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Abschied von der Schaffnerin

Am 1. November wird sie von der Plattform der eingeschränkten Wiener Öffentlichkeit verschwunden sein. Die Schaffnerin, eine Improvisation der großen Zeit, wird Zange und Diensttasche abtun und reuig heimkehren zu Küchenschürze und Kochlöffel.

Eigentlich tut es mir leid um die Schaffnerin. Von allen Neuerungen der letzten Jahre war sie zweifellos die sympathischste. Sie repräsentierte die angenehmste Erscheinungsform der Frauenbewegung, die seit der Diensteinstellung der Frauen auf der Straßenbahn fortab ihre Fortschritte nicht mehr zu Fuß, sondern mit der Elektrischen machte.

Es gab verschiedene Arten von Schaffnerinnen. Ältere, mütterliche, deren Gestalt und Antlitz von Kinderhaben erzählten, von einem Mann in Kriegsgefangenschaft, von Witwentum, von Nahrungssorgen. Sie versah ihren Dienst mit einer automatischen Sicherheit, und ihr »Vorgehn bitte!« war dienstlich, ganz unpersönlich, sie prüfte die Fahrkarte mit der Gewissenhaftigkeit einer Hausfrau, die etwa den Wäschezettel durchsieht, und ihre Art, einen Fahrschein zu lochen, war bestimmt, unfehlbar, sicher, so etwa, wie wenn sie einen Nagel in die Wand geschlagen hätte, um die Bratpfanne aufzuhängen. Sie sprach nicht viel und kannte weder Protektionen noch Konzessionen. Ihre Amtskappe saß ehrbar und gerade auf ihrem zu einem einfachen Knoten geschürzten Haar, und die Tasche hing vorschriftsmäßig vorne, nicht ein bißchen rechts oder links verschoben. Hinter dem Ohr, von einem Haarbüschel etwas überschattet, steckte ein Tintenstift. Amtskappe, Diensttasche, Tintenstift sagten: Ich kenne meine Pflicht! Wenn der Revisor kam, grüßte die Schaffnerin zuerst. Dienst ist Dienst. Sie war der lebendige, fahrende Beweis für die Gleichberechtigung der Geschlechter.

Den Gegenbeweis lieferte die »Flotte«. Sie war gewöhnlich blond, was durchaus nicht nach den Dienstvorschriften war, sondern im Gegenteil – nach irgendwelchen geheimen, göttlichen Dienstvorschriften. Auch wenn sie schwarz war, spielte ein Schimmer von Blondheit um ihre Persönlichkeit. Sie war ganz einfach »blond«. Ihre Kappe war ein Käppi und saß schief auf dem Hinterhaupt, weil ein paar frivole Löckchen gerade Lust hatten, sich die Fahrscheine anzusehen. Sie hatte keinen Tintenstift hinterm Ohr. Ihre Tasche saß auf der linken Hüfte und machte sich ganz unscheinbar, nebensächlich, als wollte sie sagen: Ich bin ihr kein Hindernis! Irgendein Blümchen, blau, weiß oder rosa, steckte in der Kappenrosette und lächelte und nickte ermutigend: Ja, bitte schön! Irgendeine Halskrause, weiß oder blau, negierte entschieden jeden Dienstcharakter. Sie sah sich die Fahrscheine nur so, von oben herab, an, als wollte sie sagen: Ach, wie lästig! Ihre Zange setzte die »Flotte« mit einer Schalkhaftigkeit an die Fahrkarte, als zwickte sie neckisch irgend jemanden am Ohrläppchen. Ihr Trompetensignal war niemals scharf, dienstlich. Es war persönliche Liebenswürdigkeit drin. So eine Art Hornruf. Es war ein hellblondes Trompetensignal ... Sie rief: »Vorgehn bitte!«, und es war nicht Aufforderung, sondern Einladung. Sie zwängte ihre reizende Schlankheit anmutig durch die Menschenleiberlabyrinthe, und trat sie einem auf die Zehen, so sagte sie nichts, sondern sah ihm nur in die Augen. Man war beseligt. Sie machte keine »Anstände«, woraus Moralische den Schluß ableiteten, daß ihr mehr Anstand not täte. Sie lachte manchmal falsch, eine Stunde zu früh oder zu spät, und wenn man sich darüber aufregte, weinte sie. Ihr gegenüber war selbst der Herr Revisor ein Schwächling. Wenn sie gerade in einer »Blauen« Dienst machte und ich Fahrgast war, so wünschte ich, daß sich die Strecke in die Unendlichkeit dehnen möge. Ich fuhr bis zur Remise und ging dann zu Fuß zurück.

Und nicht immer allein.

Ihre Fußbekleidung war ganz anders als die ihrer älteren Kolleginnen. Diese hatten »Knöpfelschuhe« oder gar »Ziehstiefeletten« mit Gummieinsatz. Die Absätze waren flach und breit. Die Spitzen sahen ein bißchen gekrümmt zur Wagendecke empor. Dagegen trug die »Flotte« Halbstiefelchen mit hohen Absätzen und eine schwarze Masche an der Schnalle. Ästhetik auf Kosten der Hygiene. In einem Fach ihrer Diensttasche, dort, wo sonst Zehnkronenscheine zu liegen pflegen, lagen – Taschenspiegel und ein kleiner Kamm. Und aus der rechten Tasche des Jäckchens lugte neugierig der Zipfel einer Zuckerltüte hervor...

Die »flotte« Schaffnerin war keine Amtsperson. Eher ein Verkehrshindernis für gewisse Naturen. Ihre holde Weiblichkeit wirkte besänftigend auf reisende Choleriker. Man empfand das Stehenbleiben eines Wagens weniger lästig und stieg nicht aus, selbst wenn man zur Pünktlichkeit neigte. Und wenn man aufsprang, so zog uns ihr ewig Weibliches helfend auf die Plattform der Seligkeit hinan. Sie war das einzig liebliche Produkt des Krieges. Sie versöhnte mich sogar mit der Frauenemanzipation. Denn sie widerlegte die These von der Gleichberechtigung der Geschlechter so nachdrücklich, wie es nur – eine Frau kann. Eine schöne Frau allerdings.

Am 1. November werde ich vergeblich nach ihr suchen. Meine Straßenbahnfahrten werden nüchterne Alltagsgeschäfte sein. Der Glanz einer stillen Festlichkeit ist dahin. Ich beantrage: Einstellung der Elektrischen ab 1. November.

Josephus

Der Neue Tag, 19. 10. 1919

 


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