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Ich wurde eines Tages Journalist aus Verzweiflung über die vollkommene Unfähigkeit aller Berufe, mich auszufüllen. Ich gehörte nicht der Generation der Leute an, die ihre Pubertät mit Versen eröffnen und abschließen. Ich gehörte noch nicht der allerneuesten Generation an, die durch Fußball, Skilauf und Boxen geschlechtsreif wird. Ich konnte nur auf einem bescheidenen Rad ohne Freilauf fahren, und mein dichterisches Talent beschränkte sich auf präzise Formulierungen in einem Tagebuch.
Seit jeher mangelte es mir an Herz. Seitdem ich denken kann, denke ich mitleidslos. Als Knabe fütterte ich Spinnen mit Fliegen. Spinnen sind meine Lieblingstiere geblieben. Von allen Insekten haben sie, neben den Wanzen, am meisten Verstand. Sie ruhen als Mittelpunkt selbstgeschaffener Kreise und verlassen sich auf den Zufall, der sie nährt. Alle Tiere jagen der Beute nach. Von der Spinne aber könnte man sagen, sie sei vernünftig, sie sei in dem Maß weise, daß sie das verzweifelte Jagen aller Lebewesen als nutzlos und nur das Warten als fruchtbar erkannt hat.
Geschichten von Spinnen, von Sträflingen, die sich in der finsteren Einsamkeit ihrer Zelle mit Spinnen unterhalten, las ich mit Eifer. Sie regten meine Phantasie an, an der es mir übrigens keineswegs fehlt. Ich habe immer leidenschaftlich, aber mit wachen Sinnen geträumt. Mein Traum konnte mir niemals eine Wirklichkeit erscheinen. Dennoch vermag ich mich so tief in den Traum zu begeben, daß ich eine zweite, eine andere Wirklichkeit lebe.
Als ich dreißig Jahre alt war, durfte ich endlich die weißen Städte sehen, die ich als Knabe geträumt hatte. Meine Kindheit verlief grau in grauen Städten. Meine Jugend war ein grauer und roter Militärdienst, eine Kaserne, ein Schützengraben, ein Lazarett. Ich machte Reisen in fremde Länder – aber es waren feindliche Länder. Nie hätte ich früher gedacht, daß ich so rapid, so unbarmherzig, so gewaltsam einen Teil der Welt durchreisen würde, mit dem Ziel zu schießen, nicht mit dem Wunsch zu sehen. Ehe ich zu leben angefangen hatte, stand mir die ganze Welt offen. Aber als ich zu leben anfing, war die offene Welt verwüstet. Ich selbst vernichtete sie mit Altersgenossen. Die Kinder der andern, der früheren und der späteren Generationen, dürfen einen ständigen Zusammenhang zwischen Kindheit, Mannestum und Greisenalter finden. Auch sie erleben Überraschungen. Aber keine, die nicht in irgendeine Beziehung zu ihren Erwartungen zu bringen wäre. Keine, die man ihnen nicht hätte prophezeien können. Nur wir, nur unsere Generation, erlebte das Erdbeben, nachdem sie mit der vollständigen Sicherheit der Erde seit der Geburt gerechnet hatte. Uns allen war es wie einem, der sich in den Zug setzt, den Fahrplan in der Hand, um in die Welt zu reisen. Aber ein Sturm blies unser Gefährt in die Weite, und wir waren in einem Augenblick dort, wohin wir in gemächlichen und bunten, erschütternden und zauberhaften zehn Jahren hatten kommen wollen. Ehe wir noch erleben konnten, erfuhren wir's. Wir waren fürs Leben gerüstet, und schon begrüßte uns der Tod. Noch standen wir verwundert vor einem Leichenzug, und schon lagen wir in einem Massengrab. Wir wußten mehr als die Greise, wir waren die unglücklichen Enkel, die ihre Großväter auf den Schoß nahmen, um ihnen Geschichten zu erzählen.
Seitdem glaube ich nicht, daß wir, Fahrpläne in der Hand, in einen Zug steigen können. Ich glaube nicht, daß wir mit der Sicherheit eines für alle Fälle ausgerüsteten Touristen wandern dürfen. Die Fahrpläne stimmen nicht, die Führer berichten falsche Tatsachen. Alle Reisebücher sind von einem stupiden Geist diktiert, der nicht an die Veränderlichkeit der Welt glaubt. Innerhalb einer Sekunde aber ist jedes Ding durch tausend Gesichter verwandelt, entstellt, unkenntlich geworden. Man berichtet über Gegenwart mit historischer Sicherheit. Man spricht über ein fremdes Volk, das lebt, wie über eines, das in der Steinzeit gestorben ist. Ich habe Reisebücher über einige Länder gelesen, in denen ich gelebt habe (und die ich so gut kenne wie meine Heimat und die alle vielleicht meine Heimat sind). Wie viele falsche Berichte sogenannter »guter Beobachter«! Der »gute Beobachter« ist der traurigste Berichterstatter. Alles Wandelbare begreift er mit offenem, aber starrem Aug'. Er lauscht nicht in sich selbst. Das aber müßte er. Er könnte dann wenigstens von seinen Stimmen berichten. Er verzeichnet die Stimme einer Sekunde in seiner Umgebung. Aber wer weiß nicht, daß andere Stimmen ertönen, sobald er seine Horcherstellung verlassen hat. Und ehe er's niederschreibt, ist die Welt, die er kennt, nicht mehr dieselbe.
Und ehe wir ein Wort niederschreiben, hat es nicht mehr dieselbe Bedeutung. Die Begriffe, die wir kennen, decken nicht mehr die Dinge. Die Dinge sind aus den engen Kleidern herausgewachsen, die wir ihnen angepaßt haben. Seitdem ich in feindlichen Ländern gewesen bin, fühle ich mich in keinem einzigen mehr fremd. Ich fahre niemals mehr in die »Fremde«. Welcher Begriff aus einer Zeit der Postkutsche! Ich fahre höchstens ins »Neue«. Und sehe, daß ich es bereits geahnt habe. Und kann nicht darüber »berichten«. Ich kann nur erzählen, was in mir vorging und wie ich es erlebte.
Ich war neugierig, zu erfahren, wie es hinter dem Zaun aussieht, der uns umgibt. Denn uns umgibt ein Zaun, uns Menschen, die wir zur deutschen Welt sprechen. In Deutschland ist der »Begriff« heilig und unwandelbar. Wir glauben an die Nomenklatur. In Deutschland erscheinen die »zuverlässigsten« Führer, die »gründlichsten« Beobachtungen und Forschungen. Alles Niedergeschriebene wird Gesetz. Man glaubt einem Buch aus dem Jahre 1880. Man dürfte nicht einmal einem aus dem Jahre 1925 glauben. Man glaubt, wie vor dem Krieg, heute an die Bedeutung der alten Begriffe.
Jenseits, hinter dem Zaun, war die Nomenklatur niemals so heilig. Die Namen flossen immer weit um die Dinge, die Kleider waren lose. Man war nicht bestrebt, alles unverrückbar zu fixieren. Man wandelt sich jeden Augenblick, drüben, hinter dem Zaun. Wir nennen das immer »Treulosigkeit«, und Anpassung ist halber »Verrat«. Hinter dem Zaun gewann ich mich selbst wieder. Ich gewann die Freiheit, die Hände in den Hosentaschen, eine Garderobemarke an den Hut geheftet, einen zerbrochenen Regenschirm in der Hand, zwischen Damen und Herren, Straßensängern und Bettlern zu wandeln. Ich sehe in den Straßen und in der Gesellschaft genauso aus wie zu Hause. Ja, ich bin draußen zu Hause. Ich kenne die süße Freiheit, nichts mehr darzustellen als mich selbst. Ich repräsentiere nicht, ich übertreibe nicht, ich verleugne nicht. Ich falle trotzdem nicht auf. Es ist in Deutschland fast unmöglich, nicht aufzufallen, wenn ich nichts spiele, wenn ich nichts verleugne und nichts übertreibe. Zwischen diesen zwei Arten zu erscheinen, habe ich die traurige Wahl. Denn ich muß auch, wenn ich keinen Typus, keine Gattung, kein Geschlecht, keine Nation, keinen Stamm, keine Rasse repräsentiere, dennoch etwas zu repräsentieren suchen. Wir sind gezwungen, »Farbe zu bekennen«, und nicht etwa eine beliebige, sondern eine aus der offiziellen Farbenskala: sonst sind wir »ohne Gesinnung«. Es ist das Kennzeichen der engen Welt, daß sie das Undefinierbare verdächtigt. Es ist das Kennzeichen der weiten, daß sie mich gewähren läßt. Auch sie hat für mich noch keine Bezeichnung gefunden. Aber nennt sie mich so oder anders, so ist immer noch ein freier Raum zwischen der Bezeichnung und dem Begriff, den sie deckt, denn die Welt nimmt nicht alles wörtlich. Wir aber nehmen sie beim Wort und nicht »bei der Sache«, weil wir die Namen mit den Dingen verwechseln.
Deshalb verstehn wir sie nicht, deshalb versteht sie uns nicht. Hinter dem Zaun sind Ferien. Süße, lange Sommerferien. Was ich sage, nimmt man nicht wörtlich. Was ich verschweige, ist gehört worden. Mein Wort ist noch lange kein Bekenntnis. Meine Lüge noch lange keine Charakterlosigkeit. Mein Schweigen ist nicht rätselhaft. Jeder versteht es. Es ist, als zweifelte man an meiner Pünktlichkeit nicht, obwohl meine Uhr falsch geht. Man schließt nicht aus der Eigenschaft eines meiner Attribute auf meine Eigenschaften. Niemand reguliert meinen Tag. Wenn ich ihn verliere, so ist es mein Tag gewesen. (Ein »Tagedieb«! Wie deutsch ist dieses Wort! Wem gehören die Tage, die einer sich selbst gestohlen hat?)
Ich habe die weißen Städte so wiedergefunden, wie ich sie in den Träumen gesehn hatte. Wenn man nur die Träume seiner Kindheit findet, ist man wieder ein Kind.
Das zu hoffen, hatte ich nicht gewagt. Denn unwiederbringlich weit lag die Kindheit hinter mir, durch einen Weltbrand getrennt, durch eine brennende Welt. Sie war selbst nicht mehr als ein Traum. Sie war ausgelöscht aus dem Leben; verstorbene und begrabene, nicht entschwundene Jahre. Was dann kam, war wie ein Sommer ohne Frühling. Ich fuhr mit der Skepsis in dieses Land, welche die Folge eines Lebens ohne Kindheit ist. Alle Menschen meiner Generation sind in diesem Sinne »skeptisch«. Und während uns die Älteren Tag für Tag mit ihrer Mahnung zu »Aufbau« und »Positivsein« in den Ohren liegen, lächeln wir das wissende Lächeln derjenigen, die Ursache, Werkzeug und Opfer einer großartigen Zerstörung gewesen sind. Oh, wenn sie uns nicht so stumm gemacht hätte, wir könnten ihnen sagen, was »Aufbau« ist! Wir glauben so wenig an ihn, daß wir nicht einmal imstande sind, seine Unmöglichkeit darzulegen. Der Vater, der seinen Sohn verloren hat, weiß von der Zerstörung weniger als sein toter Sohn. Wer im Hinterland gewesen ist, hat den Weltuntergang doch nur aus historischer Perspektive erlebt, den großen Weltkrieg unserer Jahre wie die Kriege Karthagos und Roms. Er lernte den Krieg seiner Zeit aus den Berichten, wie er die der Vergangenheit aus den Lehrbüchern gelernt hatte. Es ist immer noch ein Unterschied, ob man etwas am eigenen Leib oder an dem seiner Söhne erlebt hat.
Wir sind die Söhne. Wir haben die Relativität der Nomenklatur und selbst die der Dinge erlebt. In einer einzigen Minute, die uns vom Tode trennte, brachen wir mit der ganzen Tradition, mit der Sprache, der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst: mit dem ganzen Kulturbewußtsein. In einer einzigen Minute wußten wir mehr von der Wahrheit als alle Wahrheitssucher der Welt. Wir sind die auferstandenen Toten. Wir kommen, mit der ganzen Weisheit des Jenseits beladen, wieder herab zu den ahnungslosen Irdischen. Wir haben die Skepsis der metaphysischen Weisheit.
Alles, was sich bei uns, im Norden und im Osten, seit unserer Wiederauferstehung zugetragen hat, konnte unsere Skepsis nur bestärken. Immer wieder entfernten wir uns von unserer Kindheit. Es war, als wären wir zurückgekehrt, um noch einmal alle Vernichtungen mitzumachen. Und uns, die wir geradezu unmittelbar vom Studium des Dreißigjährigen Krieges weg in den Weltkrieg gezogen wurden, ist es heute, als hätte in Deutschland der Dreißigjährige Krieg noch nicht aufgehört. Wir können nicht glauben, daß irgendwo noch die Kontinuität des Friedens vorhanden ist und die große und mächtige Kulturtradition des antiken und mittelalterlichen Europas lebendig. Seit unserer Wiederauferstehung erleben wir das Werden einer ganz neuen Kultur, erleben wir die Revolution des Nahen Ostens und das leise Erdbeben des Fernen und gleichzeitig Amerikas technischen Zauber. Gefangen in einem Land, in dem ein kindischer Hang zur verstorbenen letzten Vergangenheit in denselben Menschen vorhanden ist, die eine Umwandlung des Menschen aus Fleisch und Blut in ein Wesen aus Stahl und Eisen wünschen, gefangen in einem sonderbaren Land, in dem die Hälfte der Nation gleichzeitig zwei so verschiedene und gegensätzliche Erscheinungen bewundern kann wie eine Militärparade und einen Luftballon, gefangen in einem Land, in dem die Empfindsamkeit ebenso groß ist wie das technische Bewußtsein erleben wir stündlich die kleinen Kämpfe und großen Kriege zwischen Vergangenheit und Zukunft, den klassischen, katholischen, europäischen Einflüssen des Westens ebenso ausgeliefert wie den revolutionären des Ostens und den kapitalistischen Amerikas. Das wird mehr als ein Dreißigjähriger Krieg sein.
Denn es ist Krieg, wir wissen es, wir, die beeideten Sachverständigen für Schlachtfelder, wir haben sofort erkannt, daß wir aus einem kleinen Schlachtfeld in ein großes heimgekehrt sind. Wenn wir dieses Land verlassen, ist es, als führen wir in Urlaub. Wie friedlich und ahnungslos ist unten noch alles! Wie wenig weiß diese Welt von den Lawinen, die langsam heranrollen! Werden sie nicht bis hierher gelangen? Wird ihre Macht hier schon gebrochen sein? Wird die neue Kultur, der die Zerstörung vorangeht, aus Respekt, wie schon einmal, vor den lebendigen Denkmälern der alten stehnbleiben, um einen Kompromiß zu schließen?
Glückliches Land meiner Kindheit, das so vor den Stürmen geborgen liegt und Zeit hat zur Besinnung und zu Friedenskonferenzen, während wir oben preisgegeben sind dem ersten, verständnislosen und noch nicht verhandlungsbereiten Wüten der Elemente. Glückliches Land, in dem man wieder träumen kann und glauben lernt an die Mächte der Vergangenheit, von denen wir dachten, sie wären, wie so vieles, ein Irrtum und eine Lüge des Lesebuches!
Die Sonne ist jung und stark, der Himmel hoch und tiefblau, die Bäume dunkelgrün, versonnen, uralt. Und weiße breite Straßen, die seit Jahrhunderten Sonne getrunken haben und widerstrahlen, führen zu den weißen Städten mit den flachen Dächern, die so eben sind, als wollten sie zeigen, daß hier nicht einmal die Höhe gefährlich werden kann und daß man niemals, niemals hinunterfällt in schwarze Tiefen.
An einem Sonntagnachmittag kam ich nach Lyon.
Diese Stadt liegt an der Grenze zwischen dem Norden und dem Süden Europas. Es ist eine Stadt der Mitte. Dem nördlichen Ernst und dem nördlichen Zielbewußtsein ebenso hingegeben wie der Ungezwungenheit des Südens, lächelt sie und arbeitet. Ihr Wochentag ist hart und ihr Sonntag voll bewegter Festlichkeit. Alle Menschen sind eifrig beflissen, gar nichts zu tun. Sie feiern mit unermüdlichem Fleiß.
Man fabriziert in dieser Stadt Seide. Das Geschäftsviertel erinnert überall an dieses Produkt. Alle Schilder sprechen von Seide. In allen Schaufenstern sieht man Seide. Alle Frauen tragen Seide, auch die arbeitenden und unbemittelten.
Sind arme Menschen, die zehn Stunden und länger täglich an der Seide weben, glücklicher als ihre Kameraden, die nur gewöhnliche Leinensäcke erzeugen? Sie verdienen ebensowenig. Seide kann man nicht essen. Die Sozialwissenschaft rechnet nicht mit der Kostbarkeit der Produkte als einem Faktor für das Wohl oder Weh der Arbeiter.
Ich glaube dennoch, daß es irgendeinen Unterschied bedeutet, ob man Seidenkleider produziert oder Leinensäcke. Ein Schimmer von dem festlichen Produkt fällt auf die Menschen, die es beschäftigt. Und wie die Grubenarbeiter die traurigsten der Welt sind, so scheinen mir die Seidenweber die fröhlichsten, nach den Zuckerbäckern. Wenn jemand zwanzig Jahre leuchtende, schimmernde, bunte Regenbogenfäden knüpft, ist seine Seele heiter, seine Hand zärtlich, und sein Hirn denkt tröstliche Gedanken.
Zwar wohnt auch er jenseits der Rhône, in einer Mietskaserne, in einer trostlos langen und breiten Straße, in einer jener Straßen, die gestern noch neu, billig und hygienisch waren und heute nur noch billig sind. Es ist merkwürdig, wie schnell die modernen proletarischen Straßen aller Städte alt werden. Man erfindet immer besseres Material, man pflanzt gesunde, grüne Bäume an die Ränder der Bürgersteige, man kanalisiert, legt Wasserleitungen an, Abflußrohre, Porzellanbecken und Gitter, die nicht rosten. Nach zwei Jahren ist das Porzellan gesprungen und mit einer schmutzigen gelben Masse verklebt, die Bäume sind grau und können unter ihrer dicken Staubschicht nicht atmen, die Kanäle sind verstopft, die Wasserleitungsrohre platzen, von den Zimmerdecken tropft es, und die Eisengitter rosten aus dem einfachen Grund nicht, weil sie längst nicht mehr vorhanden sind. Die Mauern werden schwarz, der Mörtel fällt ab, und die Häuser stehen da wie in einer häßlichen Krankheit, bei der sich die Haut schält. Es ist kein ehrwürdiges Altern, sondern ein hastiges Verbrauchtwerden.
Auch die Seidenfabriken sind ebenso nackt, wuchtig, trostlos wie alle anderen Fabriken der Welt. Aber die Arbeiter sind heiter. Sie sehen am Abend aus den Fenstern wie Menschen, die noch ein paar freie Tage vor sich haben und Zeit, sich mit fremden Vorgängen zu befassen. Die jungen Arbeitermädchen sind schlanke braune Prinzessinnen, die aus Laune, nicht aus Not, in den schwarzen Kasernen wohnen. Jeden Augenblick tritt eine kleine Königin aus einem dunklen Tor. Die Männer trinken gern und sind selten betrunken. Man hört keinen Streit aus den Wirtshäusern. Die Frauen sitzen in Gruppen an den Ufern der Rhône. Man angelt und liest beim verlöschenden Tageslicht die Zeitung. Man sieht auf den großen, schönen Fluß, der eine der wichtigsten Straßen der Römer war. So sind hier schon vor beinahe zweitausend Jahren die römischen Männer und Frauen gesessen, die Krieger und die Frauen der Krieger und die jungen Bräute.
Ich gehe gern am Abend in dieses Viertel. Da sind die kleinen Läden mit den verstaubten Schaufenstern und den rührenden, einfachen Gegenständen, die nur arme Menschen kaufen: Tabaksbeutel und dicke Uhrketten und große Elefantenzähne und kleine Hunde und Katzen aus grünem Porzellan und Kaffeetassen mit nur einem Sprung und hölzerne Serviettenringe und Glasperlen in allen Farben und ein Behälter aus Nickel für Zahnstocher. Da sind die kleinen Delikateßgeschäfte mit den verstaubten und ein wenig zerdrückten Früchten, mit den Zwiebeln, den Kartoffeln, dem Zeitungspapier für Tüten und den Katzen, die auf den Lebensmitteln hocken, und den kleinen Kindern, die vor dem Laden spielen. Alles ist langsam und ohne Aufregung. Die Stunden gehen stiller und gemächlicher. Die Überraschungen selbst künden sich an. Die Freuden sind inniger und leiser. Der Tod wird hingenommen wie ein Geschenk. Das Leben hat keinen übermäßig hohen Wert. Das Leben ist soviel wert wie der karge Wochenlohn, ein billiger Wein, ein Kino am Sonntag.
In diesem Teil von Lyon fühle ich auch am innigsten seine alte Geschichte, obwohl es hier keine Denkmäler gibt und alle Häuser neu sind. Denn die armen Menschen scheinen den wärmsten Zusammenhang mit der Entwicklung und der Vergangenheit zu haben, am spätesten bekommen sie Verbindung mit den hastigen Neuigkeiten der Gegenwart, am frömmsten ist ihr Verhältnis zur Überlieferung – sie sind »Volk«, und in den Zügen ihrer Gesichter erkenne ich die römischen Physiognomien, die vor 1800 Jahren in dieser Stadt zum erstenmal erschienen sind, um nie wieder aus ihr zu verschwinden. Die armen Leute können nicht reisen, sie bleiben seßhaft, sie haben einen geographisch engen Horizont, sie heiraten Frauen aus den nächsten Gassen, und sie schreiben ihre Genealogien zwar nicht, aber es ist ohne Dokumente ersichtlich für jeden, der in Gesichtern lesen kann, daß sie aus der »Antike« stammen und daß historisches Blut in ihren Adern rollt. Einfache Männer, sie sitzen plaudernd an den Ufern, und die Schatten des Abends und ein rötlicher Strahl der untergehenden Sonne meißeln ihr Profil scharf heraus und heben es aus der Gewöhnlichkeit des Alltags in eine fast symbolische Bedeutung: Ich sehe in dem und jenem einen römischen Hauptmann, setze dem armen Mann einen funkelnden Helm mit geschwungenem Vorsprung aus blankem Messing auf, ich lege um seine Brust ein rotes Hemd und darüber einen Panzer aus stählernen Schuppen, und ich drücke in seine ahnungslose, biedere, friedliche Faust ein kurzes zweischneidiges Schwert, in der Mitte gebuchtet, mit zwei gerundeten Schärfen, glatt, spitz und leckend wie eine Zunge: Siehe da – es ist ein Römer.
Und ich liebe die Wäscherinnen an der Rhône. Auch sie sind arm und über die erste und zweite Jugend schon hinaus, aber fröhlich wie junge Mädchen. Seit sechs Uhr früh stehen sie da bis spät am Abend, und den letzten, schwachen Sonnenschein wollen sie noch ausnützen, und es ist, als wären sie sparsam mit der kostbaren Sonne und imstande, einen einzigen Tag in drei auszudehnen. An ihnen vorbei rinnt das Wasser, fortwährend neues silbernes Wasser, Millionen Wellen sehen sie am Tag, und in jede tauchen sie ein Wäschestück, mit der Gebärde von Priesterinnen waschen sie den Schmutz, und das Profane wird heilig. Sie sind bunt und lustig wie das Wasser, sie singen unermüdlich und rufen einander Grüße zu, diesseits und jenseits des Flusses erklingen die Stimmen, mit dem Geräusch des plätschernden Wassers vermischt, durch das Echo der steilen Böschung verstärkt und geklärt, silberne Brücken, unsichtbar und nur mit dem Ohr zu vernehmen, Brücken für Grüße. Die Wäsche der ganzen Stadt wird in der Rhône sauber. Es ist, als würde aller Unrat von den Menschen weggespült; als stünden diese Frauen hier, um den ganzen Tag die Seelen der Einwohner von Lyon sauber zu erhalten. Und ich denke, daß eine Stadt, die an zwei Flüssen liegt, von einer anständigen Bevölkerung bewohnt wird. Das Wasser ist ein heiliges Element.
Morgen vormittag werde ich über die große Wilsonbrücke in den mittleren Teil der Stadt gehen, dorthin, wo man die Seide verkauft. Dieser Teil ist um elf Uhr vormittags am schönsten. Da öffnen sich die großen alten patrizischen Bürohäuser, und die jungen Mädchen eilen in die Mittagspausen wie in ein großes Glück. Eine halbe Stunde lang eilen alle Einwohner der Stadt ins Glück, und es ist ein großes Gewimmel in den Straßen und ein Tuten der Gefährte, in denen die Kaufherren und die Fabrikanten der Seide sitzen, und die ganze Stadt ist wie ein großer Jahrmarkt, die Gasthäuser füllen sich, und die Musikanten stellen sich in den Ecken und in den alten Gäßchen auf und spielen Geige, Ziehharmonika und Zimbeln, und die kleinen Mädchen kaufen die Noten und gehn mit schwarz auf weiß fixierter, ewiger, unverlierbarer Musik ins Mittagessen. Man hört auch das Tuten der Automobile, das Klappern der Geschirre und das Rasseln der Rollbalken vor den Läden, und eine Stunde lang bereitet man diesen großen, erhabenen Feiertag vor, der in den weißen Städten Südfrankreichs »Essen« heißt.
Und dann ist der Feiertag da: die Mittagspause. Man kann in den Straßen das Ticken der Uhren aus dem Innern der Häuser hören, die leisen Stimmen der plaudernden Menschen, und die Stille ist weiß, groß, voll von Sonne, Licht ohne Schatten, eine Pause voll Erhabenheit. Ich sehe die ruhenden Schreibmaschinen in den Kontoren unter ihren schwarzen Decken aus Wachstuch und die zugeklappten Tintenfässer und ahne die schmalen grünen Geschäftsbücher in den Schubladen, die Sammler des Reichtums und die Seidenfäden, Millionen Seidenfäden in den großen Maschinen, harrend der Vollendung zum schimmernden Gewebe.
An diesem Abend will ich die gnadenreiche »Fourvière« besuchen. Längst schon habe ich zu ihr emporgeblickt wie ein demütiger, naiver Frühmensch zum Symbol einer übersinnlichen Macht. Denn so steht die Kathedrale oben, das breite Angesicht der Stadt zugewendet, vier Säulen, drei Tore, darüber ein Giebel, auf dem ein Kreuz wie eine Blume blüht, von zwei runden Türmen flankiert wie von Wächtern, und unten die Stufen, flach, zahlreich, breit, nicht Stufen, auf denen man hinansteigt, eine Treppe vielmehr, auf der man sich hinaufkniet. Hier stand einmal das römische Forum, es ist haargenau derselbe Platz, Sinnbild einer andern Macht, es gab den Platz her und selbst einige seiner Steine zum Bau der kleinen Kapelle, es ist noch steinernes Fleisch und Blut vom Forum, ein Symbol hat sich selbst in ein neues gewandelt, derselbe Stein diente mit derselben Treue einer verschwundenen Macht, mit der er einer neuen ergeben ist, und beide können auf seine Festigkeit trauen. Aus allen Teilen Westeuropas pilgern die Frommen einmal im Jahr zu diesen Steinen.
Im 9. Jahrhundert erstand die erste Kapelle, wuchs an Ruhm und Ansehn, bekam reiche Geschenke von Ludwig XI., Ludwig XII., Ludwig XIII. Aber erst, als die Pest 1642 mit Grausamkeit die Stadt zu vernichten drohte, bewies der Hügel mit der Kapelle seine besondere Wunderkraft, die Menschen retteten sich zu ihm empor, und seit damals wandern die Prozessionen jedes Jahr am 8. September zur Fourvière, und der Erzbischof segnet die Stadt. Erst seit 1896 steht die neue Kathedrale. Sie hat 15 Millionen Francs gekostet – das Geld der frommen kleinen Leute.
Die Kathedrale ist zu dem Zweck angelegt worden, ein Wahrzeichen zu sein und zu repräsentieren. Und niemals habe ich ein Monument aus unseren Tagen gesehn, dessen Größe sich so innig verband mit Zartheit, dessen Wucht so bescheiden zurücktrat hinter die sanfte Wirkung des Details. Die Heiligen tragen den Giebel und stützen ihn mit den Häuptern, die Heiligen säumen die Wölbungen der Torbogen, und so lebendig ist die Wirkung menschlicher Gestalten, die technische Funktionen ausüben, daß jeder Stein zu atmen beginnt, denn nahe ist seine Beziehung zum Lebendigen, und der ganze fertige kolossale Bau ist immer noch im Werden begriffen. Und obwohl diese Statuen ewig diese Steine stützen werden, ist es, als wäre ihre Stellung nur ein Augenblick aus ihrer fortwährenden Tätigkeit. Im nächsten Augenblick werden sie sich bewegen, und die Kirche wird wandern, zu den Menschen hinunter, schon steht sie hart am Rand, sie kommt den Pilgern entgegen am 8. September, dem heiligen Tag.
Der ganze Hügel ist mit steinernen Stufen besät, und jede Gasse ist eine Treppe, und die alten Häuser aus großen Festungsquadern mit bunten Dächern aus einem schimmernden Schiefer, der wie Perlmutter aussieht, stehn, eines immer um einen Kopf größer als das andere, zu beiden Seiten der Treppen, immer geschlossen, immer still, wie in einem Gelübde der Schweigsamkeit für ein ganzes Jahr, bis zur Ankunft der Pilger. Dann werden sich die Türen öffnen, Wasser und Wein in Krügen wird man den frommen Wanderern entgegentragen, auf jeder Stufe wird einer gelabt werden. An jeder kleinen Schwelle wird ein Gast stehen. Heute zwitschern nur die bunten Stieglitze und die gelben Kanarienvögel in idyllischen grünen Käfigen vor den Türen, neben den säubern Postkästen, deren es vier und fünf an jedem Haus gibt, um dem Postboten die steilen Stiegen in den Häusern zu ersparen.
Gleich hinter der Kathedrale fängt Rom an, ein lebendiges Rom. Alle ausgegrabenen Erinnerungen hat man stehnlassen, statt sie in ein Museum zu tragen. Jeder Wanderer fühlt die Wonne des ersten Entdeckers. Wie vor 1800 Jahren steht heute die römische Vase im lebendigen Blumenbeet, und der lebendige Gärtner bedient sich einer antiken steinernen Spritzkanne, und vor dem Eingang zum Garten steht der römische Hund mit der Aufschrift: Cave Canem!, ein primitiver Hund aus Sandstein, ein bißchen Löwe, ein wenig Wolf, ein bißchen Bär, um so schrecklicher in dieser Mischung furchtbarer Tierhaftigkeit und harmlos heiter wie die Erinnerung an meine lateinischen Grammatikstunden. Wie gut müssen es die Gymnasiasten von Lyon haben. Nicht einmal die Grammatik ist abstrakt. Jede Regel können sie mit den Händen greifen. Alle Ausnahmen stehn an den Rändern der Spazierwege. Alle Steine halten historische Vorträge. Da ist eine Straße, die geradewegs nach Rom führt, hinein in die Antike, auf diesem Wege sind sie gekommen, hier überschritten sie die Saône, auf diesen Hügel stiegen sie, um das Land zu übersehn, hinter dem Fluß begannen sie, die Steine aufzuschichten, und sie hißten eine Festung, wie man heute eine Fahne hißt.
Von hier aus sehe ich das ganze Ausmaß meiner ersten weißen Stadt. Ja, so habe ich sie geträumt. Also stehn sie alle noch da: die schimmernden Häuser, die weißen Wände, mit Sonne getüncht, die flachen, schillernden Dächer aus Regenbogen, die hüpfenden Rauchfänge, die kleine blaue Wölkchen ausstoßen wie zartes Baumaterial für den blauen Himmel. Straßen aus weißer Kreide, fliehende breite Bänder, mündend im Grün der Felder, hineilend zu den dunkelgrünen Wäldern und den blauen Felsen am Horizont, hinter denen Rom liegt, die Erbin Griechenlands und unsere erste Lehrmeisterin. Es lebt noch, es lebt noch. Da läuten schon die schweren Glocken von den Türmen des Mittelalters, da reiten die Stimmen von der Kathedrale St. Jean hinein in die blühenden Steine des Altertums, da kommen schon die spitzen und scharfen Türmchen von St. Nizier, die kleinen Dächer, mit spitzen Buckeln und Stacheln bewehrt und oben vom versöhnlichen Kreuz geziert.
Die Abendschatten legen sich über die Welt, die Stimmen der Straßen werden stiller, das Rauschen der Rhone ist stärker. Noch kann ich das Rathaus erkennen, die Bibliothek der Stadt, die Kirche St. Martin mit den festungsartigen Mauern. Der Mond taucht hinter den Felsen empor, und die weiße Stadt ist noch weißer, die Steine strahlen um die Wette mit dem Mond, und in holder Eintracht fließen Rhône und Saône, die eine hurtig, die andere bedachtsam, demselben Ziel entgegen, der langersehnten Vereinigung, und umklammern die weiße Stadt wie einen kostbaren Besitz, um ihn nie wieder zu lassen.
In einem Lyoner Museum sah ich ein Bild vom rekonstruierten römischen Vienne: Es lag, zwischen Hügel gebettet, auf einer Seite mählich ansteigend, auf der anderen eben, an beiden Ufern der Rhône und hatte in all seiner Lieblichkeit noch etwas von der römischen Monumentalität, von deren Ewigkeitsgepräge, das Rom allen seinen Bauten, Denkmälern und Niederlassungen zu verleihen verstand. Die Hügel umschlossen die Stadt, ohne sie einzuzwängen. Immer noch war Platz genug, um zu wachsen und sich auszubreiten. Immer noch war Grün zwischen den Steinen. Die Stadt wuchs in das Land hinein, und das Land schmiegte sich an die Stadt. Natur und Kunst waren einander ebenbürtig. Des Menschen Hand schuf aus dem Material der Erde. Nirgends war das Material vergewaltigt. Es unterwarf sich freudig dem Willen des Menschen. In zwölf großen Hauptgebäuden konzentrierte sich das Leben der Stadt. Und es war dennoch eine große Stadt. Sie hatte keine Straßen, nur Plätze, sie hatte fast keine Häuser, nur Paläste. Und dennoch ging von diesem Bild ein großstädtischer Atem aus, wie ihn niemals die Gesamtansicht einer modernen Weltstadt ausströmen kann. Ich hatte das Gefühl, daß der Mensch einer kolossalen Arena gegenüber immer noch Mensch ist, aber im Augenblick eines Wolkenkratzers zur Ameise herabsinkt. Wie kommt es, daß man auf dem weiten römischen Platz nicht verloren ist wie auf einem modernen Boulevard? Die römische Größe ist nicht gigantisch, sondern menschlich. Rom mißt nach irdischen Maßen. Die Größe und Monumentalität haben einen »humanen« Charakter.
Mit diesem Bild im Herzen kam ich nach Vienne. Wie verwandelt ist es! Immer, fast seit seiner Entstehung, war es Hauptstadt, Sitz der Fürsten und Könige. Es hat mehreren Nationen angehört, es hat sich im Laufe der Zeiten gewandelt, aber keiner seiner Herren haue gewagt, es zu einer Stadt zweiten Ranges zu degradieren. Es war ewig jung, stolz, schön und weit. Es durfte furchtlos in die Zukunft sehn, wie eine Göttin, der die Zeit nichts anhaben kann.
Die Stadt Vienne ist mitten in ihrer Schönheit gestorben, und sie gleicht darin wirklich einer abgesetzten Göttin. Sie ist nicht verbraucht und nicht herabgesunken. Sie hörte plötzlich auf, eine große, schöne, stolze, angebetete Stadt zu sein. Sie bequemte sich nicht, nach anderen Zwecken zu suchen. Sie blieb in ihrer Vergessenheit und in dem Zustand, in dem sie gewesen war, als man sich von ihr abwandte. Nichts von den Neuerungen der Zeit drang in ihre tauben Mauern. Sie schloß sich zu, hörte nichts mehr, sah nichts mehr und ließ nichts mehr ein. Nachdem ich drei Tage in Vienne gelebt hatte, erschien es mir merkwürdig, daß ich hierher mit der Eisenbahn gekommen war. Seltsam, seltsam, daß hier ein Bahnhof stand, daß man manchmal den Pfiff einer Lokomotive hörte. Was wollte hier ein Zug? Was kündete hier eine Stimme? Hier lebten ja die Toten! In diesen Gassen hatte ja niemand mehr was mit der Welt zu tun! Hier lebten die Menschen wie Denkmäler. Den ganzen Tag saßen die Frauen am Fenster, und unbeweglich wie sie hockten neben ihnen die Katzen. Die Hunde schliefen in der Mitte, und kein Fuhrwerk störte ihren Schlaf. Und ich war der Fußgänger. Hinter den bunten Vorhängen aus Glasperlen, die hier statt der Türen an den Häusern angebracht waren, rührte sich nichts. Ich blieb dreizehn Tage in Vienne. Als ich ankam, sahen mich die Frauen aus den Fenstern an wie ein Gespenst. Als ich wegfuhr, wunderten sie sich immer noch über mich. Noch schliefen die Hunde in der Straßenmitte, wie am Tag meiner Ankunft. Schliefen sie wirklich? Waren sie nicht tot? Saßen die alten Frauen wirklich an den Fenstern? Sahen sie mich an? Oder hatten sie die Fähigkeit der Toten, durch lebendige Körper hindurchzusehn wie durch Luft und Glas? Hatten mich wirklich die Einwohner von Vienne bemerkt? Oder war ich durch diese Stadt hindurchgeweht worden wie ein Windhauch, den alte Menschen kaum fühlen und Tote überhaupt nicht?
Man schloß mir ein Hotelzimmer auf, ließ mich eintreten, verkaufte mir Brot, Wurst und Käse in einem Laden und antwortete mir mit leisem Kopfnicken auf meine Grüße. Überall erschrak ich vor meiner eigenen Stimme. Meine eigenen Schritte vernahm ich wie ferne Geräusche. Und wenn ich vor eines der Denkmäler kam, die der Führer ausdrücklich den Besuchern verordnet, war es mir nicht, als ob ich den Zeugen einer entschwundenen Zeit sähe, sondern einen Zeitgenossen. Und obwohl Denkmäler aus verschiedenen historischen Epochen stammen, hatten sie die Gemeinsamkeit des Jenseits, so wie in einem andern Leben die Altersunterschiede zwischen Vätern, Söhnen, Enkeln aufgehoben sind und alle Verstorbenen gleichaltrig. Die gotische Kirche war eine Schwester des römischen Tempels.
In andern, in lebendigen Städten merkt man am lebendigen Heute, das ein Morgen und Übermorgen gebärt, wie sehr sich das Gestern vom Vorgestern unterscheidet. In Vienne aber war die Gegenwart eine Vergangenheit. Was alt, was älter war, konnte ich an keinem Neuen messen. Und auf einmal verstand ich, wie wenig Namen, Bauart, Stile besagen. Alles Vergangene begriff ich mit einem gleichmäßig liebenden Aug'. Waren die verschiedenen Formen noch Zeugnisse für die Gegensätzlichkeit der Völker und Geschlechter? Im wesentlichen glichen sich alle Baudenkmäler: in ihrer reinen Ziellosigkeit, welche das höchste Ziel ersehnt: empor zu Gott. Empor sogar das flache römische Dach, wie eine aufwärtsgestreckte Handfläche, empor der gotische Bogen, wie ein gekrümmter Finger, aus ewigem Stein der Tempel, aus ewigem Stein die Kirche.
Nur Spielarten waren die »Stile«. Wie Kinder immer Spiele ersinnen, so ersannen die Geschlechter immer neue Bauten. Und wie ein Kind von einem Spielzeug zum andern geht, so ging ich von einem Bauwerk zum andern: stand zuerst vor dem Tempel des Augustus; stand vor den flachen zehn Stufen und schickte meinen Blick auf ihnen empor; kam zu den Säulen, die keine Wände sind, aber wie Pfeiler für Wände aus Luft und Sonne; sah, wie das Tageslicht die Schatten der Säulen auf die Fliesen bedachtsam legte, vorsichtig, als wäre auch der Schatten einer Säule zerbrechlich; sah das Dreieck an der Front unter dem Giebel, das wie eine Stirn und wie ein geschlossenes großes Auge ist. Sechs Säulen warfen sechs Schatten. Also waren es zwölf Säulen. Und jede der wenigen Säulen verdoppelte sich. Bald war's ein kleiner gleichmäßiger Wald. Im Hintergrund erst war die Tür, die das Heiligtum verschloß. Sollte ich sie aufschließen lassen? Es gab keinen Wärter. Wer weiß, ob es einen Schlüssel gab. Vielleicht war überhaupt kein Schlüssel vorhanden. Als der göttliche Augustus den Tempel verließ, schloß er ihn ab und nahm den Schlüssel mit. In anderen Städten erbrach man die Türen. In Vienne tut man so was nicht.
Niemals werde ich den Tempel betreten. Stünde ich drinnen, ich würde sehen, daß er leer ist und daß die verschlossene Tür gar nichts verborgen hat, keine Statue, keine Gottheit, keine Beter. Die Tür verschloß das Leere, das Vergangene. Der Tempel enthält dasjenige, das ich draußen fühlen kann und drinnen nicht entdecken würde. Er enthält das Warten. Ich fühle das Warten hinter der verschlossenen Tür. Nur hier noch wartet etwas. Der Tempel ist das einzige ganz erhaltene römische Monument in Vienne. Vom alten Theater ist nur noch eine Mauer vorhanden. Dann gibt es Reste einer alten Treppe, die das Forum mit dem Palast verband. Und die Reste des Forums bilden einen Teil eines mittelalterlichen Hofes, in dem heute noch ein paar uralte Menschen leben. Die Steine der alten Form gingen über in eine jüngere Form, so wie eine Epoche übergeht in eine andere. Hier fühle ich die Entwicklung ohne Abschnitt, ohne Grenze. Der Stein fließt wie die Stunde.
Achtundfünfzig Jahre vor Christi Geburt hat Julius Cäsar den riesigen Aquädukt anlegen lassen. Ungefähr fünfhundert Jahre später drang Gondebaud, der König der Burgunder, durch diesen Aquädukt in die Stadt und eroberte sie. Das Denkmal half der Geschichte. Wie früher das Wasser drang jetzt eine neue Epoche in die Stadt.
Nur die Denkmäler der Gottheiten stehen ganz. Wie der Tempel des Augustus blieb, unberührt vom Lauf der Zeiten, noch die Kathedrale. Auch zu ihr empor führen flache Stufen. Ihre Türme liegen tief eingebettet hinter drei Bogen wie Augen unter dichten, vorgebauten Augenbrauen. An jedem Bogen kleben sechzehn hohle Kronen aus silberweißem Stein. In jeder Krone wohnt ein Taubenpaar. Die Vögel kommen und gehn, fliegen auf und kehren wieder, wie flatternde Gebete. Über dem Portal wölbt sich der Bogen über sechs Säulen eines zweiten, hohen, unerreichbaren Portals. Hier gehn keine irdischen Beter ein. Hier ist das Tor der Engel.
Drinnen ruhn der Kardinal de Montmorin und der Kardinal de la Tour d'Auvergne, der Erzbischof von Vienne. Alte Frauen sitzen in den tiefen Stühlen und beten. Die Decke ist dunkelblauer, gestirnter Himmel. Er ist so lebendig, so sehr Wirklichkeit, daß man glauben könnte, er wäre das Urbild des echten und nicht umgekehrt. Glücklich die Frommen, die hier beten! Sie sehn, wie ihre Gebete geradewegs hinaufsteigen und die Sterne erreichen. Nichts bleibt unerhört in dieser Kirche. Der Himmel ist so nah, daß er das leiseste Flehn vernehmen muß. Nur leben hier keine Lebendigen. Dieser Menschen Gebete sind frei von irdischer Qual. Ihre Wünsche sind schon jenseitig. Über ihnen ist der Himmel so tief, weil sie dem Himmel so nah sind.
Hoch auf dem Hügel liegen die endgültig Toten unter steinernen Kreuzen. Manchmal wandert eine uralte, kleine Frau hinaus, eine Kerze, eine Blume, einen Stock in der Hand. Es scheint nicht, daß sie einen Toten besuchen geht. Es sieht eher aus, als ginge sie sich selbst in ein Grab legen. Ihre zweite Wohnung auf dem Hügel ist längst bereit. Unten in der Stadt ist nur eine alte Katze geblieben, eine Pendeluhr, ein paar Stricknadeln und ein Jesus aus Gips.
Dreizehn Tage blieb ich in Vienne. Ich ging in das Postbüro, um einen lebendigen Menschen zu sehn. Ich ging am Abend den Arbeitern entgegen, um laute Stimmen zu hören. Aber die Arbeiter schwiegen. Sie wohnten meist draußen. Im Postbüro schliefen die Schalter. Ein paar Kinder spielten am Abend in den engen Gassen. Aber auch sie waren nicht wie Kinder in andern Städten. Kein Hund bellte. Die Glocken klangen von den Türmen, aber nicht wie Glocken aus Erz, sondern wie himmlische Signale. Ein Polizist fuhr auf einem gespenstischen Rad durch die Gassen. Ein Gefangenenwärter lebte im Gefängnis ohne Arrestanten. Alle Türen bestanden aus bunten Glasperlen. Alle Fenster waren offen. Fremde Touristen kamen in Automobilen, jagten wild durch die Stadt, brachen ein in die Stille der Kathedrale, peitschten ihre Blicke durch den Tempel des Augustus und verschwanden wieder.
Zweimal in der Nacht pfiff eine Lokomotive wie ein heulender Mensch.
Ich bin nicht mit der Bahn nach Tournon gekommen, sondern zu Fuß. Drei Tage war ich unterwegs. Ich bin die Rhône entlanggegangen, ohne Plan, ohne Führer und ohne länger als eine Nacht zu rasten. Ich sah die dunklen Schiffer auf den breiten Flößen und auf den hochbeladenen Kähnen, und die Angler, die stumm sind wie die Fische, die sich so selten fangen lassen. Immer hatte ich das leise Rauschen des Flusses im Ohr. Je weiter er fließt und je näher er seinem Ziel kommt, desto näher, desto lauter, desto gefährlicher ist er. Er verträgt keine Kähne mehr, und er mag keine Schiffer. Dennoch hat er eine liebliche Melodie, wenn man neben ihm hergeht, und seine Sprache ist sanfter als sein Charakter. An seinen Ufern sind viele französische Dichter geboren worden. Flüsse befruchten nicht nur die Erde. Der Wein wächst auf den Hügeln, und die Dichter blühen. Im Mittelalter haben hier die Troubadours gesungen. Ein paar Meilen weiter, Avignon schon nahe, liegt das Zauberschloß Les Beaux, das weiße Schloß der Poesie. Wäre hier nicht die Stadt Tournon, ich ginge weiter, Tag und Nacht, um Avignon zu erreichen, die weißeste der Städte. Aber da erheben sich schon die Festungsmauern einer mittelalterlichen, einer romantischen, beinahe einer deutschen Stadt. Das ist Tournon.
War ich soeben nicht in Vienne, das niemals aufgehört hat, römisch zu sein, obwohl die Burgunder es eroberten und obwohl es eine Stadt der deutschen Kaiser wurde? Es sind kaum drei Tage her, und mir ist, als wäre ich durch die großen, brausenden, mit wilder Geschichte gefüllten Jahrhunderte gewandert, die zwischen römischer Weltherrschaft und der Weltherrschaft der lateinischen Sprache liegen. Der Siegeszug der Sprache war glänzender, dauernder, wichtiger als der des Volks. Längst war die Erde verwandelt, und noch einmal und immer noch sprach man Latein.
Es begann zu regnen, als ich in Tournon ankam. Vor mir erhoben sich die scharfen Mauern der Festungsreste, und mir war, als gäbe es keinen andern Weg, in diese Stadt zu gelangen, als den, vorsichtig die gefährlichen Mauern hinaufzusteigen. Nirgends war ein Tor, nirgends ein Weg. Hoch oben sah ich die nassen Gitter vor den trüben Fensterscheiben. Ein paar Stufen führten zu einer schmalen Gasse, deren Ende man schon von weitem sehen konnte. Es war eine blinde Gasse, sie lief, ohne zu wissen, wohin, geradeaus gegen eine Mauer, die noch glatter und steiler schien als die Mauern der Festung. Niemand wohnte hier. Wie sollten auch Menschen in einer Gasse wohnen, in der man nicht weiß, wozu sie da ist? Gassen sollten verbinden. Sie führen das Lebendige zu Lebendigem. Diese aber führte den Stein zu den Steinen.
Aus der Ferne hörte ich, durch das Rauschen des Regens gedämpft, Menschenstimmen, Pferdewiehern und den hellen, singenden und tröstlichen Klang von geschlagenem Eisen aus einer Schmiede. Nur wenige Geräusche noch können einen Einsamen und Abgeschiedenen so plötzlich mit dem Leben verbinden und mit der Gemeinschaft der Menschen. Der Klang eines Hammers auf Eisen ist wie die Stimme der Tat, und wie eine Glocke ruft auch er zur Gemeinsamkeit. Als hätten die Hammerschläge mir einen Weg mitgeteilt, sah ich auf einmal einen andern kleinen Pfad, eine Gasse, schmal, eng wie ein Flaschenhals. Sie führte zur Stadt.
Ich liebe es, in den Städten die breiten Mitten zu finden, jene Plätze, von denen die Gassen nach verschiedenen Richtungen ausstrahlen und die nicht nur Mittelpunkte sind, sondern auch Anfänge zugleich. Von diesen Mittelpunkten aus erkennt man ebenso den Charakter wie die Anlage der Stadt. Sie sind still, stiller als andere Teile, oder laut, lauter als alle Gassen. Sie sind entweder wie geweiht und geborgen, herrschaftlich und stolz oder Brennpunkte des Lebens, von allen Geräuschen erfüllt, dienstbar und zweckbewußt.
Tournon aber hatte keinen Mittelpunkt. Tournon bestand aus Gassen, die unentwirrbar ineinander verflochten waren. Eine grausame Angst ergriff mich. Ich bin nicht in eine fremde Stadt gekommen. Ich bin in ein fremdes Jahrhundert geraten. Ich will in meine Gegenwart zurück. Und wie manchmal eine billige Allerweltsmeinung, die der kritische Sinn des wachen Bewußtseins negiert und weit von sich weist, in einem wüsten Traum von drohender, substantieller Wirklichkeit erfüllt werden und uns bedrängen kann, so bekam auf einmal die Phrase vom »finstern Mittelalter« gefährliches Leben und begann, mich wahrhaft zu ängstigen. Ich will zurück in meine Zeit! Verziehen sei ihr das tote Wissen, das sie ausmacht, und die stupide Mechanik, die sie bewegt! Ich bin ihr Kind, Teil von ihr, ich bin selbst Gegenwart. Und niemals fühlte ich mich so mit meinem Jahrhundert verbunden, niemals war ich so bewegt vom Gedanken an eine breite Straße, ein Automobil, eine Wasserleitung und ein Flugzeug. Man kann in einem einzigen Augenblick ein unermeßliches Zeitbewußtsein fühlen. Man kann mit wachen Sinnen, am lichten Tag, aus seiner eigenen Zeit hinausfallen und zwischen den Jahrhunderten der Geschichte herumirren, als wäre die Zeit ein Raum, als wäre eine Epoche ein Land. So ist es in Tournon.
Auf der einen Seite Hügel, auf der andern der Fluß. Es ist kein Platz zu atmen. Die Häuser haben sich hier verfangen. Sie können nicht mehr hinaus. Eine ganze Stadt ist gefangen. Sie findet Schutz vor dem Feinde, aber sie ist geschützt wie ein Mensch, der nur deshalb niemanden mehr zu fürchten hat, weil er lebenslänglich eingesperrt ist. Mühsam bricht sich eine Gasse ihre Gasse. Ach, sie stößt an eine Mauer, engt sich noch mehr ein, drückt sich zusammen, zwängt sich durch und trifft eine Schwester, der es ebenso geht. Wie gekrümmte Würmer liegen die Gassen zwischen den Häusern. Diese drängen gegen den Fluß und würden ertrinken, wenn sie nicht die schroffe Festungsmauer aufhielte.
Ich gehe rechts, links, vor und zurück. Ich höre Menschen reden und sehe ihre Bewegungen, aber alles ist weit von mir, wie durch Glaswände getrennt. Ein Kind lacht, aber es ist nicht das Gelächter, nicht das Kind meiner Zeit. Ich kann in fremden Ländern zu Hause und heimisch sein, aber nicht in fremden Zeiten. Unsere wahre Heimat ist die Gegenwart. Das Jahrhundert ist unser Vaterland. Unsere Stammesgenossen und Landsleute sind unsere Zeitgenossen.
Gäbe es hier nicht das berühmte Lyzeum, dessen Gründer der berühmte Kardinal von Tournon gewesen ist, ich würde fortstürzen, zum Fluß, die Hängebrücke hinüber, die nach Tain führt. Dort ist der Bahnhof. Dort gehn die Züge ab, die mich zurück in die Gegenwart führen.
Das Monument des Kardinals, eine kleine Büste, steht sehr bescheiden vor dem Lyzeum, in der linken Ecke, nicht im Hof, nicht vor dem Eingang. Als hätte der kluge Kardinal selbst diesen Platz bestimmt! Oh, welch eine weise Zurückhaltung! Wie würdig jesuitischer Tradition! Welch ein Gesicht! Was bist du? Kardinal, Höfling, Mönch, Gelehrter, Frauenliebling, Gläubiger, Skeptiker, Menschenkenner, Verächter? Wenn ich deine kleinen Augen sehe, deinen schmalen, langen und etwas eingefallenen Mund, dein kleines, aber plötzlich vorspringendes Kinn, deine schmale und noch im Stein vibrierende Nase, glaube ich, daß du entschlossen warst, alles zu scheinen und nur etwas zu sein, was man nicht wissen darf. Ein Gelehrter warst du nicht, denn du hast Karriere gemacht. Ideale hattest du nicht, denn du hast Ehrgeiz gehabt. Die himmlische Unsterblichkeit genügte dir nicht, du hast die irdische gewünscht. Ob du jene erreicht hast, weiß ich nicht genau. Diese aber ist dir gewiß. Dein Lyzeum ist heute noch eine Schule, von mehr als hundert jungen Leuten besucht, und jeder nimmt deinen Namen mit ins Leben und vererbt ihn seinen Kindern. Man halte sich an die Jugend und gründe Erziehungsanstalten und nicht Altersheime und Krankenhäuser! ...
Es sind Ferien im Lyzeum. Die Abendsonne liegt in den Korridoren, die Fenster sind offen, die Pförtnerin wischt den Staub von den Pulten, nur der Herr Sekretär sitzt noch in seinem Büro und nimmt Inskriptionen entgegen. Ich möchte hineingehn und mich anmelden. Ach! Ich bin dreißig Jahre alt! In dieser krummen und mittelalterlichen, aber weißen, weißen Stadt möchte ich jung sein, ein Knabe, und auf den Festungsmauern spielen und auf der Rhône das Lyzeum des Kardinals schwänzen. Aus diesem Mittelalter dann mitten in die Gegenwart hineinkommen – das ist ein Schritt ins Leben. Wie anders würde ich es fühlen! In wie vielen Jahrhunderten wäre ich zu Hause! Und wie lebendig wäre in meinem Blut das Bewußtsein von der unbedingten Kontinuität der menschlichen Entwicklung und wie verknüpft in meiner Seele ein Jahrhundert mit dem nächsten, und wie stolz wäre ich, ein Mensch zu sein! Die Kinder dieses Landes fühlen, daß wir Fortsetzung sein müssen der Vordern, um uns nicht zu verlieren. Sie haben die ganze Jugend in Geschichte getaucht. Getränkt mit dem Kulturbewußtsein vergangener Zeiten, stehen sie kritisch und gewaffnet den neuen Entwicklungen gegenüber. Nichts kann sie so erschrecken wie uns. Uns wirft jede Zeitungsnachricht aus dem Gleichgewicht. An diesem Land ist selbst der Weltkrieg vorbeigegangen, ohne mehr zu hinterlassen als Trauer und Tränen. Uns aber bereitete er das Chaos.
Weit gestreckt, eine kleine, abgesonderte Stadt, das Lyzeum. Die kleine Kapelle hat die ganze Traulichkeit eines schmalen Klassenzimmers, und noch liegen überall die jungen Stimmen, und an der Wand, vor der ein Beichtstuhl steht, haben hundert Bleistifte törichte junge Zeichen gekritzelt und Namen von Mädchen, und jeder Strich bedeutet eine geheime Regung, die man zwar keinem Beichtvater, wohl aber einer Wand mitteilt. Wie vortrefflich kann ich diese Zeichen lesen, und wie klar ist mir diese Geheimschrift!
Längst hat der Regen aufgehört. Die Abendröte eines klargewaschenen Himmels färbt die Fenster und die Wände der Kapelle und das Gesicht der alten Pförtnerin. Das ist eine fromme, himmlische Schminke für alte Frauen.
Die Stadt schläft am Abend, die krummen und ängstlichen Gassen ruhen von ihrer unermüdlichen Flucht aus. Jetzt gehe ich an den Fluß. Jetzt sehe ich den weißen halbrunden Turm der Bastei, mit den schwarzen schmalen Scharten im Leib und den winzigen vergitterten Fenstern, die ganz willkürlich und ohne Plan über die ganze Mauer verstreut sind und hinter denen jetzt die Arrestanten von Tournon sitzen. Aber auch der Bürgermeister, der Unterpräfekt und der Gefangenenwärter leben hinter denselben Mauern. An den Turm drängen sich kleinere, jüngere Gehäuse, aus der Ferne sieht man ein Bündel von Dächern, ein ungeordnetes, gleichsam frisch gepflücktes Häuserbukett.
So weiß wie dieser einzelne Turm werden alle Türme von Avignon sein. In der Nacht gehe ich nach Avignon. In Avignon muß man bei Tag ankommen. Morgen werde ich dort sein.
Das Antlitz der Landschaft verändert sich oft und plötzlich. Nur die drei Grundfarben bleiben immer: weißer Stein, blauer Himmel, dunkles Grün der Gärten. Die Gestalt der Erde aber ist wechselreich. Die Hügel sind bald schroff und bald spitz, bald sanft und bald rund. Hier starrt der rissige Fels, dort lächelt schon die leis geschwellte Ebene zwischen zarten Erhebungen. Daudet, der große Erzähler der Provence, hat die sehr treffende Beobachtung gemacht, daß die starke Sonne die Dimensionen vergrößert. Scharfes Licht erzeugt scharfe Schatten und stärkeren Gegensatz zwischen belichtetem und beschattetem Teil. Die Sonne läßt die Details wachsen und vermehrt sie. In sonnenschwachen und nebelreichen Ländern verlieren sich die Einzelheiten, und es ist, als drückte der tiefe und lastende Himmel das Ragende nieder. Ich bin immer nur durch nebelreiche Länder gewandert. Meine Wanderung war ein Kampf gegen die unerforschten Verborgenheiten der Landschaft. Ich fühlte durch alle ihre Güte hindurch die Unverläßlichkeit der Natur, das, was man im vermenschlichten Jargon »Tücke des Elements« nennt. Hier wanderte ich zum erstenmal mit Behagen. Ich konnte das Glück der Menschen verstehen, die sich sorglos einem Weg überlassen dürfen. Nichts Schreckliches konnte sie unterwegs treffen. Ihnen fehlte nur eines: der Wald.
Ja, es fehlte hier der Wald. Es fehlte die süße Feuchtigkeit und der geheime Gesang der Wälder. Wälder sind die Geheimnisse einer Landschaft. Diese Landschaft hat keine Geheimnisse. Ach, ich verstehe, daß hier die Rationalisten wachsen und anderswo die Mystiker blühn. Der Wind, der berühmte, besungene und gefürchtete Mistral, ist voll Vehemenz und ohne Widerstand. Die Wälder halten anderswo die Winde auf, hüllen sie ein, besänftigen sie, wie es Mütter mit großen, starken und wilden Kindern tun. Hier gibt es keine Wälder. Hier gibt es nur Gärten. Die Hälfte der Natur ist Privateigentum. Welch ein reiches Land! Jeder zweite Einwohner hat eine riesige, glatte Festungsmauer um seinen Besitz errichtet und ihren oberen Rand mit häßlichen Glasscherben bestreut. Hier darf kein Wanderer müde werden. Er müßte sich in den weißen, dichten, schweren Kreidestaub der Landstraße legen. Alle Seitenwege führen zu verschlossenen Häusern, zu umzäunten Äckern. Ach, ich begreife: Wo die Natur so liebenswürdig ist, können die Gärten verschlossen und hart sein. Die Sonne zündet die spärlichen Wälder an, sie brennen ab, einer nach dem anderen. Die Wälder sterben, der Sonne ist es noch immer nicht klar, übersichtlich, scharf genug in diesem Land. Wie rücksichtslos kann das gepriesene Licht sein und wie gütig der gescholtene Nebel! ...
Avignon aber könnte nicht zwischen Wäldern stehn. Avignon braucht Licht.
Avignon ist die weißeste aller Städte. Sie braucht keinen Wald. Sie ist ein steinerner Garten voll steinerner Blüten. Ihre Häuser, Kirchen und Paläste sind gewachsen und nicht gebaut. Noch um ihre klaren Formen webt ein Geheimnis. In ihren Mauern rauscht es wie in Wäldern. Ihr Stein ist weiß und grenzenlos tragisch wie alles Unermeßliche. Einfältige Legendenbücher enthalten manchmal Bilder von solchen Städten. Töricht-fromme Menschen stellten sich so die himmlische Stadt vor, in der die Seligen wohnen. Knaben träumen von solchen Städten mit weißen breiten Mauern, hundert Glocken, flachen Dächern, auf denen Königinnen spazierengehn.
Mit dem Begriff Festung verbinden wir das Bild einer drohend gezackten Burg hinter einer grauen, bemoosten und schroffen Mauer. Siehe da: Hier ist eine freundliche, beinahe einladende Festung. Sie zu belagern, wäre ein Genuß. Vor Bewunderung würde man vergessen, sie zu bekämpfen. Um sie zu erobern, müßte man sie umwerben. Hier flösse kein Blut. Hier gäbe es keinen grausamen Tod. Vor dem starken Klang der Glocken erstürbe jedes Getümmel.
Als ich vor einem der großen Tore stand, die in die weißen Mauern der Festung eingefaßt sind wie graue Steine in einem silbernen Ring, als ich die flachgezackten Türme und die edle Stärke, die adlige Festigkeit, die unerschrockene Schönheit dieser Steine sah, begriff ich, daß eine himmlische Macht wohl ihren irdischen Ausdruck finden kann und daß sie keinen Kompromiß zu schließen braucht, wenn sie sich selbst den irdischen Bedingungen anpaßt. Ich verstand, daß eine geistige Macht die Möglichkeit hat, ohne ihr Niveau zu verlassen, sich militärisch zu sichern, und daß es einen himmlischen Militarismus gibt, der nicht einmal die Art der Bewaffnung mit dem irdischen gemein hat. Diese Festungen haben Päpste angelegt. Es sind religiöse Festungen. Es sind geweihte Kräfte. Ich verstehe, daß sie den Frieden sichern konnten. Es gibt pazifistische Festungen und Waffen, die dem Frieden dienen und den Krieg verhindern.
Ist das eine mittelalterliche, ist das eine römische Stadt? Ist sie orientalisch oder europäisch? Sie ist nichts von alledem und alles zusammen. Sie ist eine katholische Stadt. Und wie diese Religion alle Völker umfaßt und wie diese Religion kosmopolitisch ist, so ist Avignon die Festung der katholischen Kirche, kosmopolitische, organische Verschmelzung aller Traditionen und Stile. Es ist Jerusalem und Rom, und es ist Altertum und Mittelalter.
Fünf Jahrhunderte lang regierte hier der vornehmste Geschmack. Fünf Jahrhunderte lang sammelten sich hier alle künstlerischen, politischen, literarischen Traditionen. Durch fünf Jahrhunderte lebte hier der geistige und der gesellschaftliche Adel Europas. Die Urbevölkerung dieser Stadt gehörte dem intelligenten, flinken und harten Volk der Kelten an. Aber Phönizier aus Marseille, Orientalen, die durch griechische Bildung gegangen waren, hatten Avignon begründet. Viele phönizische Familien blieben hier. Es waren Händler. Aber Händler einer Zeit, in der Handel noch Heldentum bedeutete und jedes Geschäft neben dem materiellen Zweck noch einen völkerverbindenden, Horizont erweiternden, historischen Sinn hatte! Welch eine Zeit, in der die Kaufleute die Aristokratie an wirklicher Bildung, Weltkenntnis und Weitblick um ein Beträchtliches übertrafen und in der zum Abschluß eines Vertrages mehr Mut gehörte als zu einem Krieg.
In so einer Zeit, von einem Volk solch heldenhafter Kaufleute wurde Avignon begründet. Phönizisches Blut mischte sich mit keltischem, römischem, gallischem und germanischem. Aber es ging nicht unter. Im Mittelalter noch behielt diese Bevölkerung den heitern und offenen Sinn, der ein Erbgut der orientalischen und griechisch gebildeten Seefahrer ist, und in der Hauptstadt der Kirche regierte ein fröhlicher Katholizismus, der Dionysos leben ließ, ohne daß es dem Glauben und der Macht geschadet hätte. Heute noch sind die Bewohner von Avignon halbe Phönizier: laut, unternehmungsfroh, schnelldenkend, gute Rechner und Kosmopoliten.
Die eigentliche Geschichte Avignons beginnt im 12. Jahrhundert. Die frühesten Bauten, die wir heute in Avignon sehen, stammen aus diesem Jahrhundert: die Kathedrale und die noch ältere Brücke von Avignon, deren Bau 1177 begonnen wurde. Sie war nur für Fußgänger und Reiter bestimmt. Denn sie ist zwar 900 Meter lang, aber nur 4 Meter breit. Im 13. Jahrhundert wurde sie abgebrochen. Heute sieht man nur noch eine halbe Brücke. Ihr letzter Pfeiler ruht in der kleinen Insel in der Mitte des Flusses. Ich habe einen alten farbigen Stich gesehen. Er stellt den traditionellen Tanz des Volkes auf dieser Brücke dar. Obwohl sie so schmal war, daß eine unvorsichtige Drehung gefährlich werden konnte, war sie doch der Tanzboden des Volkes von Avignon. Es rührt mich, daß die Leute hierher tanzen gingen, wo es am schmälsten und gefährlichsten war. Sie taten es sicherlich nicht bewußt, und es kam ihnen wahrscheinlich nicht in den Sinn, daß sie buchstäblich hart über dem Abgrund tanzten. Sie narrten den Tod. Sie hüpften über dem Wasser. Ihre Heiterkeit spiegelte sich in den heitern Wellen des Flusses, und vom Wasser entliehen sie die Fröhlichkeit. Auf dem alten Stich ist zu sehen, wie Kinder, Bürger, Frauen, Bettler und Mönche sich bei den Händen halten. Welch ein Trubel unter dem Protektorat der Kirche! Welch ein Fest unter den Augen des Papstes! Man kennt die schöne Geschichte Daudets vom »Esel des Papstes« und weiß, wie populär das Oberhaupt der Kirche in Avignons Straßen war. Hier, am Fluß, ging der Vater der Christenheit spazieren und lächelte. Es hätte wenig gefehlt, und er hätte mitgetanzt.
Denn die Päpste hatten Ferien. Die Geschichte nennt ihren Aufenthalt in Avignon sehr feierlich: das babylonische Exil der Päpste – aber es war das lustigste Exil, das die Welt je gesehn hat. »Rom«, schreibt Renan, »war in Wirklichkeit die turbulenteste italienische Republik. – Seine Umgebung war eine Wüste, jedem Wanderer gefährlich. – Der Aufenthalt in Rom war für die Päpste eine der unerträglichsten Gefangenschaften.« Clemens V. wanderte nach Avignon aus. Sein Nachfolger Johann XXII. begann zu bauen, er legte die Festungen an, die unter der Herrschaft Benedikts XII. verbessert und beinahe vollendet wurden. Drei große Kirchen haben die Päpste überdies in Avignon errichtet: Saint Agricol, St. Pierre und St. Didier.
Die imposanteste und dauerndste historische Erinnerung bleibt der Palast. Er ist im Innern durch die Ereignisse der Revolution fast vollständig vernichtet worden. Später war er lange Zeit und bis kurz vor dem Krieg eine Kaserne. Die Militärbehörde weigerte sich, den Palast zu räumen. Sein Inneres ist wüst, graue, rissige Kalktünche klebt an den Wänden. Die Restaurierung, vor einigen Jahren begonnen, schreitet sehr langsam fort. Zweimal täglich ist er das Ziel neugieriger Touristen und das Objekt falscher Erläuterungen, die ein Führer gegen Trinkgeld den Amerikanern erteilt.
Aber nichts kann vollkommen untergehn, was die Frömmigkeit gebaut hat und was in der Hoffnung auf eine ganz andere Unsterblichkeit, als es die irdische sein kann, entstanden ist. Hört nicht auf den Führer! Sondert euch ein wenig vom Troß der Touristen ab, und ihr werdet ein Fenster sehn, »Fenêtre de l'Indulgence«, das wie ein Tor zum Reich der Sonne ist, von vier Säulen gestützt und fünf schmale Portale bildend unter einem halbgeschwungenen und überraschend spitz endenden Bogen, in dem ein großes, kreisrundes Ornament über zwei kleinen eingefaßt ist wie eine himmlische Blume; ein Rad mit lebendigen Speichen, geschwungene Kreuze aus Licht und Glas; eine runde Ruhestatt für das Licht des Tages; die Sonne eingefangen in einem kunstvollen Netz. Ich bleibe einen Augenblick am Anfang der großen Galerie stehn, die schmal und lang ist, deren Decke hundert Bogen gebärt, alle paar Sekunden einen Bogen, wie ein Vorhang aus gerafftem Stein, lebendig und wechselreich wie aus weichem Stoff und eine Unendlichkeit vortäuschend wie durch raffinierte Spiegelungen. Am Ende des Korridors ein schmaler Streifen einbrechender Sonne, und hinter dieser rechteckigen Insel aus Licht, Gold, Silber und flimmerndem Staub eine Treppe, die wer weiß wo hinaufführt, zum Himmel vielleicht, unzählige, kleine, schmale, steile Stufen, ohne Pause, ohne Rast, eine unermüdlich eilende Leiter.
Dann stehe ich im Hof. Er ist von vier Seiten eingeschlossen wie ein Kleinod. Er hat viele schwarze Tore in den Wänden, aber man glaubt nicht, daß sie hinausführen. In diesem Hof müßte ein Gefangener seine Ohnmacht stärker fühlen als in einer kleinen und finstern Zelle. Er könnte in Fenster hineinsehn, aber niemals durch Fenster hinaus. Da ist ein Brunnen, da liegt meterhoch der Sand, da lagern Holzklötze, und hier sind Bretter und alte Pfosten. Und dennoch ist es immer noch der Hof eines Palastes. Wunderbare Fenster sehen in diesen Hof hinaus. Hier haben Soldaten Schießübungen veranstaltet, und hier hat man exerziert. In diesen Torbögen lehnten die Gewehre. Und doch hat der Hof der Kaserne, in der ich »abgerichtet« wurde, ganz anders ausgesehn. Ob es nicht eine Weihe gibt, die von einem Stein, einem Glas, einer Wölbung ausstrahlt und einen Hof vor der endgültigen Vernichtung schützen kann?
Die Militärbehörde wußte nicht, was sie tat, als sie die zarten Wandbilder übertünchen ließ. Unter dem schwachen, aber dauernden Schutz des Kalks haben sie lange Jahre ausgehalten. Sie hatte recht, die Militärbehörde. Das ist kein Anblick für exerzierende Menschen. Solche Bilder könnten die Disziplin einschläfern. Gebt weißen Kalk darüber, Kalk darüber, Kalk darüber! Verdeckt die Fresken von Matteo Giovanetti de Viterbo, den Christus am Kreuz. Er hat die armseligsten, hagersten Arme, sein Körper ist schmal wie ein Bein, seine durchstoßenen Hände sind halb gewölbt, noch offen, dem Betrachter zugekehrt, als schenkten sie noch im Tod, die Augen sind geschlossen wie bei einem Schlafenden, es ist die erste Sekunde nach dem Tod, im Gesicht ist kein Schmerz mehr, sondern eine stille Zufriedenheit, die spitzen, armen Knie ragen, beinahe starrend, und die Zehen sind schmal, stolz, lang wie Finger. Weder das ist ein Bild für Soldaten noch der schöne Kopf des Johannes, mit wallendem Haupt- und Barthaar, mit naiv gefurchter Stirn und klugen, bittern und guten Augen, ein Großvater, der die Welt kennt, mehr als ein Heiliger, ein Evangelist für fromme Kinder. Und auch die Jagdszenen, erst vor kurzer Zeit entdeckt und vom Kalk befreit, waren nichts für Krieger, obwohl die Jagd ja ein männliches Gewerbe ist. Nach diesen Bildern ist es allerdings keine Jagd, die eine Militärbehörde anerkennen könnte. Denn die Wälder, die Jäger, die Tiere sind nicht von dieser Welt, man hat die Überzeugung, daß diese Tiere noch leben, auch wenn sie erlegt sind. Sie sind flach, sie kleben an der Wand, es sind nur zweidimensionale Geschöpfe, sie werfen keine Schatten, sie kommen aus dem Traum und bleiben ewig ein Traum, und man weiß nie recht, ob sie wirklich mit irdischen Farben von irdischen Händen gemalt sind. Blätter, flach, schmal, immer unbeweglich, wie aus Gold gegossen; edle, schmale Hunde mit ornamental geringeltem, zartem Schweif und flachem, schmalem Kopf, hagere, langgestreckte Körper auf dünnen, laufenden Beinen. Es ist unwirklich und von der tiefsten Wahrheit, die nur im Traum offenbar wird.
Die Mauern der Festung sind unregelmäßig. Sie folgen den Launen des Felsens. Es ist eine fast demütige Nachgiebigkeit der Natur gegenüber. Das waren wirklich fromme Baumeister. Sie wollten nichts mehr, als die Stadt befestigen. Es kam ihnen auf eine schöne Wirkung gar nicht an. Aber die Schönheit erblühte aus der Zweckmäßigkeit. Sie entsproß dem frommen Sinn des Baumeisters. Er baute gegen feindliche Menschen und zur Ehre Gottes. Niemals ist eine Festung so sehr religiöser Lobgesang geworden. Gott ließ den weißen Stein wachsen. Niemals wird er seine Farbe verändern. Er wird mit den Jahren immer weißer, immer festlicher, immer jünger. So wie jemand, der unaufhörlich lange Jahre betet, immer verzückter, immer strahlender und himmlischer werden kann. Kathedrale und Palast schließen sich an die Festungsmauern. Sie sind Anfang und Ziel. Und so bleibt auch die Mauer noch Teil des Palasts und der Kathedrale, Fortsetzung des Herrschaftlichen und des Heiligen.
Jenseits der Rhône liegt die Sommerresidenz der Päpste mitten im Grün. Dieselben Mauern, eine kleine Tochterfestung, sommerlich, ein Ferienschloß. Villeneuve ist ein kleiner Ort, Filiale von Avignon, ebenfalls mit alten Schätzen beladen. Dort sah ich die marmorne Muttergottes mit den zwei Gesichtern, eine römische Reminiszenz, versprengt in die christliche Legende, und die Muttergottes aus Elfenbein, das Jesuskind auf dem linken Arm, mit einem römischen Gesicht, auch das Kind wie ein kleiner Römer, mit rundem Kopf und welligem Haar. Die Augen der Jungfrau sind gesenkt, aus Scham, vor den Betrachtern. In der Chapelle de l'Hospice ist das Grab Innozenz' VI., eine kleine eigene Kirche für sich. Der Sarg steht zwischen eckigen Pfeilern, die oben in spitze Türme auslaufen. Das ganze Grabmal sieht aus wie eine hohe Krone aus Stein. Der Sarg noch ist gekrönt. Er steckt in der Krone und füllt ihren unteren Teil ganz aus.
Keine einzige Kirche in Avignon, auch nicht die schöne St.-Peters-Kirche, ist an Pracht und weihevoller Größe der Kathedrale zu vergleichen. Ihre runden, weiten Wölbungen haben himmlische Maße, das Tageslicht fällt reich und doch gemildert und milchig ein, es sind viele Fenster da, der Altar liegt in vollem Licht, und eine unvergleichliche Atmosphäre entstand durch die Verbindung von Tag und Wölbung, durch die Sättigung des Schattens mit Licht und durch die gleichzeitige Dämpfung der starken südlichen Sonne mit Hilfe des Schattens: eine gleichmäßige Helle, aber auch ein gleichmäßiges Dunkel. Ein bescheidenes Portal führt in die Kirche, verhältnismäßig niedrig, von zwei Säulen flankiert, die sich beinahe furchtsam in die Ecken drücken. Ein glattes Tor, ein altes, verblaßtes Bild darüber. Durch solche unscheinbare Tore führt der Weg zur Seligkeit, wie hier so im ganzen Schloß, in allen Gemächern. Überall bergen sich die Türen. Sie wollen die Wände nicht stören. Der Raum, seine Eintracht sind das wichtigste.
In den Buchhandlungen von Avignon verkauft man das Bild Petrarcas, dessen Wahlheimat die Provence war, der 20jährig sich in Avignon ansiedelte, dem Geburtsort Lauras, der dann in Vaucluse lebte und sang und nach dem Tode der Geliebten nach Venedig zog, wo er die Stadtbibliothek anlegte. Aus Dankbarkeit überwies man ihm als Wohnstätte ein Schloß.
Ich glaube nicht an Zufälle. Daß in Avignon die berühmteste Frau aller Zeiten gelebt hat, das hätte ich dieser Stadt auf den ersten Blick zugetraut. Den Anspruch, von großen Dichtern besungen, aber auch geliebt zu werden, könnten heute noch die Frauen dieser Stadt mit Recht erheben. Ich habe beobachtet, daß in den Gegenden, in denen häufige und günstige Rassenmischungen vorgekommen sind, die weiblichen Nachkommen am meisten gewinnen. Die Frauen von Avignon sind mit Unrecht weniger berühmt als die Arleserinnen. Ich habe in Arles einen Frauentyp am häufigsten getroffen: den römisch-provenzalischen, etwas herben, strengen mit der schmalen, langen Nase und dem schmalen Mund, mit großen Augen und einem spitzen Kinn, herzförmige Frauengesichter, geeignet, leidenschaftlich besungen, aber nur mit Bedacht geküßt zu werden und mit dem Bewußtsein, daß der Kuß eine Bindung ist. Andere Frauen leben in Avignon. Hier gibt es keinen einheitlichen Typus. Aber alle Mädchen gehn zart und flink auf hohen Beinen, alle, auch die blonden, haben die sanfte, olivfarbene Haut, die niemals braun, niemals rot wird und an welcher die Sonne, der Wind, der Regen und selbst das Alter machtlos vorübergleiten. Ja, auch das Alter! Denn obwohl das sagenhafte Vorurteil von Männermund zu Männermund geht, daß die südlichen Frauen schneller alt werden als die nördlichen, sind in Avignon noch die Fünfzigjährigen mit jenem Liebreiz begabt, der die Treue der Männer erhält und ein temperamentvolles Altern verbürgt, das ich einem sanften Absterben vorziehe. Übrigens ist es kein Wunder. Die Liebe erhält jung, und eine Lebensfreude, bei der das Wohlergehn nur eine angenehme Begleiterscheinung und bei der die Hauptsache ein geistiges Genießen ist, verbürgt eine späte Beweglichkeit. In Avignon freuen sich alle Mädchen. In den engen Gassen, in denen alle Familien am Abend sitzen, mit Kindern, Hunden, Katzen, Papageien, Schwiegersöhnen und Großmüttern habe ich immer nur Lachen gehört, und mir, einem fremden Spaziergänger, dem man seine Fremdheit ansehen mußte, rief man freundliche Grüße zu, und wenn einer gerade mehr Wein getrunken hatte, als er gewöhnt war, wäre er bereit gewesen, mich in seinem Hause zu bewirten. Sein Haus war allerdings die Gasse.
Ich habe in den Lettres historiques galantes den Abschnitt über Avignon gelesen. Der Autor dieses Buches ist die kluge Frau Dunoyer, in der Literaturgeschichte besser bekannt durch eine Art schwiegermütterlicher Beziehung zum jungen Voltaire als durch ihre Werke. Sie ist die Mutter jener Pimpette, welche die erste Geliebte Arouets war. Frau Dunoyer, eine Journalistin mit Beziehungen, hatte es verstanden, das Verhältnis Voltaires zu ihrer Tochter durch List und Gewalt zu lösen. Bei den Voltaireforschern kommt sie schlecht weg, Brandes urteilt über sie am schärfsten. Aber sie war schließlich eine Schriftstellerin. Als ich sie las, erfuhr ich wieder einmal, daß bei schreibenden Menschen, sogar bei schreibenden Frauen, Talent und Stil beurteilt werden sollen, nicht Charakter und Handlungen. Nie hätte ich, nach dem, was von ihr bekannt war, Frau Dunoyer eine so begabte Hand zugetraut. Sie schildert das Leben im Avignon des 17. Jahrhunderts so lebendig, daß ich es ganz gegenwärtig fühlte. Wenn man der Autorin glauben soll, war Avignon galanter als Paris. Da kamen die reichsten Lebemänner der Welt zusammen, es war ein Gedränge vornehmer Karossen, ein Korso der verschiedensten Stämme, Länder, Stände und Uniformen, man sah Diplomaten, Kardinäle, Edelmänner in bunten Kleidern. Am meisten imponieren der Madame Dunoyer die goldbestickten Schweizer, die Garde der Legaten. Frau Dunoyer war schließlich doch eine Frau. Und sie wird nicht die einzige gewesen sein, der diese Schweizer gefallen. Sooft ich eine breitschultrige, starke Tellgestalt unter den schmächtigen, schlanken, knabenhaften Männern sah, dachte ich an die segensreiche Wirkung der päpstlichen Schweizer.
Sie sind nicht umsonst so lange noch nach der Rückkehr der Päpste nach Rom in Avignon geblieben. Wäre ich ein Papst, ich säße heute noch dort. Ich säße, was bestimmt keine Sünde wäre, vor dem Porträt von Delorme Eine Avignonerin in Gala-Toilette im Musée Calvet und müßte lange, lange dieses Angesicht bewundern, ein kindlich spöttisches Gesicht mit vorgeschobener Unterlippe, den Blick erhoben, wie gegen einen Balkon gerichtet oder auch gegen den blauen Himmel von Avignon, die zarten, aber festen Bogen der schwarzen Brauen in sicherem Schwung emporgezogen, ohne daß ein Fältchen auf der glatten, freien, runden Stirn entstanden wäre. Ein hochmütiger Augenaufschlag, ein bißchen skeptisch, ein bißchen spöttisch, und dennoch von kindlicher Erwartung. Diese kurze, aber sehr bestimmte Nase liebte ich und diese lange Oberlippe mit dem zarten Kanal in der Mitte. Eine galante Frau, eine aus den besten Ständen: Sie ist dennoch volkstümlich, ein Kind vom Lande, sie könnte in einer anderen Tracht eine Bäuerin sein. Denn dieses »Land« macht seine Töchter nicht grob, und ich habe Mägde mit den zartesten Händen von der Welt gesehn. Es ist ein sehr kultivierter Boden, ein Land ohne Mais, ohne Kartoffeln und ohne Schwarzbrot. Es erzeugt gesunde, aber nervöse Menschen. Ich habe gesehn, mit welcher eleganten Sicherheit sich alte Bäuerinnen in ihrer ländlichen Tracht in den Luxuslokalen der Stadt benahmen. Es gibt in der Provence überhaupt nicht den Unterschied zwischen städtischer Dame und ländlicher Frau. Einer alten Führerin in Les Beaux sagte ich, als sie mir ihre zwei Photographien zur Wahl vorlegte – jeder alte Mensch in Les Beaux verkauft seine eigene Ansichtskartenphotographie –, daß ich nicht entschlossen wäre, weil sie auf beiden Bildern so verschieden schön sei. Sie antwortete sofort: »Oh, mein Herr, wenn Sie mir das vor 30 Jahren gesagt hätten!«
Wenn ich der Papst wäre, ich lebte in Avignon. Mich würde es freuen zu sehen, was dieser europäische Katholizismus zustande gebracht hat, welche großartige Rassenmischung, welch einen farbigen Wirrwarr der verschiedenen Lebenssäfte, und wie trotz dieser Vermengung kein langweiliges Einerlei entstanden ist. Jeder Mensch trägt in seinem Blut fünf Rassen, alte und junge, und jedes Individuum ist eine Welt von fünf Erdteilen. Jeder versteht jeden, und die Gemeinschaft ist frei, sie zwängt niemanden in eine bestimmte Haltung. Der höchste Grad von Assimilation: gerade so fremd, wie einer ist, soll er bleiben, um heimisch zu werden.
Wird die Welt einmal so aussehn wie Avignon? Welch eine lächerliche Furcht der Nationen, und sogar der europäisch gesinnten unter den Nationen, diese und jene »Eigenart« könnte verlorengehn und aus der farbigen Menschheit ein grauer Brei werden! Aber Menschen sind keine Farben, und die Welt ist keine Palette! Je mehr Mischung, desto mehr Eigenart! Ich werde diese schöne Welt nicht erleben, in der jeder einzelne das Ganze repräsentieren wird, aber ich fühle diese Zukunft schon heute, wenn ich auf dem »Platz der Turmuhr« in Avignon sitze und alle Rassen der Erde im Gesicht eines Polizisten, eines Bettlers, eines Kellners leuchten sehe. Das ist die höchste Stufe der »Humanität«. Und »Humanität« ist die Kultur der Provence, deren großer Dichter Mistral auf die Frage eines Gelehrten, welche Rassen in diesem Teil des Lands leben, verwundert sagte: »Rassen? Aber es gibt ja nur eine Sonne!«
Die verzauberte Welt der kleinen mittelalterlichen Epen romanisch-orientalischen Charakters ist verwüstet, aber noch nicht spurlos verschwunden. Ihre Heimat ist das »Herz der Provence«, die Gegend von Maillane und Les Beaux. Ich kenne noch die Abenteuer der fahrenden Ritter. Sie reisen, von einem kleinen, bunten Vogel geführt, durch einen dichten Wald, kaum ein paar Meilen weit, und befinden sich plötzlich in einem andern Land, in dem achtzig Burgen ragen, in der Mitte die höchste, und alles ist aus weißem Stein. Sie reiten über gläserne Brücken, an Felsen vorbei, die versteinerte Könige sind, versteinerte Bäume, versteinerte Seen. In der Burg lebt die schöne Königin, eine junge Witwe, die auf einen tapferen Mann wartet, oder die schöne, sanfte Tochter eines grimmigen Königs. Ich erinnere mich, daß das Glasmotiv immer wiederkehrt. Entweder bricht ein gläserner See und der stürzende Reiter ist im verzauberten Land, oder er schläft ein und träumt, daß er durch eine gläserne Mauer schreitet, hinter der die unbekannte, überraschend weiße Welt sich auftut.
Als ich nach Les Beaux kam, begriff ich die Häufigkeit des Glasmotivs in den Rittersagen des Mittelalters. Die Luft ist hier ganz klar und gläsern und ganz verschieden von der Wärme, in die ich noch vor einer halben Stunde wohlig eingehüllt war. Auf diesen Höhen bläst scharf der Mistral an manchen Tagen, er verfängt sich in den Höhlen des Kreidefelsens und in den hohlen Ruinen der Türme und weiten, fensterlosen Gemächer, er vertreibt die dichte Luft und putzt die Atmosphäre blank, so daß man glaubt, den Felsen hinter Glas zu sehn, und sich wundert, ihn mit der Hand greifen zu können. Alles Nahe rückt in die Ferne. Vielleicht, weil man sich wundern muß, ein so Fernes so nahe zu sehn. Weil man seinen Augen nicht traut, wenn mitten aus grünem Blühen eine weiße Kreidewüste dem Wanderer entgegenspringt. Man muß nicht der naive Ritter des frühen Mittelalters sein, um zu glauben, daß man im Traum durch eine gläserne Mauer gestoßen sei. Diese Berge sind aggressiv, und man gelangt nicht zu ihnen, sondern sie überfallen den ahnungslosen Wanderer. Die breite Landstraße wird immer steiler. Schon rücken die Felsen ganz nahe heran, schon säumen sie den Wegrand, auf einmal reißt ein Berg sein grünes Kleid von seinem kreidigen, zerklüfteten Leib, dann noch einer und ein dritter. Jetzt sind sie ganz nackt. Jetzt ist weit und breit kein Baum, kein Strauch zu sehen, nur ein gefrorenes Kreidemeer, mit stehengebliebenen Wogen und Wellen, mit versteinerten Schiffen und seltsamen erfrorenen Tiergestalten. Kein Ufer, kein Rand, kein Land! Der tiefblaue Himmel säumt das unerbittliche Weiß von allen Seiten, und die Sonne brennt schwer auf die Kreide. Aber das ist kein Eis, das schmelzen könnte. Das ist Glas, Glas, Glas.
Hier also liegen die Ruinen von Les Beaux.
Es sind keine Ruinen in der üblichen Bedeutung. Sondern es ist die Rückkehr des Steins zum Stein. Kreide war einmal ein Schloß und ist wieder Kreide. Die ganze Burg lag im Felsen. Der Fels hatte sie geboren und einige Jahrhunderte in seinem Schoß gehalten. Jetzt ist der Fels wieder Fels. Erwächst wieder. Er erneuert sich und überwuchert die Formen der Burg. Und immer noch leben in seinen Eingeweiden Menschen. Die Bevölkerung von Les Beaux zählt 300 Seelen. Von ihnen wohnen 100 in den Ruinen. Kinder werden geboren und wachsen auf zwischen wüstem Stein und historischen Monumenten. Verliebte junge Menschen wandern am Abend durch Kavernen. Sie umarmen sich auf Kreide. Sie zeugen in leeren Gräbern. Alle Alten werden hier »Fremdenführer«. An jeder zweiten Tür steht ein Mann, der ein Trinkgeld verdienen möchte. Es ist traurig zu sehn, wie die Unproduktivität der Wüste die Menschen unproduktiv macht. Wie alle davon leben, daß sie einen Stein zeigen, den man ohnehin sieht. Und niemand weiß, wie hier in das großartige Schweigen toter Geschichte der Lärm von sechzig Führern sechzig schreckliche Löcher schlägt.
Ach, man müßte hier schweigsam sein wie der Stein und daran denken, daß dieses Schloß einmal das Symbol einer Epoche der Menschheit war. Die Herren des Schlosses – man sagt, es wären die von Hugues – waren die mächtigsten Fürsten im Land. Sie besaßen achtzig Schlösser, und sie hatten tagsüber viel zu tun mit Kriegen, Belagerungen und kleinen Überfällen auf Kaufleute, aber ihre schönen Frauen saßen zu Hause, und es war jene großartige Zeit, in der die »Holdheit« noch keine kitschige Bedeutung hatte und eine ehrliche Eigenschaft der Frauen war. Die Troubadoure kamen von allen Seiten zur Burg Les Beaux gezogen, die Kollegen unserer Minnesänger, wahrscheinlich ein wenig galanter als diese und wahrscheinlich auch weniger innig. Aber alle schönen Worte von Liebe und der ganze Troß der Begriffe, die in den amourösen Diensten stehn, waren noch funkelnagelneu, eben aus dem Volksmund gekommen und noch nicht zersungen. Noch im 15. Jahrhundert regierte hier eine Frau, die Königin Jeanne, und verspätete Troubadours, in anderen Kleidern mit neuen Sitten, aber dem alten Gesang, pilgerten immer in dieses gläserne, verwunschene Schloß, das unwahrscheinlich und furchtbar weiß und trotzig war und in dessen Innern die Zartheit wohnte.
An die Königin Jeanne erinnert hier nur noch der kleine, nach ihr benannte Renaissance-Pavillon, den Mistral so gut besang, daß man ihn zum Lohn in einem getreu nachgebildeten Pavillon begrub. Es ist ein kleines Schlößchen zwischen zwei Wänden mit einer kleinen moosbewachsenen, aus Quadern zusammengewölbten Kuppel, die an den Panzer einer Schildkröte erinnert, mit vier kleinen Säulchen und einem Miniaturtörchen, ein bißchen zernagt vom Zahn der Zeit, von Touristen zu häufig besucht und ganz rührend in einer Bescheidenheit, die warm ist und beinahe menschlich. Viel imponierender ist das berühmte »Höllental«, eine 300 Meter lange Schlucht, von den Eingeborenen mit Scheu betrachtet. Höllengeister sollen hier wohnen. Noch zackiger ist der Stein, noch wüster die Kreide, es könnte der Rachen eines 300 Meter langen teuflischen Krokodils sein. In einigen Büchern steht es schwarz auf weiß, mit jener Sicherheit, die eine zweifelhafte Tugend der Historiker ist, daß Dantes Höllengesang durch dieses Tal verursacht wurde. Sicher ist nur, daß Dante sein großes Lied zuerst in der provenzalischen Sprache schreiben wollte. Man zeigte mir auch die »Feengrotte«, die in Mistrals Mireille besungen ist. Aber in der Nähe dieser Schloßruinen und in einer Welt, die so ungewöhnliche Formen aufweist, ist eine Feengrotte eine Kleinigkeit.
Nicht aber die Kirche St. Vincent aus dem 12., 13., 14., 15., 16. und 17. Jahrhundert. Es scheint, daß Menschen, die in einer Steinwüste leben, in dem Hause Gottes Erholung suchen wie andere auf einer Wiese. Strenge, Schärfe, Unerbittlichkeit waren ringsum, so weit das Auge sehn konnte. In der Kirche aber blüht die Heiterkeit. Es ist eine wunderbare, helle Kirche mit frischen, gesunden und lebensfreudigen Heiligen, mit viel hölzernem Zierat, das noch Waldgeruch auszuströmen scheint, mit niederen Bänken, wie für Kinder, und einem menschlichen, nahen Altar. Als ich in die Kirche trat, rüstete man gerade zu einem lokalen Fest, der Pfarrer hatte die Soutane aufgeschürzt und die Ärmel hochgerückt, Kinder trugen Reisig, Frauen säuberten Teppiche, Säuglinge lagen in Wiegen neben Opferstöcken, das ganze Dorf war da, die Türen standen offen, die eigene Helligkeit der Kirche mischte sich mit der des Tags, und es war wie ein Lichtaustausch zwischen zwei befreundeten und verwandelten Welten. Ich glaube, die Leute könnten unter den Steinen niemals froh werden, wenn es diese Kirche nicht gäbe. Die Kinder, die in den Höhlen geboren werden, erblicken erst bei der Taufe das Licht der Welt.
Ich habe dann in St. Rémy das berühmte Mausoleum und den Arc de Triomphe betrachtet, zwei kolossale Monumente der römischen Herrschaft, berühmt und oft beschrieben, imposante Zeugen einer imposanten Größe, Stein, der so dauerhaft war wie der Geist und der sich nichts aus den Jahrhunderten macht. Diese Monumente haben es allerdings leichter als Bauten in anderen Ländern. Denn es regnet hier selten, der freie Himmel ist wie ein schützendes Zelt, er selbst sendet keine vernichtenden Kräfte aus, sondern eher erhaltende. Hier haben die Steine ein gutes und langes Leben.
Diese Betrachtung allein aber war es nicht, die mich zwang, auch im Anblick eines alten Triumphbogens, eines Mausoleums, eines wunderbar erhaltenen römischen Theaters in Orange, fortwährend an das Mittelalter und Les Beaux zu denken. Was also war es? Ist es nicht erhebend, die Ewigkeit Roms zu erleben, noch einmal die blühende Jugend Europas, unwiderleglich das Leben des längst Vergessenen zu sehn und zu erfahren, daß irgendwo noch die Steine beweisen können, was die Stumpfen nicht glauben wollen? Waren es nicht steinerne Seelen? Fühlte ich hier nicht noch den Weg nach Rom? Hier hinunter führte er über die Alpinen, schnurgerade, wie nur ein Weg, auf dem unverrückbare und ewige Ziele wandern. Felder und Städte verdecken ihn, aber sie schaffen ihn nicht aus der Welt. Auch die verdeckten Wege führen nach Rom. Wie hier, so stehen noch einige Triumphbogen in einigen Ländern, und selbst wo sie verfallen sind, weht noch immer ihr riesiger steinerner, kühler Schatten allen, die Geschichte fühlen.
Und dennoch kann ich Les Beaux nicht vergessen. Hier, scheint es mir, siegten zum erstenmal Trümmer über Monumente. Die Monumente sind erhaben. Aber die Trümmer sind tragisch. In aller Größe des Triumphbogens ist noch die Heiterkeit einer singend siegenden Welt. In aller Kolossalität lauter Harmonie und nichts von Konflikten. Wie schlossen sie die heidnischen Augen vor dem Problem, und wie kühn und licht überwölbten sie mit den schönen Bogen die Häßlichkeit und die Trauer!
Aber Les Beaux ist zerklüftet. Das Mittelalter ist tragisch. Nicht weil es zerstört wurde. Ganz erhalten, wäre es noch tragischer. Tragisch selbst der Troubadour, dessen Ankunft Frohsinn verbreitete. Tragisch die schöne Königin im sehr schroffen Gemäuer. Tragisch der Tod, die Geburt, das Fest, die Hochzeit, das Mahl. Die Welt noch naiv, aber schon problematisch. Schon liegt der Schatten des Gekreuzigten, Stillen, Traurigen über den Jahrhunderten. Noch ist Pans Flöte nicht verklungen, und schon erhebt sich die Stimme der Orgel.
Ein paar Kilometer liegen zwischen dem Triumphbogen und den weißen Ruinen. Schmal sind die Grenzen der Epochen. Ein Schritt trennt die Zeiten. Trennt er sie? Ist das eine Grenze? Ist das nicht ein Übergang? Liegen sie nicht heute friedlich nebeneinander, heute, da beides ausgekämpft hat? Lag nicht beides kindlich nebeneinander im Land meiner Kindheit? Floß nicht eins ins andere in meinen Träumen? Ist es heute nicht wieder eine Welt, zusammengeschweißt von der Macht der Erinnerung? Lebt nicht der Orient im römischen Bogen, lebt nicht der Orient im mittelalterlichen Epos? Gibt es wirklich verschiedene Welten? Gibt es nicht eine einzige? Was uns trennend erscheint, ist es nicht einigend?
Kein Führer gibt Antwort. Wir sind da, um zu fragen. Wir sind da, um zu glauben.
Im kleinen Stadtpark von Nîmes ist Alphonse Daudet in Marmor verewigt, in der Mitte eines kleinen Bassins, von zwei weißen Schwänen ständig umkreist, die sich hintereinander mit der schweigsamen und präzisen Stetigkeit von Uhrzeigern drehn. Daudet sitzt in den etwas lockeren Kleidern, die damals noch die Gewänder der Dichter waren, für unsern Geschmack zu betont künstlerisch und das Gesicht in einer zu realistischen Lebendigkeit festgehalten, in der überlieferten Pose des Dichtens, worunter sich die Bildhauer um die Wende des Jahrhunderts eine Art zielbewußter Geistesabwesenheit vorzustellen liebten. Daudet »sinnt« – wenn man dem Bildhauer Falgnière glauben soll. Dennoch ist es ein rührendes Denkmal für einen so stillen, feinen und empfindsamen Dichter, der die Grenzen der Bürgerlichkeit niemals verließ, auch nicht, wenn er die Bürgerlichkeit ironisierte. Er konnte sich und uns sehr gut über die Welt lustig machen, von deren Art er selbst war, und diese Welt hat ihm deshalb nichts übelgenommen, obwohl gerade sie es ist, die den Spott am wenigstens verträgt. Daudet ist vielleicht der einzige seiner Art, der eine westeuropäisch begrenzte Unsterblichkeit errang. Im schönen kultivierten Ziergarten der Provence ist er eine gepflegte Blüte, die über ihr heimatliches Beet hinauswächst, aber es niemals verläßt. Maupassant, der nördliche Franzose, spottete so gründlich, daß die französischen Bürger sich heute noch getroffen fühlen. Maupassant hat erst 1925 ein Denkmal in seiner Heimatstadt bekommen. Er hätte selbst darauf verzichtet. Daudet lebte schon seit 1900 in Marmor und in Nîmes, und er ist gewiß bescheidenstolz auf sein Denkmal.
Denn der Süden konserviert. Im Süden kann man vielleicht ein echter Dichter und »reaktionär« sein und die traditionellen Lügen der Gesellschaft für heilige Traditionen halten. Der Süden konserviert die Steine, die Fragmente, die Weltanschauungen. Im Norden ist es anders. Wem die Augen im Norden nicht aufgehen, der kann vielleicht ein »Dichter« im engsten Sinn des Wortes sein, aber er bleibt als Schriftsteller – das heißt zur Hälfte ein Wissender und zur Hälfte ein Weiser – unbeholfen. Er kann uns was zu singen haben. Er hat uns nichts zu sagen.
Wer in Nîmes geboren wird und noch 14 Jahre vor dem großen Krieg sein Denkmal erhält, kann leicht mit der Welt zufrieden sein. Nichts stört den bürgerlichen Frieden von Nîmes. Hier hat man sogar verstanden, die großen Monumente der wahrhaft unbürgerlichen Römerzeit der Stadt, auch ihren neuen Teilen, einzuverleiben und in der großen römischen Arena ein Freiluftkino zu errichten. Den Einwohnern von Nîmes kommt es gar nicht in den Sinn, daß den Kinematographen von der Arena nicht nur die Jahrhunderte scheiden. Sie leben sorglos, und mit vergnügter, beharrlicher Ahnungslosigkeit flechten sie die Epochen der Geschichte ineinander, wie Blinde Körbe flechten, die sie niemals sehen werden. Sie wissen nicht, was sie tun, aber vielleicht erfüllen sie eine große Aufgabe. Das ist die Unschuld der Menschen, die im Schatten der Geschichte wachsen. Sie sind wie Kinder am Fuße eines Vulkans. Sie halten die steinernen historischen Feiertage für gewöhnliche Wochentage. Den Kaiser Augustus behandeln sie wie einen toten guten Bekannten der Familie, mit dem der Großvater noch Domino gespielt hat. Ich könnte, mit einer Gesinnung beladen, die den Braven, Guten im höchsten Grade gefährlich erscheinen müßte, unter ihnen leben. Ich käme mir um zwei Jahrzehnte jünger vor. Ich könnte mit ihnen die Arena vor jedem Sturm verteidigen, von dessen geschichtlicher Notwendigkeit ich selbst überzeugt wäre.
Denn es täten mir alle Schätze der Vergangenheit leid, und ich wünschte, daß der neue, der nächste und der übernächste Mensch, der Mensch aller Formen, durch die wir noch zu wandeln und uns noch zu wandeln haben, den Zusammenhang mit der Kindheit Europas behalte und mit seiner eigenen oder daß er sie so wiederfinde wie ich. Es muß, glaube ich, irgendwo einen geschützten Bezirk geben, in den das Neue ohne die vorangehende Zerstörung dringen soll, mit gesenkten Waffen und mit gehißter weißer Friedensfahne. Diese Bezirke sind nicht alle geographische, aber manche sind auf der Landkarte genau abzuzeichnen. Zu ihnen gehört der Süden Europas.
Ich habe hier gelernt, daß nichts beständig ist, was nicht Fortsetzung ist, überraschende Fortsetzung vielleicht, aber doch eine. Die Kette reißt nicht ab, und man darf sie nicht zerreißen. Intellekte und Kulturen gehn nicht unter. Rassen gehn nicht unter. Mitten unter uns, vielleicht in jedem von uns, leben die Völker, die scheinbar von der Erdoberfläche, aber eben nur von der Oberfläche verschwunden sind. Uns oben, uns den Stürmen unmittelbar Ausgesetzten, mag es manchmal vorkommen, daß irgendwo ein Volk, eine Rasse, eine Epoche ihr Leben ausgehaucht hat und daß anderswo ein neues Leben, eine neue Rasse, ein neuer Kampf, ein neuer Sieg beginnt. Welch eine Kurzsichtigkeit! In den allerersten Kulturwehen einer längst unsichtbar gewordenen Rasse, ja eines vom Meer verschlungenen Erdteils lag unsere letzte, endgültige Kulturform schon beschlossen. Es gibt kein unbeschränkt und allein »Kommendes«, kein endgültig »Verlorenes«. Im Kommenden ist das Vergangene. Wir können die Antike aus unsern Augen, aber nicht aus unserm Blut verlieren. Wer eine römische Arena, einen griechischen Tempel, die ägyptischen Pyramiden und ein hilfloses Werkzeug aus der Steinzeit gesehn hat, muß es wissen.
In Nîmes sind, wie gesagt, alle römischen Denkmäler durch eine Art Einverleibung bürgerlich gemacht. Aus dem Tempel der Diana hätten sie beinahe ein Magistratsbüro gemacht, im »Maison Carrée«, der einmal ein Tempel Jupiters war, statt des kleinen Museums ein Standesamt, im mächtigen Amphitheater ein Schiedsgericht. In dieser furchtbaren Nähe des Kleinbürgers wird, obwohl es ohne Zweifel Kultur hat, jede Größe niedlich.
Und obwohl das Amphitheater zu grausamen Zwecken errichtet worden ist und obwohl die blutigen Spiele der Römerzeit eine (klassische) Bestialität waren, füllt sich eine Arena als Schauplatz eines provenzalischen Stierkampfs, besonders wenn dieser ein Spektakel des Kleinbürgertums ist, mit der Atmosphäre eines bürgerlichen Kasinos. Das ist das Furchtbarste an den Stierkämpfen: daß der Barbiergehilfe, der Schneider, der Feldwebel im Anblick eines Tieres Heroen werden. Der berufliche Stierkämpfer ist es nicht einmal. Im Zivil ist er ein Spießer. Aber heute, am Sonntagnachmittag, hat er wenigstens ein Kostüm, und es mag sein, daß ein buntes Tuch, das den Stier mit Recht reizt, einen geizigen Bauer, der vor seiner Frau Angst hat, mit wirklichem Mut erfüllt. Er setzt sich ja schließlich auch der Gefahr aus. Aber rings um den Zaun, der sie schützt, stehn die kleinen Männer in den Sonntagsanzügen, Männer mit Bäuchen und Schwächlinge mit dem Kummer im Angesicht, den nur ein ganz kleinlicher Alltag und ein winziger Ehrgeiz zeichnen. Und diese Leute werfen dem Stier Mützen und Schimpfrufe in den Weg, sie reizen ihn, und wenn er gegen den Zaun stößt, verschwinden sie schnell. Alle sind sachverständig. Alle tun so, als könnten sie den Stier bei den Hörnern packen. Und ich sehe ihre kleinen, kümmerlichen Tage, die sauer sind wie ihre Gesichter, ihre Unterwürfigkeit gegen alles, was »reich« und »vorgesetzt« sein könnte, ihren Hochmut im Anblick eines Wehrlosen, ihre Demut im Anblick der Stärke. Ein Bauer stößt eine Lanze in den Rücken des Stiers, ein Bauer, der morgen feilschen wird, beim Schweinehandel: ein Held! Besungen in den Heldenliedern des Landes, Erbe verwegener Sitten, Träger alter Traditionen, geboren auf historischer Erde und ein Kleinbürger vor allem. Ein furchtsamer, scheuer, kühner, heldenmütiger Kleinbürger. Ich kann dieses sagenhaft weiße, unermeßliche Oval der Arena nicht vergessen. Auf den alten Steinen, vor denen ich Achtung hätte, wenn sie leer wären, befinden sich die Repräsentanten des sonntäglichen Familienlebens im Süden. Die Erhabenheit des Stiers aber ist jener der Steine verwandt. Ich weiß: Es ist auch damals so gewesen, als die Gladiatoren einem Mörder unter der Krone Ave Caesar! zuriefen. Aber das Geschlecht, dessen Blutdurst so unstillbar war, hat eben diese mächtigen Quader aufgeschichtet. Und sie lebten vor zwei Jahrtausenden! Dagegen hat eine Generation, die durch Grammophon und Zeitung, Kasino und Bakkarat gekennzeichnet ist, kein Recht auf Blut.
Keiner von den Dichtern dieses Landes hat gegen die Stierkämpfe etwas einzuwenden. Viele verherrlichen sie. Ich kann weder einen Patriotismus noch ein Genie begreifen, welche die Bestialität nicht sehn.
Man hat über die Stierkämpfe viel Wissenschaftliches, Historisches, Dichterisches geschrieben. Jedes Jahr im Mai veranstaltet man in Paris provenzalische Stierkämpfe. Und weshalb wundert sich noch jemand über die Nutzlosigkeit des Völkerbundes und der Schiedsgerichte?
Die Arena von Arles konnte ich zum Glück an einem Tag sehn, an dem man keine Stiere reizt. Es war ein stiller Wochentag. In Arles liegen die Denkmäler außerhalb der bürgerlichen Sphäre. Sie sind im mittelalterlichen und späteren Arles heimisch geworden. In den »Alyscamps« haben sich die ersten Christen verborgen, und die mittelalterlichen Arlesier haben sich da begraben lassen. In der Arena haben sie sich eine Zeitlang gegen Stürme feindlicher Belagerer verteidigt. Aber weder die Lebenden noch die Toten haben den römischen Bauten etwas von ihrer fernen Unberührtheit genommen. Sie stehn eigentlich außerhalb der Stadt: die Arena, die noch größer ist als die von Nîmes, nicht besser erhalten, aber weißer, stolzer, sonnenreicher; die Reste des alten Theaters mit den zwei steinernen, dünnen Säulen vor dem Halbrund, die wie durch einen heiligen Zufall noch stehengeblieben sind, während rings um sie alles versank und Erde wurde; das kleine, runde, ein wenig orientalische Palais Constantin, zu ebener Erde, hart am Straßenrand, wie ein Privathaus, mit drei dichtvergitterten Fenstern, an denen die Eisenstäbe wie ein zartes Gewebe sind; und die »Alyscamps«, von denen nur noch wenig geblieben ist; ein breites Tor, mit weiten, stubengroßen Nischen in den Seitenwänden; Steine, Büsten, Köpfe; und Särge, Särge, Särge.
In Arles sind die Gassen so eng, daß die Wagen, Autos und Lastfuhrwerke aneinander nicht vorbeikönnen und daß immer einer von zwei einander begegnenden Wagen in einer Seitengasse warten muß. Aber es ist keine planlose Enge wie in Tournon, sondern eine vorsorglich berechnete. Es gibt auch einen kleinen, stillen, viereckigen Ringplatz. Der ist ganz grün vom Sonnenlicht, das durch die Bäume gefiltert wird, und vom Moos, das an allen Seiten wächst. Auf diesem Platz steht Mistral, der große provenzalische Dichter, mit Schlapphut, Spazierstock und Bratenrock, mit einem Spitzbart und einer dünnen, zartflügeligen Nase, ein guter Mann und ein Patriot. Er hat hier in Arles das berühmte provenzalische Museum angelegt: mit wenig Gelehrsamkeit und viel dichterischer Lebendigkeit, manchmal nach panoptikalen Grundsätzen und mit einer naiven Freude an einer naiven Wirksamkeit und an kindlichen Lichteffekten. In einem Fenster, hinter bläulich schimmerndem Glas, sieht man eine alte provenzalische Stube, die Menschen aus Wachs, mit historischer und physiognomischer Treue nachgebildet, eine Wiederauferstehung im toten Material. Man sieht Waffen, Wiegen, schlechte und gute Bilder, Briefe, Werkzeuge, Bedarfsgegenstände großer provenzalischer Männer, es ist ein sehr herzliches Haus- und ein Familienalbum für die Provence. Es gibt noch ganz andere Monumente, antike, in den Museen von Arles: die berühmte Nachbildung der berühmten Venus, Köpfe aus frührömischer Zeit, Köpfe aus christlich-römischer Zeit. Die Kunsthistoriker haben große Bände darüber verfaßt.
Ich wundere mich, daß die Arlesier nichts von der antiken Größe ihrer Denkmäler, bei denen sie aufgewachsen sind, aufgenommen haben. Sie sind stille, feine, bescheidene Menschen. Sie sitzen auch in den Gassen, wie die Leute von Avignon, aber sie sprechen mit leisen Stimmen, und nur zweimal in der Woche lassen sie sich im Kino einen Film vorführen. In keiner der kleinen provenzalischen Städte habe ich solche verhaltene, stille Dämmerungen, solche Abende, an denen kein Geräusch die Glocken störte, erlebt. Die Klänge hatten freie Bahn, sie lustwandelten noch lange in der Luft, ehe sie schlafen gingen.
Diese Glocken kamen von der reichen Kirche St. Trophime, die aus dem 12. Jahrhundert stammt. Sie hat ein prächtiges Tor, vor dem ich lange stehn konnte. Es ist immer geschlossen, als wäre es ganz unmöglich, daß dieser unwahrscheinliche Eingang für gewöhnliche Menschen bestimmt wäre. Sieben weiße Stufen führen empor. Da ist ein Giebel, von Köpfen gehalten, darunter ein tiefer Bogen wie aus vielfach gefaltetem Stein, zu beiden Seiten starke Säulen, in der Mitte hohl und von kleinen, schlanken, runden Säulen unterbrochen, hinter denen je vier Heilige stehn. Sie stehen unter steinernen Baldachinen, die Köpfe gesenkt und halb im Schatten, sie laden ein, die Kirche zu betreten, demütig, wie Heilige es tun. Aber durch dieses zweiflügelige, in der Mitte durch eine runde Säule mehr zusammengehaltene als getrennte Tor geht niemand. Es ist geschlossen und vielleicht nur an hohen Feiertagen offen.
Durch den Hof gelangt man in einen der berühmtesten Klostergänge der Welt, eine Galerie aus dem 13. Jahrhundert. Die Galerie umrahmt, viereckig, den viereckigen grünen, überwucherten und bemoosten Hof. Aus Stein, Sonne, Laub und Feuchtigkeit entsteht das merkwürdige Tageslicht, das wir manchmal träumen. Aus vielen breiten, langen Wölbungen besteht die Decke. An den vielen Doppelsäulen, die den Hof vom Gang trennen, lehnen Heilige. Jeder Heilige hat einen Winkel einem Schwalbenpaar geschenkt. Jeder hat ein paar Vögel zu versorgen. Es ist grün, feucht und dennoch heiter. Es ist ein Hof für Greise, die vor dem Tod keine Furcht haben und sich nach dem Himmel sehnen, weil sie in diesem Wandelgang schon eine Ahnung finden von den schattigen, grünen und dennoch lichtgetränkten Wandelgängen des Himmels.
Die ganze Stadt hat etwas von der kühlen, alten Heiterkeit eines Klostergangs und viel von vegetativem Stein und lebendigem Marmor. Wände, Mauern, Denkmäler und Fragmente werden erst nach Jahrhunderten lebendig und mit jedem vergehenden Jahrhundert lebendiger. Alte Mauern werden klangreicher mit jedem Jahr, wie alte Geigen. Arles hat solche lebendigen Steine. Seine alte Größe – es wurde einmal das »gallische Rom« genannt – sieht man ihm nicht mehr an. Ich muß immer daran denken, daß es eine Kolonie von römischen Veteranen war, die Julius Caesar hier angesiedelt hat. Veteranen könnten heute noch in Arles leben. Hier ließen sich die Fürsten des Landes, später die deutschen Kaiser krönen. Von der Pracht einer Krönungsstadt ist wenig geblieben. Arles ist nicht, wie Vienne, mitten in der Blüte erloschen. Es ist langsam erstorben. Es hat viele Erinnerungen bewahrt, aber sie blieben eigentlich fremd in dieser Stadt. Es ist, als hätte ihr die Geschichte hier eine Arena, dort einen Palast, hier eine Kirche und dort ein Museum zur Aufbewahrung, aber nicht als Eigentum übergeben.
Arles ist auch eine weiße Stadt. Aber sie hat das weiße Silber des Alters, nicht die weiße Festlichkeit der ewigen Freude. Sie liegt in der Sonne wie ein Abend, bewachsen vom grünen Moos der Erinnerungen.
Das großartige Fest der Tarasque beschreibt Frédéric Mistral sehr genau. Es wird von den »Chevaliers de la Tarasque« gefeiert. Diesen Orden hat der gute König René am 14. April 1474 gegründet. Seine Statuten lauten:
1. Ehrerbietigste Wahrung der Tarasque-Spiele, die mindestens siebenmal in einem jeden Jahrhundert gefeiert werden müssen.
2. Der große Jubel, die Feste und die Farandolen sollen 50 Tage dauern. Es darf nichts gespart werden, um die Spiele so bunt wie möglich zu gestalten.
3. Die Fremden sind gut aufzunehmen und während der ganzen Dauer der Fest so zu behandeln, daß sie sich wohlbefinden und nichts von ihrer Laune und Freiheit einbüßen.
Die Ritter von der Tarasque marschieren zu den Klängen des provenzalischen Marsches durch die Stadt, trinken, essen dabei eine Tortilade. Am Sonntag vor Himmelfahrt gehn die Ordensritter die alte Statue der Muttergottes aus der Schloßkapelle holen, an der Spitze einer ebenso langen wie festlichen Prozession. Das ganze Volk von Tarascon, Beaucaire, St.-Rémy, Maillane und der anderen Städte und Ortschaften ist anwesend. Die Schiffer von der Rhône erwarten die Muttergottes mit Pfeifen und Tamburins vor der Stadt. Am Himmelfahrtstag, vor Sonnenaufgang, sieht man zum erstenmal die Tarasque. Sie hat einen Löwenkopf und den Panzer einer Schildkröte, den Bauch eines Fisches, und im Innern dieses Ungeheuers sitzen sechs Männer. Am Pfingstfeiertag findet wieder ein großes Mahl statt, das alle Ritter an einer langen Tafel vereinigt. In der Kirche Ste. Marthe befinden sich die Bewohner aller näheren und ferneren Ortschaften. Dort werden das Banner und die Lanze geweiht. Am Pfingstmontag beginnt erst das eigentliche Fest. Nach der feierlichen Messe ein Paradezug des Volkes, die Ritter an der Spitze, durch die Straßen der Stadt. Die Rhône-Fischer marschieren hinter der Fahne des heiligen Peter. Dann kommt die Tarasque. Ihr gegenüber stehen die Ritter in Kampfstellung. Die Tarasque sprüht Feuer aus den Nüstern. Der Kampf beginnt. Sie unterliegt. Und die Ritter marschieren ab, um noch einmal einen tiefen Trunk zu tun.
Dieses sagenhafte Untier, die Tarasque, ist in Tarascon zu Hause. Sie ist in der ganzen Provence sehr populär, oft abgebildet, in vielen Museen aufgestellt und ein dankbares Objekt der Ansichtskartenindustrie. Die Bewohner von Tarascon nennen sie »Großmutter«. Man sieht daraus, wie harmlos sie ist. Sie ist der durch die Sonne des Südens gemilderte, durch den Witz des Südens karikierte Drache der germanischen, slawischen und skandinavischen Welt. Sie wird nur zum Spaß bekämpft und eigentlich geliebt und verehrt. Die mythologischen Ungeheuer täten gut daran, im Norden zu bleiben, wo der Nebel sie isoliert und ihre Schrecklichkeit vergrößert. Wenn sie nach dem Süden kommen, verlieren die Leute die Distanz und den Respekt. Die blutigsten, mörderischsten Tiere werden nicht nur zahm, sondern auch komisch. Und das Heldentum der Menschen ist nicht mehr furchtbar und tragisch, sondern ein weinseliger, grotesker Traum. Aus der Blut- ist eine Alkoholrünstigkeit geworden.
Seitdem ich in Tarascon war und die Geschichte von der Tarasque kenne, wundere ich mich nicht mehr über Tartarin. In dieser Stadt, in der mindestens siebenmal in einem Jahrhundert ein Drache bekämpft wird, der eine Großmutter ist, kommt mindestens einmal in einem Jahrhundert ein Tartarin zur Welt, der gegen die zahmen Löwen zu Felde zieht und der ganz Afrika in ein großes Tarascon verwandelt. Hier lebt das einzige Heldentum, das noch erträglich ist unter allen schauerlichen Heldentümern, die durch ihre Häufigkeit in der letzten Zeit in Mißkredit geraten sind. Tartarin ist die Negierung des Heldentums überhaupt. Lange noch bevor alle Begriffe ihre Inhalte geändert haben, hat Tartarin den Begriff des Helden verwandelt. Jeder Held geht ein bißchen nach Afrika, zahme Löwen jagen. Die Größe dieses Buches beruht nicht darin, daß ein ewiger Typus geschaffen wird, ein »komischer Held«. Sondern daß der Typus »Held« komisch wird.
Tartarin ist die Fortsetzung der Tarasque-Spiele. Die Tarasque-Spiele sind die Folge dieser Sonne, die so strahlend ist, daß sie die Phrase schmelzen läßt, bis ihr wahrer, ihr Kerninhalt zum Vorschein kommt.
Es spricht für die Größe des Buches, daß es der Stadt eine eigene Physiognomie verleiht. Ich sehe immer nur das Tarascon Daudets, das Tarascon Tartarins. Es ist eine helle, kleine, freundliche, gutmütige, ein bißchen kümmerliche, ein bißchen komische Stadt. Ihre angesehenen Bürger träumen heute noch von Löwenjagden. Ihr Bahnhof schon ist außerordentlich, wie eigens für Tarascon erfunden. Der Eingang zur Halle ist im ersten Stock. Wenn man unten vor dem Portal steht, weiß man nicht, ob man schon im Bahnhof angelangt ist. Die Straße, die zur Stadt führt und aus der eigentlich die Stadt besteht, ist breit, behaglich, voll Sonne, aber auch nicht ohne Schatten. Einfache, weiße, einstöckige Häuser stehen friedlich nebeneinander, bescheidenes Bürgertum bergen sie. Hier ist auch schon das Eckhaus, das Daudet Tartarin zuschreibt. Lauter wohlbeleibte und selbstbewußte Männer gehen durch die Straßen, die gelungenen Nachkommen des großen Helden. Auf einigen hundert Ansichtskarten vor allen Papier- und Buchläden sieht man das Bild Tartarins. Das große Schaufenster der einzigen großen Buchhandlung enthält die Werke Daudets in verschiedenen Ausgaben. Wie ist diese Stadt dankbar, daß man sie berühmt gemacht hat! Schon drohte ihr der dunkle Schatten der bedeutungslosen Jahrhunderte, der auf einigen Städten von großer Vergangenheit ruht. Ach, auch Tarascon hat eine Vergangenheit, die älter ist als Tartarin. Es war im Mittelalter die Hauptstadt eines Rhône-Arrondissements. Im Schloß an der Rhône wohnten die noblen und tapferen Herren. Das Schloß ist heute ein Gefängnis. Aber die Kirche Ste. Marthe ist heute noch schön wie ehemals. Sie stammt aus dem Ende des 12. Jahrhunderts, und man baute an ihrer Vervollkommnung noch durch das halbe 14. Jahrhundert. Sie enthält schöne, sanfte Bilder, darunter Szenen aus dem Leben der heiligen Martha von Vien, Pierre Parrocel, C. Vanloo und anderen Malern. In dieser Kirche ruht der Seneschall des guten Königs René, in einem herrlichen Sarg, eine italienische Renaissancearbeit, die man Franz Laurana zuschreibt. Und auch die heilige Martha, die Schutzpatronin der Stadt, deren Leichnam nach der Legende in Tarascon gefunden wurde, ruht in dieser Kirche. Sonst haben die bescheidenen Tarasconer keine Sehenswürdigkeiten. Ganz Tarascon ist eine Sehenswürdigkeit. Es liegt wie ein gelungener, freundlicher, behaglicher Scherz zwischen den erhabenen Kapiteln der Weltgeschichte, ein verlorenes Lächeln zwischen pathosgefüllten Begriffen. Es hat keine Denkmäler. Es hat keine Arena. Es hat nur Tartarin.
Die Brücke ist noch immer da, die Tartarin zu überschreiten fürchtete. Sie führt nach Beaucaire. Das war einmal der größte Jahrmarkt des Orients und des Okzidents. Beaucaire war die lauteste europäische Messestadt, jedes Jahr, zwischen dem 21. und dem 28. Juli. Hierher kamen die Griechen, die Phönizier, die Spanier, die Türken, die Franzosen, die Italiener und die Deutschen. Hier lebten reiche jüdische Kaufleute. Hier flossen die verschiedensten Blutströme zusammen, und hier bildete sich die großartige kosmopolitische Rassenmischung, die den europäischen Süden kennzeichnet.
Ja, Beaucaire war eine große und wichtige Stadt. Sie ist heute düster, verbittert, säuerlich, erfüllt von kleinmütigem Mißtrauen gegen Fremde, das man oft bei heruntergekommenen Händlern findet. Hier wohnen die kleinen Nachkommen großer Kaufleute. Nichts lastet so schwer auf den Menschen wie eine berühmte Ahnenschaft, derer man nicht mehr würdig sein kann. Wäre es eine Stadt der Fürsten, der Dichter, der Denkmäler und der Wissenschaft gewesen – es hätte heute die stolze Trauer verlorenen Adels. Aber es war nur eine Stadt des Geldes. Und es hat heute die kümmerliche Trauer, die ein verlorenes Vermögen ausmacht.
Zurück nach Tarascon, obwohl dort wenig zu sehn ist! Die Schildastädte des Nordens, der Schweiz, der deutschen und slawischen Länder (es gibt viele slawisch-jüdische Schildas) haben außer ihrem literarischen Leben noch ein anderes, nüchternes Geschäftsleben. Aber in diesem südfranzösischen Land kann sich Schilda erlauben, nur Tarascon zu sein und nichts mehr. Hier führt man nicht nur siebenmal im Jahrhundert, sondern siebenmal in der Woche den fröhlichen Krieg gegen den großmütterlichen Drachen.
Tarascon ist ein gesteigertes Schilda. Denn alle Tarasconer haben genug Selbstironie, um zu wissen, daß sie Tarasconer sind. Jeder Tartarin ist sein eigener Daudet. Jeder Händler verkauft die Karikatur Tartarins, dem er wie ein Bruder ähnlich sieht. Wo noch sonst kann diese Behaglichkeit wuchern, friedlich an der Seite der Ironie? Wo noch sonst findet der Mensch das nötige Gleichgewicht, um Objekt und Autor eines und desselben Witzes zu sein? Hier ist die bürgerliche Seele wie eine Schaukel, an deren einem Ende die Lächerlichkeit, an deren anderm der Spott sitzt. Das ist das lustigste Auf und Ab der alten Schalksnarrenseelen, die nirgends mehr zu finden sind.
Welch profunde Sicherheit des gesellschaftlichen Grundes gehört dazu! Wie wenig muß man hier von den Erschütterungen Europas fühlen! Wie selig das Behagen einer Welt, die sich so gelungen vorkommt, daß sie witzig wird vor Sicherheit, statt, wie wir es zu sehen gewohnt sind, platt zu werden!
Es gibt in Tarascon keine großen römischen Denkmäler. Ich glaube aber, daß hier noch der helle, schalkhafte, mit den heidnischen Augen zwinkernde Geist der spätrömischen Humoristen lebt. Nur ist seine Epigrammatik epischer geworden, breiter, gemächlicher. Das kommt von Spanien und Frankreich.
Tartarin ist die lustigste, die andere Seite der ernsten, mit Historie gefüllten Welt. Er ist das private Gesicht des Offiziösen. Er ist der Held in Pantoffeln. Er gibt mir die tröstliche Gewißheit, daß der Mensch auch im Panzer nicht stirbt. Gesegnet sei Tartarin!
Tartarin war in Marseille ratloser als später in Afrika. Zwischen Tarascon und den Ländern der wilden Abenteuer ist der Unterschied nicht erschreckend. Aber Marseille ist eine Welt, in der das Abenteuerliche alltäglich und der Alltag abenteuerlich ist. Hier kann man ratlos sein. Marseille ist das Tor der Welt, Marseille ist die Schwelle der Völker. Marseille ist Orient und Okzident. Von hier schwammen die Kreuzritter ins Heilige Land. Durch diesen Hafen strömen viele Märchen von Tausendundeiner Nacht nach Europa. Hier landeten orientalische Motive, hier warfen sie die Anker aus, hier betraten sie den Boden europäischer Literatur und Kunst. Von hier aus drangen, einige Jahrhunderte vor Christi Geburt, die Forscher Pytheas und Euthymenes bis zum Baltischen Meer, von hier aus entdeckten sie Island. Das ist die Erbin und die alte Feindin Karthagos, die schöne Freundin Roms, die griechische Stadt, das »gallische Athen«. Hier versanken Visigoten, Lombarden, Sarazenen und Normannen, besiegte Eroberer, in lateinisch-griechisch-phönizischer Kultur. Hier wurde die große Revolution mit Jubel begrüßt, hier fand sie ihre zweite Heimat, ihre eigentliche, ihren Text und ihre Melodie. Marseille ist die Heimat von Pierre Puget und Thiers und – Edmond Rostand.
Marseille ist New York und Singapur, Hamburg und Kalkutta, Alexandria und Port Arthur, San Francisco und Odessa. In Marseille erzeugt man Zucker, Stearin, Seife, Chemikalien, Essig, Schnäpse, Keramik, Zement, Farben. In acht Stunden macht der Schneider einen Anzug fertig. In 24 Stunden ist das Gesicht der Straße verändert. In den Straßenecken, in hölzernen Buden hausen die Winkelschreiber. In einer halben Stunde haben sie Testamente und Heiratsurkunden verfaßt und Prozesse erledigt. Vom Reichtum zur Armut ist weniger als ein Schritt. Der Obdachlose schläft auf der Schwelle des Palastes. Die Lebensmittel verkauft man in einem, die Liebe im andern offenen Laden. Das Boot der armen Schiffer schwimmt hart neben dem großen Ozeandampfer. Muscheln liegen neben den Auslagen der Brillantenhändler. Der Flickschuster verkauft korsische Messer. Der Ansichtskartenhändler bietet Schlangengift feil. Den ganzen Tag spielen die Kinos im alten Hafen. Jede Stunde läuft ein Schiff ein. Jede zehnte Welle spült Fremde an Land wie Fische. Der algerische Jude macht im Kaffeehaus Geschäfte mit dem Chinesen. Der »Dollarkönig« amüsiert sich in der Spelunke. Jede zweite Nacht ereignet sich ein Totschlag, ein Mord, ein Überfall, ein Familiendrama. Das Leben tanzt auf der Klinge eines Rasiermessers, das im Hafen als Waffe beliebt ist. Das Elend ist tief wie das Meer, das Laster ist frei wie die Wolke.
Alle Geräusche haben einen und denselben Takt. In allen Geräuschen ist etwas vom Lärm einer Schiffsmaschine. Der Stiefelputzer kündet sich an, indem er mit dem Bürstengriff auf den Deckel seines Utensilienkastens trommelt. Auch das Ende seiner Arbeit begleitet ein Trommeln. Die Straßenbahn und alle Wagen tuten wie Automobile. Jeder macht Geräusch. Jeder schlägt den Takt der Stadt. Jeder übersetzt die Musik der Welle in seine eigene Sprache. Der Kolporteur ruft mahnend seine Zeitung wie eine Kirchenglocke. Und die Glocken der Türme vermengen sich populär mit den profanen Geräuschen von unten.
Greifbar, sichtbar, körperlich und nahe ereignet sich in jeder Stunde die große unaufhörliche Blutmischung der Völker und Rassen. Schon wachsen Palmen, noch rauschen die Kastanien. Nach Norden und Westen führt der Rhônekanal, nach Süden und Osten das Meer. Da pfeift die Lokomotive, da heult die Sirene. Wasser bespült Land, und Land streckt sich vor in Wasser. Die schmälste, dunkelste Gasse mündet in den breiten, leuchtenden Boulevard. Man sieht den riesengroßen Zeiger der historischen Uhr wandern. Die »Entwicklung« und das »Werden« sind keine abstrakten Begriffe mehr. Man sieht den Fuß der Geschichte und zählt ihre Schritte.
Das ist nicht mehr Frankreich. Das ist Europa, Asien, Afrika, Amerika. Das ist weiß, schwarz, rot und gelb. Jeder trägt seine Heimat an der Sohle und führt an seinem Fuß die Heimat nach Marseille. Alle Erden aber segnet dieselbe nahe, sehr heiße, sehr helle Sonne, und über alle Völker wölbt sich dasselbe blaue Porzellan des Himmels. Alle trug das Meer auf seinem breiten, schwankenden Rücken hierher, jeder hatte ein anderes Vaterland, jetzt haben alle ein einziges Vatermeer.
Die Geschichte läßt hier keine steinernen Zeugen stehen. Sie spült sie schnell hinweg. Nur der Atem ihrer Vergangenheit bleibt in ihrem Wehn. Vor einer Woche waren hier Phönizier, vorgestern die Römer, gestern die Germanen, heute die Franzosen. Wie alle Riesenmeilen der Erde auf einigen Quadratkilometern Platz finden, so drängen sich hier die Zeiten zusammen, als gäbe es keinen Platz in den weiten Räumen der Ewigkeit. Wer nicht an Gott glaubt, spürt hier irgendeinen gewaltigen Treiber der Jahrhunderte und ahnt einen tiefen Sinn in der Regellosigkeit der Wanderungen. In einem zweiten ebenso elementaren, ebenso unerklärlichen Wechsel von Ebbe und Flut rauschen die Völker heran und rauschen wieder zurück.
Wie schwarze Fäden gegen den blauen Himmel spannen sich die Taue an den wartenden Segelschiffen. Der neue Hafen ist eine Stadt aus Schiffen. Auf dem Meer schwimmt Öl. Ich sehe vor lauter Mastbäumen nicht das Meer. Es riecht im Hafen nicht nach Salz und Wind, sondern nach Terpentin, Öl schwimmt an der Oberfläche der See. Boote, Barken, Flöße, Fußböden sind so eng nebeneinandergepflastert, daß man trockenen Fußes durch den Hafen spazieren könnte, wäre nicht in Gefahr, in Essig, Öl und Seifenwasser zu ertrinken. Ist hier das unermeßliche Tor zu den unermeßlichen Meeren der Welt? Das ist vielmehr das unermeßliche Magazin für die Bedarfsartikel des europäischen Kontinents. Da sind Fässer, Kisten, Balken, Räder, Hebel, Bottiche, Leitern, Zangen, Hämmer, Säcke, Tücher, Zelte, Wagen, Pferde, Motoren, Autos, Gummischläuche. Da ist der berauschende kosmopolitische Gestank, der entsteht, wenn tausend Hektoliter Terpentin neben tausend Zentnern Heringen lagern; wenn Petroleum, Pfeffer, Tomaten, Essig, Sardinen, Juchten, Guttapercha, Zwiebeln, Salpeter, Spiritus, Säcke, Stiefelsohlen, Leinwand, Königstiger, Hyänen, Ziegen, Angorakatzen, Ochsen und Smyrnateppiche ihre warmen Dünste ausatmen; und wenn schließlich der klebrige, fette und lastende Rauch der Steinkohle alles Tote und Lebende umhüllt, alle Gerüche eint, alle Poren tränkt, die Luft sättigt, die Steine umflort und endlich so stark wird, daß er die Geräusche dämpfen kann, wie er längst schon das Licht gedämpft hat. Ich habe hier die Grenzenlosigkeit des Horizonts erwartet, die blaueste Bläue des Meers und Salz und Sonne. Aber das Meer des Hafens besteht aus Spülwasser mit riesenhaften graugrünen Fettaugen. Ich besteige einen der großen Passagierdampfer und hoffe, hier einen leisen Duft jener Ferne zu erhaschen, die das Schiff durchfahren hat. Aber hier riecht es wie zu Hause vor Ostern: nach Staub und gelüfteten Matratzen; nach Lack für die Türen; nach feuchter Wäsche und Stärke; nach angebrannten Speisen; nach geschlachtetem Schwein; nach gesäubertem Hühnersteig; nach Schmirgelpapier; nach einer gelben Pasta für Messing; nach einem Mittel gegen Ungeziefer; nach Naftalin; nach Bohnerwachs; nach Eingemachtem.
In dieser Stunde stehen mehr als siebenhundert Schiffe im Hafen. Das ist eine Stadt aus Schiffen. Die Bürgersteige bestehen aus Booten, und die Straßenmitten aus Flößen. Die Einwohner dieser Stadt tragen blaue Kittel, braune Gesichter und harte, große schwarzgraue Hände. Sie stehen auf Leitern, streichen die Rümpfe der Schiffe mit frischem braunem Lack an, tragen schwere Eimer, wälzen Fässer, sortieren Säcke, werfen eiserne Haken aus und nageln Kisten, drehn an Kurbeln und ziehn auf eisernen Rollen Waren in die Höhe, polieren, hobeln, säubern und verursachen neuen Mist. Ich möchte zurück in den alten Hafen, wo die romantischen Segelschiffe stehen und die knatternden Motorboote und wo man die frischen, triefenden Muscheln verkauft, das Stück zu dreißig Centimes.
Weiß leuchtet die Stadt, sie ist aus demselben Stein wie das Schloß der Troubadours in Les Beaux und der Palast der Päpste in Avignon. Aber sie ist nicht festlich. Sie ist betriebsam. Millionen zertrümmerter Existenzen birgt sie. In Avignon waren noch die Bettler stolz. Im alten Hafen von Marseille ist die Armut mehr als eine Not. Sie ist eine unausweichliche Hölle. Aufgeschichtet in höllischer Unordnung lagern die menschlichen Wracks aufeinander. Die Krankheit blüht gelb und giftig aus den verstopften Kanälen. Räudige Hunde spielen mit Kindern in den Pfützen. Die Zerlumpten kämpfen mit den Tieren um weggeworfene Knochen, Tausende Frauen und Männer sammeln Zigarettenstummel, der Hund belauert den Menschen, die Katze den Hund, die Ratte die Katze, und alle lauern auf dasselbe Stück faules Fleisch im Misthaufen.
Die Gasse der Liebe hat ihren bürgerlichen Namen abgelegt und trägt keine Schilder. Man kennt und findet sie. Wer von der großen Kathedrale nach dem alten Hafen geht, hört die metallene Musik von fünfzig unaufhörlich spielenden Automaten aus fünfzig kleinen und schmalen Läden. Vor den Läden sitzen die Frauen, die ältesten und dicksten der Welt. Sie verkaufen Leiber den ganzen Tag, die ganze Nacht. Männer, von den Schiffen kommend, durchziehen die Gasse in losen Trupps zu zehn und fünfzehn. Sie verlieren sich unterwegs in den Läden. Dann verstummt ein Automat, ein Vorhang aus Glasperlen fällt vor ein graues, düsteres Kanapee, und in der geraden Reihe der Verkäuferinnen vor den Türen entsteht eine Lücke.
Nichts mehr ereignet sich als Liebe und Musik. Manche Frauen halten ihre Kinder auf dem Schoß. In dieser Gasse wachsen viele Kinder heran, die traurigsten Kinder der traurigsten Mütter. An ihrer Wiege spielt ein Musikautomat. Seit dem Augenblick, in dem sie die Finsternis der Welt erblickten, kennen sie das Lager der billigen Liebe. Die Rätsel der Welt werden ihnen mit der banalen Auflösung zugleich geliefert. Das Leben beschenkt sie verschwenderisch mit Erfahrungen. Die Spielgefährten ihrer ersten Jahre sind kranke Katzen, die Glück bringen, und das Spielzeug der Rinnstein, eine Muschel oder ein Kiesel.
Der Morgen, der Mittag, der Vorabend, der Abend, die Nacht, alle Tageszeiten sind hier gleich. Vom Himmel sieht man nur einen Streifen, von der Sonne nichts. Auch diese Liebe ist zeitlos. Auch ihre Trägerinnen haben kein Alter. Vor vierzig Jahren waren sie schon alt und häßlich. Vierzig Jahre noch könnten sie jung und schön sein. Vor vierzig Jahren rasselte der Automat schon dieselben Melodien. Vierzig Jahre noch treibt er göttliche Musik für die Ohren betäubter Menschen. Vor vierzig Jahren schon trieb er Lauscher in die Flucht. Und noch vierzig Jahre wird er Hörer anlocken. Was ist alt, was ist jung, was häßlich, was schön, was ein Lärm und was Musik? – Wenn der Tag aus lauter Liebesnächten besteht und ein Moment eine Liebesnacht ist? Wenn die Ware aus einer Verkäuferin besteht, die Liebe einen Groschen wert ist und ein Groschen die Liebe enthält? Wenn die Nacht ein betriebsamer Tag ist und der Schlaf ein Geschäft?
*
In dieser Gasse gelten nicht die Gesetze der Welt. Mit stieren Atropinaugen, die Brauen bis zu den Schläfen gemalt, mit falschem Haar, das niemals grau wird, mit einem geschminkten Alter, das von der ewigen Jugend nur die Stupidität besitzt, starren die Frauen, alle wie Zwillingsschwestern und also ohne Konkurrenzneid, immer auf denselben Rinnstein, dieselbe Katze, dasselbe Pflaster – und denselben Mann, den der Zufall in zehntausend Exemplaren durch die Gasse treibt. Wenn eine ihre Arme ausbreitet, verstummt der Automat, denn durch einen Mechanismus voller Kunst ist die Maschine mit der Maschine verbunden.
Hier löst sich alles scheinbar Bleibende auf. Hier schließt es sich zusammen. Hier ist fortwährender Aufbau und Zerstörung. Keine Zeit, keine Macht, kein Glaube, kein Begriff ist hier ewig. Was nenn' ich Fremde? Die Fremde ist nah. Was nenn' ich Nähe? Die Welle trägt es fort. Was ist das Jetzt? Schon ist es vergangen. Was ist das Tote? Schon schwimmt es wieder heran.
Während ich dies schreibe, sieht Marseille schon anders aus. Und was ich in tausend Worten berichte, ist ein kleiner Tropfen aus dem Meer des Geschehens, mit dem freien Aug' nicht zu sehn, zitternd auf der dünnen Spitze meiner Feder.
Das, was ich in einer Stadt zu beobachten liebe, sind ihre Menschen.
Stendhal
Zuerst wohnten hier Ligurier. Rot war ihre Lieblingsfarbe. Die rote Farbe blieb, als die Phönizier kamen, die Griechen, die Langobarden, die Sarazenen und die Visigoten. Rot ist die Freude. Man hat niemals in diesem Land aufgehört, sich zu freuen. Alle geschichtlichen Schrecken wurden gemildert. Die Barbaren blieben nicht lange Barbaren, als sie einfielen. Wer in dieses Land mit dem Willen kam, es zu erobern, wurde erobert. Die Völker sanken linde in den Boden ein wie eine Saat. Immer wieder kam eine Zeit der Ernte. Immer wieder erntete man Freude.
Ehe ich zu den weißen Städten fuhr, sah ich an einem Abend in Paris die provenzalischen Festspiele, die jedes Jahr im Sommer die alte Volkskultur des Südens den Heimischen und den Fremden beweisen sollen. Die Hirten der Provence kamen mit ihren Frauen, zogen im Kreis um die Arena, die Pfeifer und Trommler an der Spitze. Es war eine sehr einfache, sehr helle, sehr heitere Marschmelodie. Sie hatte sanfte Töne, die an Mondlicht erinnerten, aber einen schnellen Rhythmus, der ein Ausdruck jener Art von Eile war, die nichts mit Geschäftigkeit zu tun hat. Es war die Eile, die Kinder erfüllt, wenn sie zu einem Fest gehn. Dazwischen schlugen die kleinen Trommeln, die zarten, die nicht mit Kalbsfellen, sondern mit dünnen Silberhäuten bespannt zu sein schienen. Die Menschen marschierten mit kurzen, leichten, beinahe weiblichen Schritten. Es waren dennoch männliche Erscheinungen. Es war eine gesunde Rasse. Die Männer in Hirtenkostümen, mit weißen Hosen, bunten Westen, schwarzen, bunten Röcken und schwarzen Hüten, bunte Bänder um den Leib. Die Frauen in weiten Kleidern, ein kleines weißes Spitzenkrönchen auf den hohen Frisuren, bunte Mieder, hohe Schuhe. Es war eine echte Landbevölkerung. Es war echtes Bauernblut. Es waren Menschen, die zu Hause harte Arbeit verrichteten. Aber sie hatten die Bewegungen, die das Erbteil einer langen, reichen, wohlgebildeten Ahnenreihe sind. Die Frauen warteten, rote Rosensträuße in den Händen, auf die Männer. Einer nach dem andern sprengte heran und nahm von seiner Dame einen Strauß entgegen, den er vor den Angriffen aller seiner Genossen zu verteidigen hatte. Zwölf Ritter umringten ihn, er entfloh ihnen immer, in der erhobenen Hand jubelte sein Strauß. Er hielt ihn fest, er brachte ihn bis zur geschützten Stelle. Er sprengte noch einmal zu seiner Dame, schwenkte den Hut, ritt zurück. Der nächste kam. Zwölfmal wiederholte sich das Spiel.
Es scheint, daß das Galante eine gesunde Reaktion gegen das gleichzeitig Rohe ist und daß die Troubadours ihre Existenz den Raubrittern zu verdanken haben. Der ritterliche Kampf um einen Blumenstrauß ist ebenso entzückend, wie ein Stierkampf abstoßend ist. Dennoch mußte ich diesen in Kauf nehmen, um jenen zu sehn.
Die Ritterlichkeit ist in der Provence zum Glück häufiger als die Stierkämpfe. Alle Menschen leben wohlgeordnet, die Sitte ist alt, begründet und ohne Widerspruch und mit Freude ertragen. Man hat Ruhe genug, ritterlich zu sein. Jeden Tag guterhaltene Monumente aus einer sagenhaft weiten Zeit zu sehn, gibt ein ganz merkwürdiges Gefühl von Sicherheit. Man glaubt nicht an Änderungen und Wechsel. In Wirklichkeit vollziehen sich Wechsel und Änderungen sehr linde. Hierher kommen keine Stürme. Natur und Geschichte arbeiten nicht mit Überraschungen. Jeder hat sein Leben gesichert. Alle Bauern sind Großgrundbesitzer. Um jeden Besitz erhebt sich eine Mauer. Zwar sind alle Tore offen. Man kann in einen fremden Garten gehn und schlafen. Niemand stiehlt, niemand verwehrt, niemand verwahrt. Jeder baut Mauern, nicht um sich abzusperren, aber um die Größe seines Eigentum zu kennzeichnen. Seine Mauer symbolisiert seine Macht. Aber Mauern sind herzlose Gegenstände. Auch der schöne weiße Stein verhärtet das Herz. Wer hinter den Mauern sitzt, sieht den hungernden Bettler auf der Landstraße nicht. Und ehe man ein offenes Tor erreicht, ist man am Rande der Mauer vor Hunger gestorben.
Es gibt wenig Elend in diesem Land und infolgedessen mehr freundliche Gesichter als offene Herzen. Alles ist ererbt, das Haus, der Schmuck und die Sitte. Kinder wachsen auf, die niemals gesehn haben, wie Hunger weh tut. Sie werden es niemals sehn. Jeder hat sein Boot. Es ist nicht schwarz, sondern schneeweiß. Man kennt die Kartoffel zu wenig, welche das Manna der Armen ist. Alles ist billig. Aber wer hier das Geld nicht besitzt, das einen so geringen und so hohen Wert hat, kann auf Brot nicht rechnen. Die heiteren Menschen lieben die Heiterkeit. Und die Trauer ist ihnen so fremd, daß die Not ihnen verdächtig erscheinen muß. Die Menschen sind gut. Aber die Güte ruht tief und unverbraucht in ihnen, wie Wasser in einem vergessenen Brunnen. Niemand schöpft aus ihnen. Die Natur richtet kein Unheil an. Durch plötzliche Schläge ist niemand um sein tägliches Brot beraubt. Der Nachbar ist ein Freund. Aber er wird niemals ein Bruder. Alle Hunde und Katzen finden Nahrung an fremden Tischen. Man tötet überzählige Tiere nicht. Aber es gibt viel herrenlosen Hunde und Katzen. Jedermann jagt und fischt. Man schießt auf Singvögel. Man rodet Wälder. Es gibt keine Wälder und fast keinen Vogelgesang. Die Sonne zündet die Wälder an. Die Menschen trauern zu wenig um sie. Gute Geister wohnen in den Felsen. Aber das Volk glaubt kaum noch an sie. Seinen alten Sitten ist es treu. Es trägt die alten Trachten und spricht die schöne, alte, melodische provenzalische Sprache. Jeder liebt sein Land. Aber es fällt niemandem schwer, dieses Land zu lieben. Es fällt überhaupt nicht schwer, hier zu lieben. Man pflückt die Liebe am Wegrand. Sie wächst reich wie die kostbarsten Früchte. Voll Kraft und Saft ist die Erde. Jeden nährt der Strauch. Man kann unter freiem Himmel schlafen. Aber vielleicht sehnt sich mancher nach einem Dach? Jeder hat Sonne. Aber vielleicht weint einer um den Schatten?
Weißer Stein, weißer Stein, weißer Stein! Oliven zwischen weißem Stein. Aber einer möchte Brot. Seht! das Brot ist hinter hohen Mauern! Kirchen, Kirchen, Kirchen! Reiche Portale, reiche Gemälde, goldene Altäre. Jeder betet ums tägliche Brot und weiß nicht, was sein Fehlen bedeutet. Jeder hat seinen Sitz mit Namen und Datum. Sein Verhältnis zu Gott ist verbürgerlicht. Sein Glauben wurde selten auf die Probe gestellt. Seine Sünden? Er hat keine Sünden, der hinter der Mauer starb. Denn wer kann durch diese Mauern sehn? Ist es eine Sünde, sein Eigentum zu umgrenzen? Ist es eine Sünde, nicht durch Mauern zu sehn?
Aber wie liebt man die Hilflosen, die Kinder und die Schwachen! Kein Schrei, kein Schlag, kein Weinen. Kein harter Vater. Katzen in jedem Haus. Weiche, leise Tiere mit großen, klugen und ewig zielenden Augen. Gute Winkel, warme Winkel, stille Winkel. Hohe Fenster, tiefe Brüstungen, Sonne, Sonne, Sonne. Alte Paläste, warm im linden Winter, kühl im heißen Sommer. Steinerne Fußböden, ohne Fäulnis, leicht zu säubern. Aber wenig Kanäle, Schmalheit und Enge, Drang der Armen in die Gasse. Mächtige Arena, heilige Tempel, Museen voll steinerner Andenken, Tradition, Treue. Aber langsam ist der Blick in die Zukunft. Wie heiter ist das Leben! Aber wie leicht ist die Heiterkeit! Wie weit ist der Tod, obwohl überall Gräber sind, obwohl man täglich überall Menschenknochen findet und Monumente bloßlegt.
Weites Land ist noch zu vergeben. Es fehlt an Volk. Der Boden ist hungrig nach neuer Saat. Er hat soviel Verschiedenes verschlungen, soviel Verschiedenes geboren, und heute sind alle gleich. Er hat sie gleichgemacht. Man wird Fremde kommen lassen. Auf meinem Weg, der nach Norden führt, in den Herbst, in den Nebel, in die Wälder, sehe ich sie wandern. Sie kommen ohne Schwerter. Aber selbst wenn sie Waffen hätten, werden sie alles Tödliche ablegen. Hier ist das Leben stärker. Hier ist man nicht leicht bereit, sein Blut zu vergießen. Hier findet man eine Kindheit, seine eigene und die Kindheit Europas. Nirgends wird man so leicht heimisch. Und selbst wer das Land verläßt, nimmt das Beste mit, das eine Heimat mitgeben kann: das Heimweh.