vor der Bude und biß in eine saure Gurke. Sie kostete zwei Kronen. Als sie bezahlen sollte, ergaben sich Komplikationen. Sie kramte in ihrem Täschchen. Etwas lange. Es war nur ein Fragment eines Einkronenscheines darin, mühsam zusammengepickt. Und achtundneunzig Heller in Barem.
Ich sah nicht recht, aber ich glaube, es schimmerte eine Träne in ihrer Stimme, als sie sagte: »Zwei Heller gebe ich Ihnen morgen.«
Worauf der kleine Sacher zwei große, prachtvolle saure Gurkenexemplare in die »Kronenzeitung« steckte und sie dem Mädchen gab. »Sie zahlen mir morgen!« sagte er.
Nichts weiter.
Das Mädchen ging.
Und ich wußte: Der kleine Sacher schielt sozusagen mit dem Herzen ...
»Der kleine Sacher«. Das klingt originell und bescheiden. Anspruchsvoll und zurückhaltend! Nicht – Gott behüte! der große Sacher! Aber ich, der kleine Sacher, wäre wohl der Große geworden, wenn jener eben mir nicht zuvorgekommen wäre. Und wenn ich nicht – schielen würde. So bin ich zwar ein Sacher geworden. Aber ein kleiner geblieben.
Josephus
Der Neue Tag, 26. 10. 1919