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§ 1. Wie diese Idee erworben wird. – Da der Geist alltäglich durch die Sinne von der Veränderung der einfachen Ideen Kenntnis erhält, die er an äußeren Dingen beobachtet, und bemerkt, wie die eine zu Ende kommt und aufhört da zu sein, während eine andere, die früher nicht vorhanden war, zu existieren anfängt; und da er auch auf das in ihm selbst Vorgehende reflektiert, und einen beständigen Wechsel seiner Ideen beobachtet, zuweilen infolge des Eindrucks äußerer Objekte auf die Sinne und zuweilen nach seiner eigenen Wahlentscheidung; da er ferner aus dem, dessen Geschehen er so beständig bemerkt hat, den Schluß zieht, daß gleiche Veränderungen in Zukunft in denselben Dingen durch gleiche wirksame Mittel und auf dieselbe Weise entstehen werden: so erblickt er in einem Dinge die Möglichkeit dafür, daß dessen einfache Ideen eine Veränderung erleiden, und in einem anderen die Möglichkeit diese Veränderung zu bewirken, und gelangt so zu der Idee, die wir Kraft nennen. So sagen wir, das Feuer hat die Kraft Gold zu schmelzen, d. ,h. den festen Zusammenhang seiner unsichtbaren Teilchen und folglich seine Härte zu zerstören und es flüssig zu machen, und Gold hat die Kraft geschmolzen zu werden; die Sonne hat die Kraft Wachs zu bleichen, und das Wachs die Kraft von der Sonne gebleicht zu werden, wodurch die gelbe Farbe zerstört und die weiße an deren Stelle gesetzt wird. In diesen und ähnlichen Fällen steht das, was wir als Kraft betrachten, in Beziehung zu der Veränderung wahrnehmbarer Ideen, denn wir können eine Veränderung oder Einwirkung, die in oder aus irgend etwas erfolgen soll, nur durch die bemerkbare Veränderung seiner sinnlich wahrnehmbaren Ideen erkennen, und uns keine damit vor sich gehende Veränderung anders denken, als indem wir uns einen Wechsel einiger von seinen Ideen vorstellen.
§ 2. Aktive und passive Kraft. – So angesehen ist die Kraft zwiefach, nämlich eine Veränderung entweder zu bewirken oder zu erleiden; die eine mag man aktive die andere passive Kraft nennen. Ob die Materie nicht der aktiven Kraft ganz entbehrt, wie ihr Schöpfer, Gott, in Wahrheit über alle passive Kraft erhaben ist, und ob nicht allein der mittlere Zustand der erschaffenen Geister beider, sowohl der aktiven wie der passiven Kraft fähig ist, das möchte wohl der Erwägung wert sein. Hier werde ich auf diese Untersuchung nicht eingehen, da meine gegenwärtige Aufgabe nicht darin besteht, dem Ursprung der Kraft nachzuforschen, sondern dem Wege, worauf wir zu der Idee derselben gelangen. Weil aber aktive Kräfte (wie wir später sehen werden) in unseren zusammengesetzten Ideen natürlicher Substanzen einen so großen Teil ausmachen, und ich der gewöhnlichen Auffassung gemäß ihrer als solcher gedenke, obwohl sie vielleicht nicht so thatsächlich aktive Kräfte sind, wie unsere eilfertigen Gedanken sie darzustellen pflegen, so halte ich es nicht für überflüssig, durch diese Andeutung unseren Verstand auf die Betrachtung Gottes und der Geister hinzulenken, um die klarste Idee von aktiven Kräften zu gewinnen.
§ 3. Der Begriff Kraft enthält eine Beziehung. – Ich räume ein, daß in dem Begriffe der Kraft eine Art von Beziehung enthalten ist (eine Beziehung auf Wirksamkeit oder Veränderung ), aber freilich für welche unserer Ideen irgend einer Art gilt nicht dasselbe, wenn sie aufmerksam untersucht wird? Denn enthalten nicht unsere Ideen von Ausdehnung, Dauer und Zahl sämtlich in sich eine versteckte Beziehung ihrer Teile (aufeinander)? Gestalt und Bewegung enthalten noch weit ersichtlicher etwas Relatives, und was sind die sinnlichen Eigenschaften, wie Farben und Gerüche etc., anders als die Kräfte verschiedener Körper mit Beziehung auf unsere Wahrnehmung etc.? Und wenn wir sie an den Dingen selbst betrachten, hängen sie dann nicht ab von der Größe, Figur, Textur und Bewegung der Teile dieser? Alles das schließt eine Art von Beziehung in sich. Deshalb meine ich, daß unsere Idee von Kraft sehr wohl einen Platz unter den übrigen einfachen Ideen einnehmen, und als eine von ihnen betrachtet werden kann, da sie eine von denen ist, die in unseren zusammengesetzten Ideen von Substanzen, wie wir hernach zu bemerken Gelegenheit finden werden, einen Hauptbestandteil ausmachen.
§ 4. Die klarste Idee von aktiver Kraft erhalten wir vom Geiste. – Die Idee der passiven Kraft wird uns überreichlich von fast allen Arten der sinnlichen Dinge geliefert. Bei den meisten von ihnen kann uns die Wahrnehmung nicht entgehen, daß ihre sinnlichen Eigenschaften, ja sogar auch ihre Substanzen, sich in einem fortdauernden Flusse befinden, weshalb wir Grund haben, sie als beständig demselben Wechsel unterworfen anzusehen. Auch erhalten wir nicht weniger Beispiele der aktiven Kraft (was die eigentlichere Bedeutung des Wortes Kraft ist); denn, sobald irgend welche Veränderung bemerkt wird, schließt der Geist ebenso notwendig auf eine irgendwo vorhandene Kraft, die jene Veränderung bewirken kann, wie auf die in dem Dinge selbst liegende Möglichkeit, sie zu erleiden. Gleichwohl verschaffen uns, wenn wir genau zusehen, die Körper durch unsere Sinne nicht eine so klare und bestimmte Idee der aktiven Kraft, wie wir aus der Reflexion auf die Thätigkeiten unseres Geistes erhalten. Denn da alle Kraft sich auf eine Wirksamkeit bezieht und es nur zwei Arten der Wirksamkeit giebt, wovon wir eine Idee haben, nämlich Denken und Bewegung, so laßt uns erwägen, von woher wir die klarste Idee der Kraft erhalten, die sich in der einen oder der anderen dieser Wirksamkeiten äußert. 1. Vom Denken geben uns die Körper überhaupt keine Idee, wir gewinnen diese nur durch Selbstbeobachtung. 2. Ebensowenig erhalten wir durch die Körper irgend welche Idee von dem Anfang einer Bewegung. Ein ruhender Körper gewährt uns keine Idee von irgend einer aktiven Kraft, sich zu bewegen, und wenn er selbst in Bewegung gesetzt wird, so ist diese Bewegung für ihn eher ein Leiden als eine Thätigkeit. Denn, wenn der Ball der Bewegung des Billardstockes gehorcht, so liegt darin keine Thätigkeit des Balles, sondern reine Passivität; auch teilt er, wenn er durch seinen Stoß einen anderen in seinem Wege liegenden Ball in Bewegung setzt, die von anders woher empfangene Bewegung nur mit, und verliert davon selbst so viel, wie der andere Ball empfing: was uns von einer in den Körpern enthaltenen aktiven Kraft der Bewegung nur eine sehr dunkle Idee giebt, weil wir nur sehen, daß sie Bewegung übertragen, nicht aber, daß sie solche hervorbringen. Denn das ist nur eine sehr dunkle Idee von Kraft, die nicht bis zur Hervorbringung der Thätigkeit reicht, sondern nur bis zur Fortdauer der Passivität. Denn hierauf beschränkt sich die Bewegung eines von einem anderen angetriebenen Körpers; die Fortsetzung des in ihm entstandenen Wechsels von Ruhe und Bewegung ist kaum mehr eine Thätigkeit als die Fortdauer der Veränderung, die seine Gestalt durch denselben Stoß erlitten hat, eine solche ist. Die Idee des Anfangs einer Bewegung gewinnen wir nur durch einen Rückblick auf das, was in uns selbst vorgeht, wo wir erfahrungsmäßig finden, daß bloß, indem wir es wollen, bloß durch einen Gedanken des Geistes, Der Gedanke: »ich will«, ist nicht die Kraft, wodurch die Glieder unseres Leibes in Bewegung, oder die Nervenzellen unseres großen Gehirns in Thätigkeit gesetzt werden; er ist vielmehr nur der Abschluß einer Deliberation über die Motive und den Bestand einer möglichen Handlung. Die That braucht nicht unmittelbar darauf zu folgen, und folgt nicht notwendig darauf, vielmehr kann der Entschluß: »ich will«, bis sie wirklich erfolgt, jederzeit widerrufen werden. In den zahlreichen Fällen des alltäglichen Lebens, in denen eine merkliche Deliberation der Handlung nicht voraufgeht, tritt neben der Vorstellung des Zweckes und des Thatbestandes der Handlung der Gedanke: »ich will«, auch oft gar nicht ausdrücklich und besonders ins Bewußtsein. Daß wir effektiv wollen, erfahren auch wir selbst unter allen Umständen immer erst durch die eigene Handlung. Unser Wille ist und bleibt für uns ebensogut ein metaphysisches X, was wir nicht direkt und unmittelbar, sondern nur aus seinen voraufgehenden Bedingungen und seinen nachfolgenden Wirkungen erkennen können, wie jede andere Naturkraft. Wenn der Stengel bricht, womit der Apfel am Baumzweige hing, so fällt der Apfel zur Erde; der Bruch des Stengels war die Ursache des Falles, aber nicht dessen treibende Kraft, das war vielmehr die Schwere des Apfels (und der Erde); was aber die Schwere außer der Gesetzlichkeit des Kausalzusammenhanges der Erscheinungen, worin sie sich äußert, an und für sich ist, das weiß niemand und wird niemals jemand wissen. Gerade wie sich der Bruch des Stengels, der Fall des Apfels und dessen Schwere zu einander verhalten, ebenso verhalten sich auf dem Gebiete des willkürlich verlaufenden Teiles unseres Lebensprozesses das Motiv einer Handlung, die That und der effektive Wille zu einander, und auch hier können wir den letzteren nur als empirischen Charakter eines Menschen kennen lernen, d. ,h. als eine gewisse Gesetzlichkeit, womit bei ihm das Handeln von den sich darbietenden Motiven abhängt. wir die Glieder unseres Körpers, die sich vorher in Ruhe befanden, bewegen können. Somit scheint mir, daß wir durch unsere Sinne aus der Beobachtung der Wirksamkeit der Körper nur eine sehr unvollkommene und dunkle Idee von einer aktiven Kraft erhalten, weil sie uns gar keine Idee von einer in ihnen selbst liegenden Macht zum Beginn einer Thätigkeit, sei es Bewegung oder Denken, gewähren. Wenn jedoch jemand meint, daß er aus dem Antrieb, den zufolge unserer Wahrnehmung die Körper aufeinander ausüben eine klare Idee von Kraft gewinne, so dient das meinem Zwecke ebensogut, da die Sinneswahrnehmung einer der Wege ist, wodurch der Geist zu seinen Ideen gelangt; ich hielt es nur für der Mühe wert, hier beiläufig die Frage zu berühren, ob der Geist seine Idee von aktiver Kraft nicht klarer aus der Beobachtung seiner eigenen Thätigkeit erhält, als aus irgend welcher äußeren Sinneswahrnehmung.
§ 5. Wille und Verstand sind zwei verschiedene Kräfte. – So viel wenigstens, denke ich, liegt klar zu Tage, daß wir in uns selbst die Kraft entdecken, mancherlei Thätigkeiten unseres Geistes und Bewegungen unseres Leibes zu beginnen oder zu unterlassen, fortzusetzen oder zu beendigen, bloß durch einen Gedanken oder eine Bevorzugung von seiten des Geistes, der die Ausführung oder Nichtausführung dieser oder jener besonderen Handlung anordnet oder, sozusagen, befiehlt. Diese Kraft des Geistes, in jedem einzelnen Falle so die Betrachtung irgend einer Idee oder die Unterlassung ihrer Betrachtung anzuordnen, oder die Bewegung irgend eines Gliedes am Leibe seiner Ruhe vorzuziehen und vice versa, nennen wir den Willen. Die wirkliche Äußerung dieser Kraft in der Direktion einer besonderen Handlung oder ihrer Unterlassung nennen wir Willensthätigkeit oder Wollen. Die der Anordnung oder dem Befehle des Geistes entsprechende Vollziehung oder Unterlassung Statt forbearance lies exercise or forbearance. jener Handlung heißt willkürlich, und jede ohne einen solchen Gedanken des Geistes ausgeführte Handlung heißt unwillkürlich. Die Kraft, zu erkennen, nennen wir den Verstand. Die Erkenntnis, die wir als Thätigkeit des Verstandes betrachten, ist dreierlei Art: 1) die Erkenntnis von Ideen in unserem Bewußtsein; 2) die Erkenntnis der Bedeutung von Zeichen; 3) die Erkenntnis des Zusammenhangs oder des Widerstreits, der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, die zwischen irgend welchen von unseren Ideen bestehen. Alle diese gehören dem Verstande oder Erkenntnisvermögen an, obgleich der Sprachgebrauch nur von den beiden letzteren zu sagen gestattet, daß wir etwas verstehen.
§ 6. Vermögen. – Diese Kräfte des Geistes, nämlich zu erkennen und vorzuziehen, nennt man gewöhnlich anders, indem die übliche Redeweise dahin geht, daß der Verstand und der Wille zwei Geistesvermögen seien; ein ganz passendes Wort, wenn es, wie mit allen Wörtern geschehen sollte, so gebraucht wird, daß es in den Gedanken der Menschen keine Verwirrung anrichtet, indem es (wie, fürchte ich, geschehen ist) so verstanden wird, als ob damit gewisse reale Wesen in der Seele bezeichnet seien, von denen die Thätigkeiten des Erkennens und Wollens verrichtet würden. Denn wenn wir sagen, der Wille sei das herrschende und höhere Vermögen der Seele, er sei frei oder nicht frei, er bestimme die niederen Vermögen, er folge den Vorschriften des Verstandes etc.; so mögen diese und ähnliche Ausdrücke von solchen, die auf ihre eigenen Ideen sorgfältig achtgeben, und mit ihren Gedanken mehr dem Augenschein der Dinge als dem Klange der Worte folgen, wohl in einem klaren und deutlichen Sinne verstanden werden; aber ich fürchte, wie gesagt, daß diese Weise, von Vermögen zu reden, viele zu der verworrenen Vorstellung so vieler unterschiedenen thätigen Subjekte in uns verleitet hat, die ihre besonderen Gebiete und Behörden hätten, und als ebensoviele verschiedene Wesen Befehle erteilten, gehorchten und mancherlei Thaten ausführten; und das hat in den auf sie bezüglichen Fragen in nicht geringem Maße zu Wortstreit, Dunkelheit und Unsicherheit Anlaß gegeben.
§ 7. Woher die Ideen von Freiheit und Notwendigkeit kommen. – Jedermann findet, wie ich meine, in sich selbst die Kraft, mancherlei Handlungen in sich anzufangen oder zu unterlassen, fortzusetzen oder zu beendigen. Aus der Betrachtung des Umfanges dieser Macht des Geistes über die Handlungen des Menschen, die jeder in sich selbst entdeckt, entstehen die Ideen von Freiheit und Notwendigkeit.
§ 8. Was Freiheit heißt. – Da alle Handlungen, wovon wir eine Idee haben, sich, wie gesagt, auf die beiden Klassen des Denkens und der Bewegung reducieren, so ist einer so weit frei, wie er die Kraft hat, dem Vorzug oder der Anleitung seines eigenen Geistes gemäß zu denken oder nicht zu denken, sich zu bewegen oder nicht zu bewegen. Überall, wo ein Vollbringen oder Unterlassen nicht gleichermaßen in jemandes Gewalt stehen, wo das Thun oder Nichtthun nicht gleichermaßen der Direktion seines Geistes folgt, wenn dieser ihm den Vorzug giebt, da ist er nicht frei, obgleich die Handlung vielleicht eine willkürliche sein mag. So daß die Idee der Freiheit die Idee der Macht ist, die ein handelndes Wesen hat, irgend eine besondere That zu vollbringen oder zu unterlassen, gemäß der Bestimmung oder des Gedankens seines Geistes, wodurch eines von beiden dem anderen vorgezogen wird; wo das handelnde Wesen die Macht nicht hat, das eine von beiden seinem Belieben gemäß zustande zu bringen, da fehlt ihm die Freiheit, ein solches Wesen unterliegt der Notwendigkeit. Somit kann es keine Freiheit geben, wo kein Gedanke, kein Belieben, kein Wille da sind, aber Gedanke, Wille und Belieben können vorhanden sein, wo die Freiheit fehlt. Eine etwas genauere Betrachtung des einen oder des anderen naheliegenden Beispiels wird dies klar machen.
§ 9. Sie setzt Verstand und Willen voraus. – Ein Federball, mag er sich nun von dem Schlägel getroffen bewegen, oder ruhig still liegen, wird von niemandem für ein frei handelndes Wesen angesehen werden. Wenn wir nach dem Grunde dafür fragen, so finden wir diesen darin, daß wir von dem Federball annehmen, er denke nicht, und kenne folgeweise auch kein Wollen, gebe weder der Bewegung den Vorzug vor der Ruhe noch vice versa; deshalb hat er keine Freiheit, ist kein frei handelndes Wesen, vielmehr fallen beide, seine Bewegung wie seine Ruhe unter unsere Idee des Notwendigen und werden so genannt. Ebenso hat ein Mann, der ins Wasser fällt, weil eine Brücke unter ihm bricht, hiebei keine Freiheit, ist kein frei handelndes Wesen. Denn, obgleich er wollen kann, und das Nichtfallen dem Fallen vorzieht, so folgt doch, weil das Unterlassen dieser Bewegung nicht in seiner Macht steht, das Anhalten oder Aufhören derselben nicht auf sein Wollen, und er ist deshalb hierin nicht frei. So auch denkt, wenn jemand infolge einer krampfhaften Bewegung seines Armes, die er durch Wollen oder Direktion seines Geistes nicht aufzuhalten oder zu unterlassen vermag, sich selbst oder seinen Freund schlägt, niemand, daß er sich dabei in Freiheit befunden habe; jeder bemitleidet ihn, weil er aus Notwendigkeit und Zwang so gehandelt hat.
§ 10. Sie betrifft nicht das Wollen. – Angenommen ferner, es werde jemand, während er fest schliefe, in ein Zimmer gebracht, woselbst sich eine Person befände, die er gerne sehen und sprechen möchte, und werde dort fest eingeschlossen, so daß er nicht hinaus gelangen könnte; er wacht dann auf, und ist froh sich in so gewünschter Gesellschaft zu finden, worin er aus eignem Antrieb verbleibt, d. h. er zieht sein Bleiben dem Fortgehen vor: nun frage ich, ist dieses Verbleiben nicht sein Wille? Ich denke das wird niemand bezweifeln, und doch ist es, da er fest eingeschlossen ist, augenscheinlich, daß er nicht die Freiheit hat, dort nicht zu bleiben, daß es ihm nicht freisteht, davon zu gehen. Also ist Freiheit keine Idee, die das Wollen oder das Vorziehen betrifft, sondern die Person, die die Macht hat, etwas zu thun oder zu unterlassen, je nachdem der Geist wählen oder Anleitung geben wird. Unsere Idee der Freiheit reicht so weit wie diese Macht und nicht weiter. Denn überall, wo ein Hindernis eintritt und jener Macht Schranken setzt, oder wo Zwang die Gleichheit der beiderseitigen Fähigkeit, zu handeln oder das Handeln zu unterlassen aufhebt, da verschwindet sofort die Freiheit und unsere Vorstellung derselben.
§ 11. Der Gegensatz von willkürlich ist unwillkürlich, nicht notwendig. – Davon haben wir in unserm eignen Leibe Beispiele genug und oft mehr als genug. Das Herz des Menschen schlägt und sein Blut cirkuliert, ohne daß er imstande wäre, sie durch irgend einen Gedanken oder ein Wollen aufzuhalten, deshalb ist er mit Bezug auf diese Bewegungen, wobei die Ruhe nicht von seiner Wahl abhängt und, wenn er sie vorziehen sollte, der Entscheidung seines Geistes nicht folgen würde, kein frei handelndes Wesen. Konvulsivische Bewegungen setzen seine Beine in Gang, so daß er, wenn er es auch noch so ernstlich will, ihre Bewegung durch keine Kraft seines Geistes hemmen kann (wie bei jener seltsamen Krankheit, die man chorea sancti Viti nennt), sondern beständig tanzt; bei dieser Thätigkeit ist er nicht frei, sondern unterliegt der Bewegung mit ebensoviel Notwendigkeit, wie ein fallender Stein oder ein von dem Schlägel getroffener Federball. Andererseits hindern ein Schlagfluß oder der Fußblock seine Beine daran, der Bestimmung seines Geistes zu gehorchen, wenn dieser seinen Körper damit an einen anderen Ort versetzen wollte. In allen diesen Fällen fehlt die Freiheit, obgleich das Stillsitzen selbst eines Lahmen, so lange er es einer Entfernung vorzieht, in Wahrheit willkürlich ist. Willkürlich ist also nicht der Gegensatz von notwendig, sondern von unwillkürlich. Denn man kann das, was man zu thun vermag, dem, was man nicht vermag, den Zustand, worin man sich befindet, seiner Abwesenheit oder Veränderung auch dann vorziehen, wenn die Notwendigkeit ihn an und für sich unveränderlich gemacht hat.
§ 12. Was Freiheit heißt. – Wie mit den Bewegungen des Körpers so verhält es sich auch mit den Gedanken unseres Geistes; soweit sie der Art sind, daß wir sie dem Vorzug des Geistes gemäß auffassen oder beiseite legen können, ebenso weit sind wir frei. Da ein Wachender sich in der Notwendigkeit befindet, beständig irgend welche Ideen in seinem Bewußtsein zu haben, so steht es ihm nicht frei, zu denken oder nicht zu denken, ebenso wenig wie es in seinem Belieben steht, ob sein Körper einen andern berühren soll oder nicht; ob er aber seine Betrachtung von einer Idee ab-, und einer andern zuwenden will, steht häufig in seiner Wahl, und dann hat er hinsichtlich seiner Ideen ebensoviel Freiheit, wie hinsichtlich der Körper, worauf er sich stützt; er kann nach Gefallen von dem einen zu einem anderen übergehen. Doch sind manche Ideen für den Geist wie manche Bewegungen für den Körper von solcher Art, daß er sie unter gewissen Umständen nicht vermeiden, und durch die äußerste Kraftanstrengung, deren er fähig ist, ihre Abwesenheit nicht bewirken kann. Ein Mensch auf der Folter hat nicht die Freiheit, die Idee des Schmerzes beiseite zu setzen und sich mit anderen Betrachtungen zu belustigen, und mitunter jagt eine stürmische Leidenschaft unsere Gedanken wie ein Orkan unsern Körper, ohne uns die Freiheit des Denkens an andere Dinge zu lassen, was wir lieber möchten. Sobald aber der Geist die Kraft wieder gewinnt, eine von diesen Bewegungen, des Körpers draußen oder der Gedanken im Inneren, anzuhalten oder fortzusetzen, zu beginnen oder zu unterlassen, je nachdem er es für passend hält, der einen oder der anderen den Vorzug zu geben, betrachten wir den Menschen wieder als ein freihandelndes Wesen.
§ 13. Was Notwendigkeit heißt. – Überall, wo der Gedanke völlig fehlt, oder die Macht, seiner Anleitung gemäß zu handeln oder zu unterlassen, da greift die Notwendigkeit Platz. Bei einem wirkenden und zum Wollen befähigten Wesen heißt diese Zwang, wenn der Anfang oder die Fortsetzung einer Thätigkeit in Widerspruch mit dem steht, was sein Geist vorzieht; sie heißt Hindernis, wenn das Hemmen oder Aufhalten einer Handlung seinem Wollen widerspricht. Wirkende Wesen, die überhaupt nicht denken und wollen, wirken in jedem Falle mit Notwendigkeit.
§ 14. Die Freiheit betrifft nicht den Willen. – Verhält sich die Sache so (und ich meine, sie thut das), so gebe ich der Erwägung anheim, ob das nicht dazu dienen möchte, der lange verhandelten und, wie ich glaube, unvernünftigen, weil unverständlichen Frage ein Ziel zu setzen, ob der Wille des Menschen frei sei oder nicht. Denn, wenn ich mich nicht irre, so folgt aus dem Gesagten, daß diese Frage selbst ganz ungehörig ist, und daß es ebenso sinnlos ist, zu fragen, ob der Wille des Menschen frei sei, als ob sein Schlaf geschwind oder seine Tugend viereckig sei; weil Freiheit ebensowenig auf den Willen anwendbar ist, wie Geschwindigkeit der Bewegung auf den Schlaf oder viereckige Gestalt auf die Tugend. Über die Absurdität solch einer Frage, wie diese beiden, würde jedermann lachen, weil es auf der Hand liegt, daß die Modalitäten der Bewegung mit dem Schlafe nichts zu thun haben, und die Verschiedenheit der Gestalt nichts mit der Tugend; und, wenn jemand die Sache recht betrachtet, so denke ich wird er ebenso klar einsehen, daß Freiheit, Freiheit ist ein negativer Begriff, der in seiner Anwendung auf wirkende Wesen nicht deren Kraft oder Thätigkeit bezeichnet, sondern nur die Abwesenheit von Schranken oder Hindernissen für ihr Wirksamwerden. In diesem Sinne kann man die Freiheit aber ganz wohl auch von der Kraft oder dem Vermögen eines wirkenden Wesens aussagen. die nur ein Vermögen bezeichnet, bloß wirkenden Wesen zukommen, nicht aber ein Attribut oder eine Modalität des Willens sein kann, der ebenfalls nur ein Vermögen ist.
§ 15. Das Wollen. – Die Schwierigkeit, durch Wortlaute innere Thätigkeiten zu erläutern und von ihnen klare Begriffe zu geben, ist so groß, daß ich hier meinen Leser darauf aufmerksam machen muß, daß die Wörter anordnen, leiten, wählen, vorziehen etc., deren ich mich bedient habe, das Wollen nicht deutlich genug ausdrücken werden, wenn er nicht darauf achten will, was er selbst bei seinem Wollen thut. Z. B. »vorziehen«, was vielleicht den Willensakt am besten auszudrücken scheint, thut es doch nicht genau. Denn, wenngleich jemand das Fliegen dem Gehen vorziehen sollte, wer würde wohl deshalb sagen, daß er jemals fliegen wolle? Es ist klar, daß das Wollen ein Akt des Geistes ist, der die Herrschaft, die er sich selbst über irgend einen Teil des Menschen zuschreibt, wissentlich ausübt, indem er ihn für irgend eine besondere Thätigkeit verwendet oder davon abhält. Und was ist der Wille anders als das Vermögen dies zu thun? Und ist dieses Vermögen effektiv etwas mehr als eine Kraft, die Kraft des Geistes, seinen Gedanken, soweit dies von uns abhängt, zum Beginnen, Fortsetzen oder Einstellen irgend einer Handlung zu bestimmen? Denn läßt es sich leugnen, daß jedes wirkende Wesen, das die Kraft hat, seine eigenen Handlungen zu bedenken und ihre Vollziehung oder Unterlassung, die eine der anderen, vorzuziehen, das Vermögen besitzt, was Wille heißt? Der Wille ist also nichts als solch eine Kraft. Andererseits ist Freiheit die Macht, die jemand hat, irgend eine besondere Handlung zu vollbringen oder zu unterlassen, je nachdem das Handeln oder das Nichthandeln in seinem Geiste tatsächlich den Vorzug genießt, was ebensoviel sagt, wie: je nachdem er selbst will.
§ 16. Kräfte kommen wirkenden Wesen zu. – Es ist mithin klar, daß der Wille nichts ist als eine Kraft oder Fähigkeit und die Freiheit eine andere Kraft oder Fähigkeit; so daß fragen, ob dem Willen Freiheit zukomme, dasselbe heißt, wie fragen, ob einer Kraft eine andere Kraft zukomme oder einer Fähigkeit eine andere Fähigkeit; eine Frage, die auf den ersten Blick als eine so grobe Absurdität erscheint, daß sie keinen Streit veranlassen kann und keiner Antwort bedarf. Denn wer sieht nicht ein, daß Kräfte nur wirkenden Wesen zukommen, und nur Attribute von Substanzen sind, nicht aber von anderen Kräften? Diese Art der Fragestellung also, nämlich: ob der Wille frei sei, heißt thatsächlich fragen: ob der Wille eine Substanz, ein wirkendes Wesen sei? oder wenigstens dies voraussetzen, weil Freiheit etwas anderem füglich nicht zugeschrieben werden kann. Wenn es eine irgendwie schickliche Ausdrucksweise ist, einer Kraft Freiheit zuzuschreiben, dann kann sie Statt: or may be attributed, lies: it may be attributed. auch der Kraft des Menschen zugeschrieben werden, nach seiner Wahl oder Vorliebe in den Gliedern seines Körpers Bewegung hervorzubringen oder nicht hervorzubringen, was das ist, weshalb man ihn frei nennt, und die Freiheit selbst ausmacht. Keineswegs, sondern man nennt ihn frei, wenn und weil der Bethätigung jener Kraft keine äußeren Hindernisse entgegenstehen. Wenn aber jemand fragen würde, ob die Freiheit frei sei, so würde er in den Verdacht kommen, seine eigenen Worte nicht zu verstehen, und man würde den der Ohren des Midas für würdig halten, der, obwohl ihm bekannt wäre, daß reich sein den Besitz von Reichtümern bedeute, danach fragte, ob die Reichtümer selbst reich seien.
§ 17. Indessen mag der Name Vermögen, den man der Willenskraft gegeben hat, und wodurch man auf den Abweg geraten ist, von dem Willen als einem thätigen Subjekt zu sprechen, durch eine den wahren Sinn verhüllende Begriffsbestimmung dazu dienen, die Absurdität ein wenig zu bemänteln; in Wahrheit aber bedeutet der Wille nichts als eine Kraft oder Fähigkeit, vorzuziehen oder zu wählen, und wenn man den Willen auch unter dem Namen eines Vermögens nur als das ansieht, was er ist, als eine Fähigkeit etwas zu thun, so wird die Absurdität der Behauptung, er sei frei oder nicht frei, leicht zu Tage kommen. Denn, wenn es vernünftig wäre, Vermögen als besondere des Handelns fähige Wesen vorauszusetzen und in diesem Sinne von ihnen zu sprechen (was wir thun, wenn wir sagen: »der Wille befiehlt,« und: »der Wille ist frei«), so wäre es ganz richtig, auch ein Redevermögen und ein Gehvermögen und ein Tanzvermögen anzunehmen, wodurch diese Handlungen, die nur verschiedene Arten der Bewegung sind, ausgeführt würden, ebensogut, wie wir aus dem Willen und dem Verstande Vermögen machen, wodurch die Thätigkeiten des Wählens und Erkennens, die nur verschiedene Arten des Denkens sind, hervorgebracht würden; und wir könnten ebensogut sagen, das Singvermögen singe und das Tanzvermögen tanze, wie der Wille wähle oder der Verstand begreife; oder, wie üblich ist, der Wille lenke den Verstand, oder der Verstand gehorche oder gehorche nicht dem Willen; da es gerade ebenso passend und verständlich ist zu sagen: die Kraft zu sprechen lenke die Kraft zu singen, oder die Kraft zu singen gehorche oder gehorche nicht der Kraft zu sprechen.
§ 18. Gleichwohl ist diese Redeweise vorherrschend geworden und hat meiner Meinung nach große Verwirrung angerichtet. Denn da alles das im Geiste oder im Menschen verschiedene Kräfte zur Vollbringung verschiedener Tätigkeiten sind, so übt er sie nach seinem Gutdünken aus, aber auf die Kraft, eine Thätigkeit zu vollbringen, wirkt nicht die Kraft, eine andere zu vollbringen, ein. Denn die Kraft zu denken wirkt nicht auf die Kraft zu wählen, und die Kraft zu wählen nicht auf die Kraft zu denken, Hier übersieht Locke, was uns erst durch Schopenhauer zum klaren Bewußtsein gekommen ist, daß im Wollen der metaphysische Kern des individuellen Lebensprozesses unmittelbar zu Tage tritt, während der Intellekt oder das Denken nur als Hilfsmittel für die Aktionen des Willens, gewissermaßen als dessen Werkzeug, dient. Man kann Wille und Verstand nicht auf eine Linie nebeneinander stellen wie Tanzen und Singen, denn letztere sind allerdings nur verschiedene Arten der Bewegung von Organen unseres Leibes (also von Willensakten), erstere aber keineswegs – wie im vorigen Paragraphen gesagt ist – verschiedene Arten des Denkens. Der Wille ist nicht eine Kraft, die der Mensch neben anderen Kräften besäße, sondern das eigentliche Ich-selbst des Menschen. ebensowenig wie die Kraft zu tanzen auf die Kraft zu singen, oder die Kraft zu singen auf die Kraft zu tanzen einwirkt, wie jeder leicht einsehen wird, der darüber nachdenkt; und doch behaupten wir eben dies, wenn wir sagen, daß der Wille auf den Verstand, oder der Verstand auf den Willen einwirke.
§ 19. Ich gebe zu, daß dieser oder jener aktuelle Gedanke die Gelegenheitsursache des Wollens oder einer Ausübung der Kraft des Menschen zu wählen sein kann, oder die aktuelle Wahl des Geistes die Ursache des aktuellen Denkens an diese oder jene Sache; ebenso wie das aktuelle Singen einer gewissen Melodie die Ursache zum Tanzen eines gewissen Tanzes, und das aktuelle Tanzen eines solchen Tanzes die Veranlassung zum Singen einer solchen Melodie sein mag. In allen diesen Fällen ist es jedoch nicht eine Kraft, die auf eine andere einwirkt, sondern der Mensch ist es, der die Handlung vollbringt, das wirkende Wesen besitzt die Kraft, oder ist fähig, etwas zu thun. Denn Kräfte sind Relationen (Beziehungen oder Verhältnisse), nicht Agentien (wirkende Wesen), und allein das, was die Kraft zu wirken hat oder nicht hat, ist frei oder nicht frei und nicht die Kraft selbst. Denn Freiheit oder Unfreiheit kann nur dem zukommen, was eine Kraft zu handeln hat oder nicht hat.
§ 20. Freiheit kommt nicht dem Willen zu. Diese Worte sind wohl an den Anfang des Rubrums des folgenden Paragraphen zu versetzen. – Daß man den Vermögen etwas zuschrieb, was ihnen nicht zukam, hat den Anlaß zu dieser Redeweise gegeben, aber daß man in Abhandlungen über den Geist mit dem Namen »Vermögen« eine Vorstellung ihrer Wirksamkeit hineintrug, hat, glaube ich, unsere Erkenntnis von diesem Teile unserer selbst ebensowenig gefördert, wie die vielfache Benutzung und Erwähnung derselben Erfindung von Vermögen bei den Thätigkeiten des Leibes uns in der Wissenschaft der Medizin etwas geholfen hat. Nicht als ob ich leugnete, daß es sowohl im Körper wie im Geiste Vermögen giebt; beide haben ihre wirksamen Kräfte, sonst könnte weder der eine noch der andere eine Wirkung ausüben. Denn nichts kann eine Wirkung ausüben, was nicht dazu fähig ist, und was keine Kraft zu wirken hat, ist auch nicht dazu fähig. Auch bestreite ich nicht, daß diese und ähnliche Wörter in dem täglichen Sprachgebrauch, der sie geläufig gemacht hat, ihren Platz behalten mögen. Sie ganz zu vermeiden würde allzu gesucht aussehen, und selbst die Philosophie, obwohl sie kein buntes Kleid liebt, muß doch, wenn sie sich in der Gesellschaft zeigt, so viel höfliche Rücksicht nehmen, daß sie sich, soweit das mit Wahrheit und Deutlichkeit zusammen bestehen kann, der landüblichen Mode und Sprache gemäß kleidet. Allein es ist ein Fehler gewesen, daß man von »Vermögen« wie von ebensovielen verschiedenen wirkenden Wesen gesprochen, und sie als solche dargestellt hat. Denn auf die Frage, wodurch die Speisen in unserem Magen verdaut würden, ließ sich leicht und sehr befriedigend antworten: durch das Verdauungsvermögen. Wodurch wird etwas aus dem Körper hinausgeschafft? durch das Austreibungsvermögen. Wodurch entsteht Bewegung? durch das Bewegungsvermögen. Und ebenso ist es im Geiste das Erkenntnisvermögen oder der Verstand, welches erkennt, und das wählende Vermögen oder der Wille, welcher will oder befiehlt. Kurz gesagt heißt das: die Fähigkeit zu verdauen verdaut, und die Fähigkeit zu bewegen bewegt, und die Fähigkeit zu erkennen erkennt. Denn Vermögen, Fähigkeit und Kraft sind meiner Meinung nach nur verschiedene Namen für dieselbe Sache, und jene Redeweisen laufen, denke ich, in verständlichere Worte gefaßt, auf nichts weiter hinaus, als daß die Verdauung durch etwas bewirkt werde, was fähig sei zu verdauen, die Bewegung durch etwas, was fähig sei zu bewegen, und die Erkenntnis durch etwas, was fähig sei zu erkennen. Und es wäre wirklich höchst sonderbar, wenn es sich anders verhielte, ebenso sonderbar, wie es für jemand sein würde, frei zu sein, ohne daß er fähig wäre, frei zu sein.
§ 21. Sondern dem wirkenden Wesen oder dem Menschen. – Um denn auf die Untersuchung über die Freiheit zurückzukommen, so meine ich, die Frage lautet eigentlich nicht, ob der Wille frei sei, sondern ob der Mensch frei sei. Hierüber ist meine Ansicht:
Erstens, daß jemand ebenso weit frei ist, wie er durch die Direktion oder Wahl seines Geistes, indem er die Existenz einer Handlung ihrer Nichtexistenz und vice versa vorzieht, bewirken kann, daß sie geschehe oder nicht geschehe. Denn wenn ich bewirken kann, daß mein Finger, der sich in Ruhe befand, sich bewege oder vice versa, indem ich durch einen Gedanken seine Bewegung dirigiere, so erhellt, daß ich mit Bezug hierauf frei bin, und wenn ich Worte oder Stillschweigen hervorbringen kann, indem ich durch einen ähnlichen Gedanken meines Geistes das eine dem anderen vorziehe, so steht es mir frei zu reden oder den Mund zu halten; und soweit, wie diese Kraft reicht, zu handeln oder nicht zu handeln, indem er nach der Entscheidung seines eigenen Gedankens eins von beiden vorzieht, soweit ist jemand frei. Denn wie könnten wir uns jemanden freier denken, als wenn er die Macht hat zu thun, was er will? Und soweit jemand, indem er irgend eine Handlung ihrer Unterlassung oder die Ruhe irgend einer Handlung vorzieht, diese Handlung oder Ruhe hervorbringen kann, ebensoweit kann er thun, was er will. Denn in solcher Weise eine Handlung ihrer Unterlassung vorziehen, heißt sie wollen, und wir können schwerlich sagen, wie wir uns vorstellen könnten, daß jemand freier sei, als wenn er fähig ist, zu thun, was er will. So daß hinsichtlich der Handlungen im Bereich solch einer in ihm liegenden Kraft jemand so frei zu sein scheint, wie die Freiheit ihn zu machen imstande ist.
§ 22. Hinsichtlich des Wollens ist der Mensch nicht frei. – Aber der grübelnde Sinn des Menschen, der alle Gedanken von Schuld so weit wie möglich von sich abschieben möchte selbst auf die Gefahr hin, sich dadurch in einen schlimmeren Zustand als den einer fatalistischen Notwendigkeit zu versetzen, ist hiemit nicht zufrieden; wenn die Freiheit nicht weiterreicht, so genügt sie nicht, und es gilt für eine gute Schutzrede, daß der Mensch überhaupt nicht frei sei, wenn es ihm nicht ebensogut frei stehe zu wollen als zu thun, was er wolle. Bezüglich der Freiheit des Menschen wird deshalb noch die weitere Frage aufgeworfen, ob der Mensch im Wollen frei sei? und ich denke, das ist die Meinung, wenn darüber gestritten wird, ob der Wille frei sei. Hierüber ist meine Ansicht:
§ 23. Zweitens, daß, da das Wollen oder die Willensthätigkeit eine Handlung ist, und die Freiheit in der Macht zu handeln oder nicht zu handeln besteht, der Mensch hinsichtlich des Wollens oder der Willensthätigkeit nicht frei sein kann, sobald sich ihm in seinen Gedanken irgend eine in seiner Macht stehende Handlung als sofort zu vollziehen einmal dargestellt hat. Der Grund davon liegt auf flacher Hand; denn, da es unvermeidlich ist, daß die von seinem Willen abhängige Handlung geschehe oder nicht geschehe, und da ihre Existenz oder Nichtexistenz lediglich eine Folge der Entscheidung und des Vorziehens seines Willens ist, so kann er nicht umhin, die Existenz oder Nichtexistenz jener Handlung zu wollen; daß er das eine oder das andere wolle, d. ,h. das eine dem anderen vorziehe, ist schlechthin notwendig, weil eins von beiden notwendig erfolgen muß, und das, was erfolgt, nach der Wahl und Entscheidung seines Geistes, d. ,h. nach seinem Wollen geschieht, denn, wenn er es nicht wollte, dann würde es nicht geschehen. So daß hinsichtlich des Willensaktes der Mensch in solchem Falle nicht frei ist, weil die Freiheit in der Macht zu handeln oder nicht zu handeln besteht, die der Mensch unter solchen Umständen mit Bezug auf das Wollen nicht hat. Denn es ist unvermeidlich notwendig, das Vollbringen oder Unterlassen einer dem Menschen möglichen Handlung vorzuziehen, Die Argumentation dieses Paragraphen beruht auf der unrichtigen Betrachtung des Wollens als einer Art des Denkens. »Ich will nicht« ist allerdings gerade so gut ein seiner eigenen Existenz nach positiver Gedanke wie »ich will«, und mit einem von diesen beiden Gedanken muß jede Deliberation schließen, wenn der Mensch vor die Frage gestellt ist, ob er handeln solle oder nicht. Allein der Gedanke »ich will« ist ebensowenig der Wille wie der Gedanke »ich will nicht«. wenn er in seinen Gedanken unmittelbar vor sie gestellt worden ist; der Mensch muß notwendig das eine oder das andere davon wollen, und auf dieses Vorziehen oder Wollen folgt sicher die Handlung oder Unterlassung und ist wahrhaft willkürlich. Da aber der Willensakt oder das Vorziehen des einen von beiden für ihn unvermeidlich ist, so unterliegt der Mensch bezüglich dieses Willensaktes einer Notwendigkeit und kann also nicht frei sein, es sei denn, daß Notwendigkeit und Freiheit zusammen bestehen könnten, und der Mensch zugleich frei und gebunden sein könnte.
§ 24. Soviel ist also einleuchtend, daß überall, wo ein sofortiges Handeln in Frage steht, der Mensch nicht die Freiheit hat, zu wollen oder nicht zu wollen, weil er das Wollen nicht unterlassen kann, während die Freiheit in der Macht besteht, zu handeln oder das Handeln zu unterlassen, und nur hierin. Denn von jemandem, der still sitzt, sagt man gleichwohl, daß er frei sei, weil er gehen kann, sobald er will. Wenn aber jemand, der still sitzt, nicht die Kraft hat sich zu entfernen, dann ist er nicht frei, und ebensowenig ist jemand, der von einer steilen Höhe herabstürzt, frei, obgleich er sich bewegt, weil er diese Bewegung nicht beliebig aufhalten kann. Bei diesem Sachverhalt ist es klar, daß, wenn einem Gehenden vorgeschlagen wird stillzustehen, er nicht die Freiheit hat, sich über das Gehen oder Stillstehen zu entschließen oder nicht zu entschließen, er muß notwendig das eine oder das andere davon, das Gehen oder Stillstehen, vorziehen, und ebenso verhält es sich mit Bezug auf alle anderen in unserer Macht stehenden Handlungen, vor die wir so gestellt werden, und die bei weitem die Mehrzahl ausmachen. Denn, wenn wir die gewaltige Menge willkürlicher Handlungen in Betracht ziehen, die in jedem wachen Augenblicke unseres Lebenslaufes einander folgen, so giebt es darunter nur wenige, die schon vor der Zeit, wo sie ausgeführt werden sollen, überlegt oder dem Willen vorgeschlagen werden, und bei allen diesen Handlungen hat der Geist, wie ich gezeigt habe, bezüglich des Wollens nicht die Macht zu handeln oder nicht zu handeln, worin die Freiheit besteht. In diesem Falle hat der Geist nicht die Macht, das Wollen zu unterlassen, er kann nicht jede Entscheidung über sie (die Handlungen) vermeiden, mag auch die Überlegung so kurz, der Gedanke so schnell sein wie sie wollen; er läßt entweder den Menschen in dem Zustande, worin er sich vor der Überlegung befand, oder verändert diesen, setzt die Handlung fort oder beendigt sie. Darin zeigt sich offenbar, daß er das eine im Vorzug vor dem anderen oder mit dessen Beiseitesetzung anordnet und vorschreibt, und dadurch wird entweder die Fortsetzung oder die Veränderung unvermeidlich zu etwas Willkürlichem.
§ 25. Der Wille wird durch etwas außer ihm Liegendes bestimmt. – Weil es mithin klar ist, daß der Mensch in den meisten Fällen nicht die Freiheit hat zu wollen oder nicht zu wollen, so ist die nächste Frage, ob es ihm freistehe, von den beiden, Bewegung oder Ruhe, das zu wollen, was ihm gefällt? Die Absurdität dieser Frage liegt in ihr selbst so klar zu Tage, daß man daraus hinlänglich die Überzeugung gewinnen könnte, daß die Freiheit den Willen nicht betrifft. Denn fragen, ob jemand die Freiheit habe, eins von beiden, was ihm gefalle, Bewegung oder Ruhe, Reden oder Schweigen, zu wollen, heißt fragen, ob jemand wollen könne, was er will, oder ob ihm gefallen könne, was ihm gefällt? eine Frage, die, denke ich, keiner Beantwortung bedarf; und die, welche sie aufzuwerfen imstande sind, müssen annehmen, daß ein Wille die Akte eines anderen bestimme, und wieder ein anderer dessen Akte etc. in infinitum. Man kann zwar nicht in infinitum wiederholt, wohl aber mit Vignoli, an der in der Anmerkung zu Kapitel X, § 10 citierten Stelle, einmal sagen: »der Mensch will wollen«, ebensogut wie er sich erinnern, vorstellen und denken will, denn der Anstoß zur Thätigkeit des motorischen Nervensystems, oder zu einem nach außen gerichteten Willensakt, geht vom großen Gehirn aus, dessen Funktionen bei dem Menschen großenteils von seiner Willkür abhängen.
§ 26. Um diese und ähnliche Absurditäten zu vermeiden, kann nichts nützlicher sein, als in unserem Geiste bestimmte Ideen der in Betracht kommenden Dinge aufzustellen. Wenn die Ideen von Freiheit und Wollen im Verstande wohl fixiert wären, und wir sie, wie es sich gehörte, durch alle über sie aufgeworfene Fragen hindurch im Sinne behielten, so, glaube ich, würde ein großer Teil der Schwierigkeiten, die das Denken der Menschen in Verlegenheit setzen, und worin ihr Verstand sich verwickelt, sich viel leichter lösen lassen, und wir würden erkennen, wo die verworrene Bedeutung von Ausdrücken und wo die Natur der Sache die Dunkelheit verursache.
§ 27. Freiheit. – Erstens also muß man sorgfältig im Auge behalten, daß die Freiheit in der Abhängigkeit der Existenz oder Nichtexistenz einer Handlung von unserem Wollen beruht, und nicht in der Abhängigkeit einer Handlung oder ihres Gegenteils von unserem Vorziehen. Ein Mann, der auf einer Klippe steht, hat die Freiheit, zwanzig Ellen hinab in die See zu springen, nicht weil er die Kraft hätte das Gegenteil zu thun, d. h. zwanzig Ellen aufwärts zu springen, denn dazu ist er nicht imstande; sondern er ist deshalb frei, weil es in seiner Macht steht, zu springen oder nicht zu springen. Wenn er aber von einer stärkeren Kraft als seiner eigenen festgehalten oder hinabgestürzt wird, so ist er in diesem Falle nicht länger frei, weil die Ausführung oder Unterlassung dieser besonderen Handlung nicht länger in seiner Macht steht. Wer als Gefangener in einem Raume von zwanzig Fuß im Quadrat eingeschlossen ist, hat, wenn er an der Nordseite seines Zimmers steht, die Freiheit, zwanzig Fuß nach Süden zu gehen, weil er diese Strecke gehen oder nicht gehen kann; er hat aber zu gleicher Zeit nicht die Freiheit, das Gegenteil zu thun, d. h. zwanzig Fuß nach Norden zu gehen.
Hierin besteht also die Freiheit, nämlich darin, daß wir imstande sind zu handeln oder nicht zu handeln, je nachdem wir wählen oder wollen werden.
§ 28. Was wollen heißt. – Zweitens müssen wir festhalten, daß die Willensäußerung oder das Wollen eine Thätigkeit des Geistes ist, der sein Denken auf die Hervorbringung irgend einer Handlung richtet und dadurch seine Kraft, sie hervorzubringen, ausübt. Um der Häufung von Worten vorzubeugen, möge man mir hier gestatten, unter dem Worte Handlung auch das Unterlassen einer vorgeschlagenen Handlung mit zu verstehen; stillsitzen oder schweigen, wenn gehen oder reden vorgeschlagen sind, können, obgleich bloße Unterlassungen, weil sie ebenso gut wie die entgegengesetzten Handlungen eine Entscheidung des Willens erfordern und ihre Folgen oft ebenso schwer ins Gewicht fallen, mit Rücksicht hierauf ganz wohl auch für Handlungen gelten: ich bemerke dies indessen, um nicht mißverstanden zu werden, wenn ich mich der Kürze halber so ausdrücke.
§ 29. Was den Willen bestimmt – Drittens, da der Wille nur eine Kraft des Gemütes ist, Statt: the will be nothing, lies: the will being nothing. die wirksamen Fähigkeiten des Menschen zur Bewegung oder zur Ruhe anzuweisen, insoweit diese von seiner Anweisung abhängen, so ist die wahre und passende Antwort auf die Frage, was den Willen bestimme: das Gemüt. Denn das, was die im allgemeinen leitende Macht zu dieser oder jener besonderen Direktion bestimmt, ist nichts als das wirkende Wesen selbst, was seine Macht nach eben dieser Richtung hin ausübt. Wenn diese Antwort ungenügend erscheint, so ist offenbar die Meinung der Frage, was den Willen bestimme, folgende: Was bewegt das Gemüt in jedem einzelnen Falle seine allgemeine Macht der Leitung zu dieser oder jener besondern Bewegung oder Ruhe zu bestimmen? Und hierauf antworte ich: das Motiv, in demselben Zustande zu verbleiben, oder dieselbe Thätigkeit fortzusetzen, ist nur die daraus gegenwärtig entspringende Befriedigung; das Motiv eines Wechsels ist stets irgend ein Unbehagen, indem uns nichts zu einer Veränderung des Zustandes oder einer neuen Thätigkeit antreibt, als irgend ein Unbehagen. Dies ist das große Motiv, welches auf das Gemüt einwirkt, um es zum Handeln anzutreiben, oder, wie wir kurz sagen wollen, den Willen bestimmt, was ich weiter ausführen werde.
§ 30. Wille und Verlangen müssen nicht verwechselt werden. – Bevor ich dazu übergehe, wird es jedoch nötig sein, noch die Bemerkung vorauszuschicken, daß, obgleich ich oben versucht habe, den Willensakt durch wählen, vorziehen und ähnliche das Verlangen ebensogut wie das Wollen bezeichnende Ausdrücke zu beschreiben, weil es an anderen Wörtern fehlt, jene Gemütsthätigkeit, deren eigentlicher Name wollen oder Willensakt ist, zu kennzeichnen, doch jeder, der ihr Wesen verstehen will, weil sie ein sehr einfacher Akt ist, es besser erkennen wird, wenn er auf sein eigenes Gemüt reflektiert und beobachtet, was er thut, wenn er etwas will, als durch irgend welche Abwechselung von was immer für artikulierten Lauten. Diese Warnung, sich sorgfältig vor einer Mißleitung durch Ausdrücke zu hüten, die den Unterschied zwischen dem Willen und einigen von ihm ganz verschiedenen Gemütsthätigkeiten nicht hinlänglich aufrecht erhalten, scheint mir um so notwendiger zu sein, als ich oft finde, daß der Wille mit manchen Affekten, namentlich dem Verlangen, zusammengeworfen und verwechselt wird, und zwar von solchen Personen, die sich nicht gerne nachsagen lassen möchten, daß sie nicht sehr deutliche Begriffe von den Dingen besäßen, und nicht sehr klar über sie geschrieben hätten. Dies hat, glaube ich, in nicht geringem Maße zu Dunkelheiten und Irrtümern in dieser Sache Anlaß gegeben, und sollte deshalb soviel wie möglich vermieden werden. Denn, wer seine Gedanken nach innen auf das richtet, was in seinem Gemüte vorgeht, wenn er etwas will, der wird einsehen, daß der Wille oder die Kraft des Wollens in nichts anderem besteht, als in der eigentümlichen Entschließung des Gemütes, worin dieses bloß durch einen Gedanken sich bestrebt, irgend eine Handlung, die es als in seinem Machtbereich liegend ansieht, entstehen, fortdauern oder aufhören zu lassen. Wohlerwogen zeigt dies klar, daß der Wille vom Verlangen völlig verschieden ist, das bei eben derselben Handlung eine Tendenz haben kann, die derjenigen, worauf unser Wille uns hinführt, geradezu entgegengesetzt ist. Jemand, dem ich es nicht abschlagen kann, mag mich nötigen, einem anderen gegenüber Überredungen zu versuchen, deren Erfolglosigkeit ich wünsche, während ich sie vortrage. In diesem Falle ist es klar, daß der Wille und das Verlangen gegeneinander laufen. Ich will die Handlung, deren Zweck in der einen Richtung liegt, während mein Verlangen sich nach einer anderen und zwar der gerade entgegengesetzten Seite hin richtet. Richtiger gesagt, überwiegt mein Verlangen, mich dem A gefällig oder gehorsam zu erweisen, mein Verlangen danach, daß B nicht so handle, wie A wünscht, sonst würde ich die Überredung des B nicht versuchen. Gleichwohl ist das Verlangen nicht der Wille, sondern nur dessen Motiv. Jemand, der durch einen heftigen Anfall von Gicht in seinen Gliedern eine Schläfrigkeit in seinem Kopfe oder eine Appetitlosigkeit in seinem Magen beseitigt findet, verlangt auch danach, von den Schmerzen in seinen Füßen oder Händen befreit zu werden (denn überall, wo Schmerz eintritt, entsteht das Verlangen danach, ihn los zu werden), gleichwohl aber läßt sein Wille sich zu keiner dazu dienlichen Handlung bestimmen, so lange er fürchtet, daß die Beseitigung dieses Schmerzes die schädlichen Säfte auf einen für das Leben wichtigeren Körperteil übertragen könnte. Hier wird also das Verlangen, die Krankheit der Hände und Füße los zu werden, von dem Verlangen, Kopf und Magen gesund zu erhalten, überwogen, und der Wille folgt dem stärkeren von zweien einander ausschließenden Verlangen, aber er widersetzt sich nicht als bloßer Wille einem einzigen, allein vorhandenen, Verlangen. Deshalb ist es einleuchtend, daß Verlangen und Wollen zwei unterschiedene Gemütsthätigkeiten sind, und daß folglich der Wille, der nur die Kraft zu wollen ist, von dem Verlangen sich noch mehr unterscheidet.
§ 31. Das Unbehagen bestimmt den Willen. – Um denn auf die Frage zurückzukommen, was bei unserem Handeln den Willen bestimmt, so bin ich nach wiederholter Erwägung zu der Meinung geneigt, daß es nicht, wie allgemein angenommen wird, das in Aussicht stehende größere Gut ist, sondern irgend ein (und meistens das drückendste) Unbehagen, was jemand augenblicklich fühlt. Das ist es, was der Reihe nach den Willen bestimmt und uns zu den Handlungen antreibt, die wir begehen. Dieses Unbehagen mögen wir immerhin Verlangen nennen, denn das ist ein Unbehagen des Gemütes wegen des Mangels eines abwesenden Gutes. Jeder körperliche Schmerz, von welcher Art er auch sein möge, und jede Störung der Gemütsruhe ist Unbehagen, und damit verbindet sich immer ein Verlangen, was dem gefühlten Schmerz oder Unbehagen gleichkommt, und von diesem kaum zu unterscheiden ist. Denn, da das Verlangen ein Unbehagen wegen des Mangels eines abwesenden Gutes ist, so ist mit Bezug aus irgend eine Schmerzempfindung deren Linderung das abwesende Gut; und so lange die Linderung nicht eingetreten ist, mögen wir sie als Gegenstand des Verlangens bezeichnen, weil niemand Schmerz fühlt, ohne mit einem ihm gleichkommenden und von ihm untrennbaren Verlangen dessen Linderung zu wünschen. Außer diesem Verlangen nach Linderung eines Schmerzes giebt es ein anderes nach einem abwesenden positiven Gut, und auch hier sind das Verlangen und das Unbehagen einander gleich. So sehr wir nach einem abwesenden Gut verlangen, ebensosehr tragen wir um seinetwillen Leid. Allein hier verursacht nicht jedes abwesende Gut seiner wirklichen oder vermeinten Größe gemäß ein dieser gleichkommendes Leid, wie jeder Schmerz ein ihm gleichkommendes Verlangen bewirkt, weil die Abwesenheit des Gutes nicht immer als ein Leid empfunden wird, wie ein gegenwärtiger Schmerz. Deshalb kann man ohne Verlangen auf ein abwesendes Gut Hinblicken und es betrachten; aber soweit wie dabei irgend ein Verlangen entsteht, ebensoweit ist auch Unbehagen vorhanden.
§ 32. Verlangen ist Unbehagen. – Daß Verlangen ein unbehaglicher Zustand ist, wird jeder bald finden, der sich selbst beobachtet. Wer hätte nicht beim Verlangen gefühlt, was der Weise von der Hoffnung sagt (die sich von ihm nicht sehr unterscheidet), »daß ihre verzögerte Erfüllung das Herz krank macht«? und zwar immer der Größe des Verlangens entsprechend, die zuweilen das Unbehagen bis zu solcher Höhe steigert, daß es Menschen zu dem Ausruf treibt: »Gieb mir Kinder, gieb mir das, wonach mich verlangt, oder ich sterbe!« (Genesis XXX, 1.) Das Leben selbst mit allen seinen Genüssen wird zu einer unerträglichen Last unter dem dauernden und unverminderten Druck eines solchen Unbehagens.
§ 33. Die Unbehaglichkeit des Verlangens bestimmt den Willen. – Das Gute und das Üble wirken zwar, gegenwärtig und abwesend, auf das Gemüt ein, aber das, was von Zeit zu Zeit den Willen zu jeder willkürlichen Handlung unmittelbar bestimmt, ist die Unbehaglichkeit des auf ein abwesendes Gut gerichteten Verlangens, sei es ein negatives wie für einen Leidenden die Schmerzlosigkeit, oder ein positives wie der Genuß von Vergnügen. Daß es dieses Unbehagen ist, welches den Willen zu den aufeinander folgenden willkürlichen Handlungen bestimmt, die den größten Teil unseres Lebens ausfüllen, und uns auf verschiedenen Bahnen zu verschiedenen Zielen führen, will ich versuchen sowohl aus der Erfahrung wie aus der Natur der Sache nachzuweisen.
§ 34. Sie ist die Triebfeder des Handelns. – Wenn jemand mit dem Zustande, worin er sich befindet, vollkommen zufrieden ist, d. h. wenn er völlig frei ist von irgend welchem Unbehagen, was bleibt ihm dann noch für ein Gegenstand der Betriebsamkeit, des Handelns und Wollens übrig, als nur die Erhaltung jenes Zustandes? Die Bestätigung hiefür wird jedermann in seiner Erfahrung finden. Und so sehen wir, daß unser allweiser Schöpfer, entsprechend unserer Konstitution und unserem Körperbau, und wissend, was den Willen bestimmt, dem Menschen die Unbehaglichkeit von Hunger und Durst und anderen natürlichen Begierden, die sich zu ihrer Zeit einstellen, eingepflanzt hat, um zu ihrer eigenen Erhaltung und der Fortpflanzung ihrer Art ihren Willen zu bewegen und zu bestimmen. Denn wir dürfen, denke ich, schließen, daß, wenn die bloße Betrachtung dieser guten Zwecke, zu deren Erstrebung uns die verschiedenen Zustände des Unbehagens antreiben, ausreichend gewesen wären, den Willen zu bestimmen und uns in Bewegung zu setzen, keines von jenen natürlichen Leiden uns betroffen hätte, und vielleicht in dieser Welt überhaupt wenig oder gar kein Leid. »Es ist besser freien als Brunst leiden,« sagt der Apostel Paulus, woraus wir entnehmen können, wodurch die Menschen hauptsächlich in die Freuden des ehelichen Lebens hineingetrieben werden. Ein bißchen Gefühl des Brennens treibt uns mächtiger vorwärts, als größere in Aussicht stehende Genüsse uns heranziehen und locken.
§ 35. Nicht das größte positive Gut bestimmt den Willen, sondern das Unbehagen. – Daß das Gut, das größere Gut, den Willen bestimme, scheint so sehr eine durch allgemeine Zustimmung aller Menschen ausgemachte und festgestellte Maxime zu sein, daß es mich nicht Wunder nimmt, wenn ich bei der ersten Veröffentlichung meiner Gedanken über diesen Gegenstand sie als zweifellos betrachtete; und ich glaube, daß mein damaliges Verhalten von einer großen Mehrheit für viel entschuldbarer erachtet werden wird, als daß ich jetzt es gewagt habe, von einer so allgemein geteilten Ansicht abzuweichen. Gleichwohl sehe ich mich nach einer genaueren Untersuchung zu dem Schlusse genötigt, daß das Gut, das größere Gut, mag es auch als solches begriffen und anerkannt sein, den Willen nicht eher bestimmt, als bis ein seiner Größe entsprechendes Verlangen in uns entstanden ist, und Unbehagen in uns erregt, weil wir es nicht besitzen. Mag man auch einen Menschen noch so sehr davon überzeugen, daß Reichtum der Armut vorzuziehen sei, mag man ihn sehen und zugeben lassen, daß nette Bequemlichkeiten des Lebens besser seien als schmutzige Dürftigkeit, so rührt er sich doch nicht, so lange er mit der letzteren zufrieden ist und nichts Unbehagliches darin findet; sein Wille wird niemals zu irgend einer Handlung bestimmt, die ihn aus ihr emporheben würde. Mögen auch die Vorteile der Tugend einem Menschen noch so einleuchtend gemacht werden, daß sie für jeden, der irgend ein großes Ziel in dieser Welt vor Augen habe, oder seine Hoffnung auf das künftige Leben setze, so notwendig sei wie die Nahrung für den Lebensunterhalt, so wird sein Wille sich doch nicht bestimmen lassen, nach diesem zugestandenermaßen größeren Gut irgendwie thätig zu streben, bis er nach der Gerechtigkeit hungert und dürstet, und wegen ihres Mangels ein Unbehagen empfindet; vielmehr wird irgend ein anderes ihm fühlbares Unbehagen Platz greifen, und seinen Willen zu anderen Handlungen fortreißen. Andererseits: mag ein Trunkenbold auch sehen, daß seine Gesundheit in Verfall gerät, sein Vermögen zusammenschmilzt, daß ihn auf der eingeschlagenen Bahn übler Ruf, Krankheit, Mangel an allem, sogar an seinem geliebten Getränk erwarte, so treibt ihn doch das wiederkehrende Unbehagen beim Vermissen seiner Genossen, der gewohnte Durst nach seinen Bechern zur üblichen Zeit in die Schenke, angesichts des Verlustes von Gesundheit und Reichtum und vielleicht der Freuden eines künftigen Lebens, von denen die kleinste kein geringes Gut ist, sondern, wie er zugiebt, viel größer als der Gaumenkitzel eines Glases Wein oder das müßige Geschwätz einer Zechgesellschaft. Es ist nicht der Mangel an Wahrnehmung des größeren Gutes, denn er sieht es und erkennt es an, und in den Zwischenzeiten seiner Trinkstunden faßt er auch den Entschluß, dem größeren Gute nachzustreben; aber, wenn das Unbehagen, seinen gewohnten Genuß zu entbehren, wiederkehrt, so verliert das als größer anerkannte Gut seine Macht, und das gegenwärtige Unbehagen bestimmt den Willen zu der gewohnten Handlungsweise, welche dadurch für den Sieg auch bei nächster Gelegenheit festeren Fuß faßt, obwohl er zu gleicher Zeit sich im geheimen verspricht, daß er nicht noch einmal dasselbe thun wolle; dies solle das letzte Mal sein, daß er die Erlangung jener größeren Güter beiseite setze. Und so kommt er von Zeit zu Zeit in die Lage jener Unglücklichen, die klagend sprach: video meliora proboque, deteriora sequor; eine Sentenz von anerkannter und beständig durch die Erfahrung bewährter Wahrheit, die sich auf diese und wahrscheinlich auf keine andere Weise leicht erklären läßt.
§ 36. Weil die Beseitigung des Unbehagens der erste Schritt zum Glücke ist. – Wenn wir nach dem Grunde dafür forschen, was die Erfahrung thatsächlich so klar beweist, und untersuchen, warum das Unbehagen allein auf den Willen wirkt und ihn in seiner Wahl bestimmt, so finden wir, daß, da wir nur zu einer Willensbestimmung auf einmal zu einer Handlung fähig sind, das gegenwärtig empfundene Unbehagen den Willen naturgemäß um des Glückes willen bestimmt, was unser Ziel bei allen unseren Handlungen ist. Denn, während irgend ein Unbehagen uns drückt, können wir uns nicht für glücklich oder auf dem Wege zum Glücke begriffen halten, weil jedermann weiß und fühlt, daß Leid und Unbehagen mit Glück nicht zusammen bestehen können, indem sie auch den Genuß des in unserem Besitz befindlichen Guten verderben, und ein wenig Leid genügt um alles Vergnügen, woran wir uns erfreuten, zu trüben. Deshalb ist das, was selbstverständlich die Wahl der nächsten Handlung durch unsern Willen bestimmt, immer die Beseitigung des Leides, so lange ein solches noch vorhanden ist, als der erste und notwendige Schritt zum Glück.
§ 37. Weil das Unbehagen allein gegenwärtig ist. – Ein anderer Grund, weshalb allein das Unbehagen den Willen bestimmt, liegt darin, daß dieses allein gegenwärtig ist, und es gegen die Natur der Dinge läuft, daß etwas Abwesendes dort, wo es nicht ist, wirksam sein sollte. Man könnte sagen, daß ein abwesendes Gut durch Betrachtung in Gedanken dem Gemüte nahe gebracht und vergegenwärtigt werden könne. Die Idee desselben mag allerdings im Geiste sein und sich als daselbst gegenwärtig betrachten lassen, aber als ein gegenwärtiges Gut, welches der Beseitigung irgend eines uns drückenden Unbehagens das Gegengewicht halten könnte, wird nichts eher im Gemüte sein, als bis es unser Verlangen erregt, und dessen Unbehaglichkeit bei der Bestimmung des Willens das Übergewicht erlangt. Bis dahin ist im Geiste die Idee jedes möglichen Gutes nur wie andere Ideen ein Gegenstand bloßer unthätiger Spekulation, ohne auf den Willen einzuwirken und uns zur Thätigkeit anzuregen, wofür ich weiterhin den Grund angeben werde. Wie viele Menschen giebt es, welche die himmlischen Freuden, die ihrem Geiste lebhaft vorgeführt worden sind, als möglich und sogar als wahrscheinlich anerkennen, aber doch wohl damit zufrieden sein würden, ihre Glückseligkeit hienieden in Empfang zu nehmen! Und so bestimmt das vorherrschende Unbehagen ihrer hinter den Genüssen dieses Lebens losgelassenen Begierden wechselsweise ihren Willen, und die ganze Zeit über thun sie in der Richtung auf die guten Dinge eines künftigen Lebens nicht einen Schritt, lassen sich nicht um eines Haares Breite dort hinbewegen, für wie groß sie dieselben auch ansehen mögen.
§ 38. Weil nicht alle, welche die Möglichkeit himmlischer Freuden zugeben, nach ihnen streben. – Wenn der Wille durch den Anblick des Guten bestimmt würde, je nach dem es bei der Betrachtung dem Verstande größer oder kleiner erscheint, was bei allem abwesenden Guten der Fall ist, und worin nach der allgemein geteilten Ansicht das besteht, dem der Wille sich zuwendet, und was ihn anzieht, so sehe ich nicht ein, wie er jemals von den unendlichen ewigen Freuden des Himmels sich losmachen könnte, wenn die Aufmerksamkeit einmal auf dieselben hingelenkt ist, und sie als möglich betrachtet werden. Denn, da alles abwesende Gute, durch welches allein, wenn nur auf dasselbe hingewiesen worden, und es in den Gesichtskreis gebracht ist, der Wille bestimmt werden und uns in Thätigkeit setzen soll, nur möglich aber nicht unfehlbar gewiß ist, so muß unvermeidlich das unendlich größere mögliche Gut regelmäßig und beständig den Willen bei allen Handlungen bestimmen, zu denen er der Reihe nach den Anstoß giebt, und dann würden wir unsern Kurs auf den Himmel beständig und fest innehalten, ohne jemals still zu stehen oder unsere Handlungen auf irgend ein anderes Ziel zu richten, weil die ewige Dauer des künftigen Lebens die Erwartung von Reichtum, Ehre oder irgend einem anderen weltlichen Gut, das wir uns zum Ziele setzen könnten, unendlich überwiegen würde, wenn wir auch deren Erlangung als wahrscheinlicher betrachten müßten; denn nichts Zukünftiges ist schon ein sicherer Besitz, weshalb uns die Erwartung auch dieser täuschen kann. Wenn es richtig wäre, daß das größte sichtbare Gut den Willen bestimmte, so würde ein so großes Gut, einmal in Sicht gelangt, notwendig den Willen ergreifen und ihn auf der Fährte dieses unendlich größten Gutes festhalten, ohne ihn jemals wieder loszulassen; denn da der Wille die Gedanken so gut wie andre Handlungen beherrscht und lenkt, so würde er, wenn es sich so verhielte, die Betrachtung des Gemüts fest an jenes Gut gebunden halten.
Niemals aber wird irgend ein erhebliches Unbehagen vernachlässigt. – Dies würde der Gemütszustand und die regelmäßige Richtung des Willens in allen seinen Entschlüssen sein, wenn er durch das bestimmt würde, was als das größere Gut anerkannt und sichtbar wäre. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß es sich nicht so verhält, indem das zugestandenermaßen unendlich größte Gut oft vernachlässigt wird, um den wechselnden Unbehaglichkeiten unserer auf Kleinigkeiten gerichteten Begierden Genüge zu leisten. Aber, obgleich das größte, anerkannte, immerwährende, unaussprechliche Gut, welches mitunter das Gemüt bewegt und affiziert hat, den Willen nicht beständig festhält, so sehen wir doch, daß irgend ein sehr großes und vorherrschendes Unbehagen den Willen nicht losläßt, wenn es einmal Macht über ihn gewonnen hat, wodurch wir uns davon überzeugen können, was es ist, das den Willen bestimmt. So machen ein heftiger körperlicher Schmerz, die zügellose Leidenschaft eines sehr verliebten Menschen, oder das ungeduldige Verlangen nach Rache den Willen standhaft und aufmerksam, und der so bestimmte Wille duldet nimmermehr, daß der Verstand den Gegenstand beiseite lege, vielmehr werden alle Gedanken des Geistes und Kräfte des Körpers durch die Entschiedenheit des Willens unter dem Einfluß jenes obersten Unbehagens so lange, wie es dauert, ununterbrochen nach dem einen Ziele hin in Bewegung gesetzt, weshalb es mir einleuchtend zu sein scheint, daß der Wille oder die Kraft, welche uns zu einer gewissen Handlung vor allen anderen antreibt, in uns durch das Unbehagen bestimmt wird. Ich kann nur wünschen, daß jeder durch Selbstbeobachtung prüfen möge, ob das nicht der wahre Sachverhalt ist.
§ 39. Alles Unbehagen ist mit einem Verlangen verbunden. – Ich habe bisher hauptsächlich von der Unbehaglichkeit des Verlangens nachgewiesen, daß sie den Willen bestimmt, weil diese die wichtigste und fühlbarste ist, und der Wille selten eine Handlung hervorruft, oder eine willkürliche Handlung ausgeführt wird, ohne daß ein Verlangen sie begleitete, worin, wie ich glaube, der Grund davon liegt, daß Wille und Verlangen so oft verwechselt werden. Doch dürfen wir das Unbehagen, welches die meisten anderen Leidenschaften ausmacht oder wenigstens begleitet, nicht als ganz ausgeschlossen in dieser Sache ansehen. Abscheu, Furcht, Zorn, Neid, Scham etc. haben jede ebenfalls ihr Unbehagliches und dadurch Einfluß auf den Willen. Im praktischen Leben kommen diese Leidenschaften kaum jemals ganz unvermischt mit anderen, einfach und allein, vor, obgleich bei der Unterhaltung und Betrachtung die am stärksten wirkende und in dem jeweiligen Gemütszustand am meisten sichtbare den Namen herzugeben pflegt; ja ich glaube, man wird kaum jemals von den Leidenschaften eine finden, ohne daß mit ihr ein Verlangen verbunden wäre. Dessen bin ich gewiß: wo Unbehagen besteht, da ist auch Verlangen, denn uns verlangt beständig nach Glück, und so viel Unbehagen wir empfinden, ebensoviel fehlt uns sicherlich auch unserer eigenen Meinung nach am Glück, unsere Lage und Umstände mögen sonst sein, welche sie wollen. Überdies sehen wir, welche Freude wir auch genießen mögen, über den gegenwärtigen Augenblick hinaus, der nicht unsere Ewigkeit ist, und unserem Vorausblick folgt das Verlangen, welches den Willen nach sich zieht. So daß selbst bei der Freude das, was die Thätigkeit, wovon die Freude abhängt, im Gange erhält, das Verlangen nach ihrer Fortdauer und die Furcht vor ihrer Einbuße ist; und sobald, wie ein größeres Unbehagen im Gemüte Platz greift, wird der Wille dadurch auf der Stelle zu einer neuen Handlung bestimmt, und die gegenwärtige Freude vernachlässigt.
§ 40. Das drückendste Unbehagen bestimmt naturgemäß den Willen. – Da wir aber in dieser Welt von mancherlei Unbehagen belagert sind, und von verschiedenen Begierden hin und her gezogen werden, so ist natürlicherweise die nächste Frage, welches davon bei der Bestimmung des Willens zu der nächsten Handlung den Vorrang habe, und hierauf lautet die Antwort: für gewöhnlich dasjenige, welches von denen, die sich voraussichtlich beseitigen lassen, das drückendste ist. Denn, da der Wille die Kraft ist, die unsere Fähigkeit, zu wirken, auf eine bestimmte Handlung zu einem gewissen Zwecke richtet, so kann er niemals auf ein Ziel in Bewegung gesetzt werden, das zur Zeit für unerreichbar gilt; das hieße annehmen, ein intelligentes Wesen könne absichtlich, nur um sich vergebliche Mühe zu machen, für einen Zweck thätig werden; denn das wäre die Folge des Handelns für einen als unerreichbar erkannten Zweck, weshalb auch sehr große Unbehaglichkeiten den Willen nicht bewegen, wenn sie als unheilbar angesehen werden; in diesem Falle treiben sie uns nicht zu Bemühungen an. Hievon abgesehen bestimmt aber regelmäßig das bedeutendste und dringendste Unbehagen, was wir zur gegebenen Zeit fühlen, der Reihe nach den Willen in dem Zuge willkürlicher Handlungen, die unser Leben ausmachen. Das größte gegenwärtige Unbehagen ist der stets fühlbare Sporn zum Handeln, und bestimmt meistenteils den Willen bei dessen Wahl der nächsten Handlung. Denn dessen müssen wir eingedenk sein, daß der eigentümliche und alleinige Gegenstand des Willens eine von unseren Handlungen ist und nichts anderes; denn, da wir durch unser Wollen nichts als eine in unserer Macht stehende Handlung hervorbringen können, so findet auch hier der Wille seine Grenze und reicht nicht weiter.
§ 41. Alle verlangen nach Glück. – Wenn weiter gefragt wird, was das Verlangen anregt, so antworte ich: das Glück und dies allein. Glück und Unglück sind die Namen für zwei Gegensätze, deren äußerste Grenzen wir nicht kennen; diese sind, »was das Auge nicht gesehen, das Ohr nicht gehört, und das menschliche Herz nicht erfaßt und begriffen hat«. Von einigen Stufen beider aber haben wir sehr lebhafte Eindrücke, die durch verschiedene Beispiele einerseits von Lust und Freude, andererseits von Pein und Kummer auf uns gemacht sind, die ich der Kürze halber unter den Namen von Freude und Schmerz zusammenfassen will, indem es sowohl geistige wie leibliche Freuden und Schmerzen giebt, »bei ihm giebt es Fülle der Lust und beständige Freude«; oder richtiger gesagt, sie gehören alle dem Geiste an, obgleich einige im Geiste aus dem Denken, andere im Körper aus gewissen Modalitäten der Bewegung entstehen.
§ 42. Was Glück heißt. – In seiner vollen Größe ist demnach das Glück die höchste Freude, deren wir fähig sind, und Unglück der höchste Schmerz; und die niedrigste Stufe dessen, was Glück heißen kann, ist so viel Freiheit von allem Schmerz und so viel gegenwärtige Freude, wie mindestens zur Zufriedenheit erforderlich sind. Weil nun Freude und Schmerz in uns durch die Einwirkung gewisser Objekte auf unseren Geist oder auf unseren Körper hervorgebracht werden und zwar in verschiedenen Graden, so nennen wir das, was geeignet ist, Freude in uns hervorzubringen, gut und, was geeignet ist, Schmerz in uns hervorzubringen, übel, aus keinem anderen Grunde, als weil sie dazu geeignet sind, Freude und Schmerz in uns hervorzubringen, worin unser Glück und Unglück besteht. Obgleich ferner alles, was irgend welchen Grad von Freude hervorzubringen vermag, an und für sich gut ist, und alles, was irgend welchen Grad von Schmerz hervorzubringen vermag, übel: so kommt es doch häufig vor, daß wir es nicht so nennen, wenn es mit einem größeren seiner Art in Mitbewerbung tritt, weil, wenn sie miteinander konkurrieren, auch die Grade von Freude und Schmerz mit Recht einen Vorzug begründen. So daß wir bei richtiger Würdigung dessen, was wir gut und übel nennen, finden werden, daß der Unterschied gutenteils auf einer Vergleichung beruht, denn die Ursache für jeden geringeren Grad des Schmerzes hat ebensowohl wie die für jeden höheren Grad der Freude den Charakter des Guten, und vice versa.
§ 43. Welches Gut verlangt wird, und welches nicht. – Obgleich es dies ist, was gut und übel genannt wird, und alles Gute im allgemeinen das eigentümliche Objekt des Verlangens bildet, so erregt doch nicht notwendig jedes Gut, auch wenn es wahrgenommen und als Gut anerkannt wird, das Verlangen jedes einzelnen Menschen, sondern nur insofern und in dem Maße, als es für einen notwendigen Bestandteil von dessen Glück oder für die Ursache eines solchen angesehen wird. Alles andere Gute, wie groß es auch in Wahrheit oder dem Anschein nach sein mag, erregt bei dem kein Verlangen, der in ihm nicht die Quelle eines Teiles von dem Glücke erblickt, wobei er nach seiner gegenwärtigen Denkweise sich beruhigen kann; auf andere als gut anerkannte Dinge kann er ohne Verlangen hinblicken, sie links liegen lassen und ohne sie zufrieden sein. Niemand, denke ich, ist so stumpfsinnig zu leugnen, daß das Wissen Freude mache, und die sinnlichen Freuden haben zu viele Liebhaber, als daß sich in Frage stellen ließe, ob die Menschen für sie eingenommen seien oder nicht. Angenommen nun, ein Mann fände seine Befriedigung in sinnlichen Genüssen, ein anderer in der Freude am Wissen; dann wird, obgleich jeder von ihnen zugeben muß, daß das, wonach der andere strebt, viel Vergnügen mache, doch bei keinem von beiden ein Verlangen danach rege, weil keiner das, was den anderen erfreut, zu einem Bestandteil seines eigenen Glückes macht; vielmehr ist jeder zufrieden ohne das, was der andere genießt, und deshalb wird sein Wille nicht zu dessen Erstrebung bestimmt. Sobald jedoch Hunger und Durst den wißbegierigen Mann unbehaglich machen, so läßt er, dessen Wille niemals zur Aufsuchung von guten Speisen, pikanten Saucen, köstlichem Wein durch den darin bemerkten angenehmen Geschmack bestimmt worden, sich durch das Unbehagen von Hunger und Durst sofort zum Essen und Trinken jeder gesunden Nahrung, die ihm zur Hand ist, bestimmen, wenn auch vielleicht mit großer Gleichgültigkeit dagegen, worin sie bestehen mag. Und andererseits legt sich der Epikuräer auf das Studium, wenn Scham oder der Wunsch, sich seiner Geliebten zu empfehlen, ihm den Mangel irgend einer Art des Wissens unbehaglich machen. Wie ernstlich somit die Menschen es auch meinen, und wie ausdauernd sie nach Glück streben mögen, so können sie doch ein Gut, ein großes und anerkanntes Gut, klar vor Augen haben, ohne sich darum zu bekümmern, oder sich dadurch bewegen zu lassen, wenn sie glauben, ihr Glück ohne dessen Besitz vollständig erreichen zu können. Was dagegen den Schmerz anbetrifft, so erregt der stets ihr Interesse, sie können kein Unbehagen fühlen, ohne dadurch bewegt zu werden. Und deshalb, weil sie bei dem Mangel von allem und jedem, was sie für ihr Glück als notwendig ansehen, unbehaglich werden, beginnen sie ein Gut zu verlangen, sobald wie dasselbe zu ihrem Anteil des Glückes etwas beitragen zu können scheint.
§ 44. Warum das größte Glück nicht immer begehrt wird. – Soviel, denke ich, kann jeder an sich selbst und anderen beobachten, daß das größere sichtbare Gut das Verlangen der Menschen nicht immer im Verhältnis der Größe erregt, worin es erscheint, und die es anerkanntermaßen hat, während jede kleine Beschwerde uns in Bewegung bringt und zu dem Versuch antreibt, sie los zu werden. Der Grund davon erhellt aus der Natur unseres Glückes und Unglückes selbst. Jeder gegenwärtige Schmerz, worin er auch bestehen möge, macht einen Teil unseres gegenwärtigen Unglücks aus, während zu seiner Zeit jedes mangelnde Gut einen notwendigen Teil unseres gegenwärtigen Glückes ausmacht, noch auch sein Mangel einen Teil unseres Unglücks. Wenn das der Fall wäre, so würden wir beständig und unendlich unglücklich sein, weil es unendlich viele Abstufungen des Glückes giebt, die nicht in unserem Besitze sind. Nach Beseitigung jedes Unbehagens genügt deshalb eine mäßige Portion von Gutem, um die Menschen für die Gegenwart zufriedenzustellen, und einige wenige Grade von Freude in einer Reihenfolge gewöhnlicher Genüsse bilden ein Glück, worin sie ein Genüge finden können. Verhielte sich dies nicht so, so könnte es keinen Raum geben für die gleichgültigen und augenscheinlich wertlosen Thätigkeiten, wozu unser Wille sich so oft bestimmen läßt, und womit wir willkürlicherweise einen so großen Teil unseres Lebens vergeuden; eine Sorglosigkeit, die auf keine Weise mit einer beständigen Richtung des Willens oder Verlangens auf das größte wahrnehmbare Gut zusammen bestehen könnte. Um sich davon zu überzeugen, daß dies der Sachverhalt sei, brauchen, glaube ich, wenige Leute weit über ihre eigene Schwelle hinauszugehen. Freilich giebt es in diesem Leben nicht viele, deren Glück weit genug reicht, um ihnen eine beständige Folge mäßiger und gewöhnlicher Freuden ohne eine Beimischung von Unbehagen zu gewähren, und dennoch würden sie zufrieden sein, hier für immer zu verbleiben, obgleich sie nicht leugnen können, daß es möglicherweise nach diesem Leben einen Zustand ewig dauernder Freuden geben könne, die alles hier vorhandene Gute weit überträfen. Ja, sie müssen einsehen, daß die Möglichkeit hiervon größer ist, als die, das bißchen Ehre, Reichtum oder Vergnügen zu erlangen und zu behalten, wonach sie streben, und um derentwillen sie jenen ewigen Zustand vernachlässigen; dennoch aber, in voller Erkenntnis dieses Unterschiedes, überzeugt von der Möglichkeit eines vollkommenen, sicheren und dauernden Glückes in einem künftigen Leben und mit der klaren Einsicht, daß ein solches hienieden nicht zu finden ist, während sie ihr Glück auf die geringen Genüsse oder Zwecke dieses Lebens einschränken und die Freuden des Himmels nicht als einen notwendigen Bestandteil desselben ansehen, wird ihr Verlangen durch dieses augenscheinlich größere Gut nicht angeregt, und ihr Wille zu keiner Handlung um es zu erreichen, oder keinem Versuch hiezu bestimmt.
§ 45. Warum es den Willen nicht bewegt, wenn es nicht begehrt wird. – Die alltäglichen Bedürfnisse unseres Lebens füllen einen großen Teil desselben mit dem Unbehagen des Hungers und Durstes, der Hitze und Kälte, der Ermüdung durch Arbeit und der Schläfrigkeit etc. in beständigem Wechsel aus. Nehmen wir dazu, von zufälligen Beschädigungen abgesehen, alles eingebildete Unbehagen (wie die Gelüste nach Ehre, Macht, Reichtum etc.), welches durch Mode, Beispiel und Erziehung erworbene Sitten in uns befestigt haben, und tausend andere unregelmäßige Begierden, die uns durch Gewohnheit zur anderen Natur geworden sind, so werden wir finden, daß nur ein sehr kleiner Teil unseres Lebens von diesen Unbehaglichkeiten frei genug ist, um uns für die Anziehung des entfernteren abwesenden Guten empfänglich werden zu lassen. Wir sind selten gemächlich und frei genug von der Beunruhigung durch unsere natürlichen oder angenommenen Begierden, vielmehr nimmt eine ununterbrochene Folge von Unbehaglichkeiten aus dem von den natürlichen Bedürfnissen und den erworbenen Gewohnheiten aufgehäuften Vorrat wechselweise den Willen in Beschlag, und kaum ist eine Handlung abgemacht, wozu wir durch eine solche Willensbestimmung angetrieben worden, als auch schon ein anderes Unbehagen bereit ist, uns in Thätigkeit zu versetzen. Denn, da wir durch die Beseitigung gefühlter und gegenwärtig drückender Leiden aus dem Unglück herauskommen, und folglich damit den ersten Schritt thun, der zum Glücke führt, so wird das abwesende Gute, welches – obwohl bedacht, zugegeben und einleuchtend – doch als abwesend keinen Teil jenes Unglücks ausmacht, beiseite geschoben, um für die Entfernung jener gefühlten Unbehaglichkeiten freie Bahn zu schaffen, bis gehörige und wiederholte Betrachtung desselben es unserem Gemüte näher gebracht, einen Vorschmack davon gegeben, und in uns ein Verlangen danach erweckt hat, das, weil es anfängt, einen Teil unseres gegenwärtigen Unbehagens auszumachen, gleichen Anspruch mit den übrigen auf Befriedigung hat, und so nach Maßgabe seiner Größe und Schwere an seiner Stelle zur Bestimmung des Willens gelangt.
§ 46. Gehörige Erwägung erregt Verlangen. – Somit steht es in unserer Macht durch gehörige Überlegung und Prüfung eines vorgestellten Gutes unser Verlangen in einem richtigen Verhältnisse zu dem Werte desselben zu erregen, wodurch es zu seiner Zeit und an seinem Orte dazu gelangen mag, auf den Willen einzuwirken und erstrebt zu werden. Denn ein Gut, so einleuchtend und zugestandenermaßen groß es auch sein mag, berührt doch unsern Willen nicht, so lange es in unserem Gemüte kein Verlangen erregt, und uns seinen Mangel dadurch unbehaglich gemacht hat; wir befinden uns nicht innerhalb des Kreises seiner Wirksamkeit, indem unser Wille nur durch die uns gegenwärtigen Unbehaglichkeiten bestimmbar ist, die (so lange wir solche haben) immer einen Reiz ausüben, und auf der Stelle bereit sind, dem Wollen seine nächste Bestimmung zu geben, indem das Schwanken des Gemütes, wenn ein solches überhaupt stattfindet, sich nur darauf bezieht, welches Verlangen zuerst befriedigt, welches Unbehagen zuerst beseitigt werden soll. Daraus ergiebt sich, daß, so lange in unserem Gemüte noch irgend ein Unbehagen, irgend ein Verlangen übrigbleibt, für das Gute bloß als solches kein Raum gelassen ist, um an den Willen zu gelangen, oder ihn auf irgend eine Weise zu bestimmen. Weil, wie gesagt, der erste Schritt bei unseren Bestrebungen nach Glück darin besteht, ganz aus dem Bereich des Unglücks hinauszugelangen, und von diesem nichts mehr zu fühlen, so kann der Wille für nichts anderes Zeit übrighaben, bevor jedes uns fühlbare Unbehagen vollkommen beseitigt ist, und daß wir davon jemals in dieser Welt freikommen sollten, ist bei der Menge von Bedürfnissen und Begierden, womit wir in diesem unvollkommenen Zustande behaftet sind, wenig wahrscheinlich.
§ 47. Das Vermögen, die Verfolgung irgend eines Wunsches aufzuschieben, schafft für die Überlegung Raum. – Da eine große Anzahl von Unbehaglichkeiten beständig in unserem Innern einen Reiz ausübt, und den Willen zu bewegen sucht, so ist es, wie ich gesagt habe, natürlich, daß die größte und dringendste den Willen zu den nächsten Handlungen bestimmen müßte, und das thut sie auch meistens, jedoch nicht immer. Denn, da der Geist, wie die Erfahrung zeigt, in den meisten Fällen die Macht hat, die Vollziehung und Befriedigung einer jeden seiner Begehrungen aufzuschieben, und dies mit allen nacheinander zu thun, Diese Macht des menschlichen Geistes beruht auf dem, was nach der Anmerkung zu Kapitel X, § 10, den Unterschied des Menschen vom Tiere ausmacht, nämlich auf der Fähigkeit des ersteren, seinen Intellekt oder dessen sogen. Organ, sein großes Gehirn, willkürlich zu gebrauchen. Diese Willkür erstreckt sich auch auf die Einwirkungen, welche die im Bewußtsein auftretenden Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedanken als Motive auf den Willen auszuüben die Tendenz haben; der menschliche Wille kann sich dieser Einwirkungen in gewissem Maße erwehren, namentlich sie zeitweilig suspendieren, und nach Gegenmotiven, die latent im Gedächtnis ruhen möchten, suchen. Ja, es kann bei dem Menschen schon der bloße Wunsch, sich der Unabhängigkeit seines Wollens von einem sich darbietenden Motive zu vergewissern, zum entscheidenden Gegenmotive werden. Das Tier kann in diesem Sinne nicht deliberieren, es schwankt in seinem Entschlusse nur, wenn sich ihm in dem jeweilig als Wahrnehmung, Erinnerung etc. unmittelbar gegenwärtigen Inhalt seines Bewußtseins zwei nahezu gleich starke, aber entgegengesetzte Willensmotive darbieten. Die Fähigkeit zur Deliberation, worin Locke mit Recht die sogen. Willensfreiheit des Menschen setzt, führt aber auch bei diesem niemals zu einem motivlosen Wollen. so steht es ihm frei, ihre Gegenstände in Betracht zu ziehen, sie allseitig zu prüfen und gegeneinander abzuwägen. Hierin liegt die Freiheit des Menschen, und aus der Unterlassung ihres richtigen Gebrauches entsteht die ganze Mannigfaltigkeit von Mißgriffen, Irrtümern und Fehlern, worin wir bei unserer Lebensführung und unserm Streben nach Glück verfallen, indem wir unsern Willensentschluß übereilen, und uns zu früh, vor gehöriger Prüfung, auf das Handeln einlassen. Um dem vorzubeugen, haben wir die Kraft, die Verfolgung dieses oder jenes Verlangens zu suspendieren, wie jedermann täglich in sich selber erproben mag. Dies scheint mir die Quelle aller Freiheit zu sein, hierin scheint das zu bestehen, was man (meiner Meinung nach unpassenderweise) Willensfreiheit nennt. Denn während dieser Suspension eines Verlangens, bevor der Wille zum Handeln bestimmt und die (hierauf folgende) Handlung vollzogen wird, haben wir Gelegenheit, den guten oder bösen Charakter dessen, was wir zu thun im Begriff sind, zu prüfen, ins Auge zu fassen und zu beurteilen; und wenn wir nach gehöriger Prüfung unser Urteil gefällt haben, so haben wir unsere Pflicht erfüllt, haben alles gethan, was wir bei unserem Streben nach Glück thun können oder müssen, und es ist kein Mangel, sondern eine Vollkommenheit unserer Natur, wenn wir dem Endergebnis einer ehrlichen Untersuchung gemäß verlangen, wollen und handeln.
§ 48. Durch unser eigenes Urteil bestimmt werden, ist keine Schranke für die Freiheit. – Hierin liegt so wenig eine Beschränkung oder Verringerung der Freiheit, daß es vielmehr gerade deren Ausübung und Verwertung ausmacht; es ist keine Schmälerung, sondern der Endzweck und Gebrauch unserer Freiheit, und je weiter wir von einem solchen Bestimmtwerden entfernt sind, um so näher sind wir dem Elend und der Knechtschaft. Eine vollkommene Gleichgültigkeit im Gemüte, das durch unser letztes Urteil über die voraussichtlich guten oder bösen Folgen unserer Wahl nicht bestimmbar wäre, würde so wenig ein Gewinn und ein Vorzug für ein intelligentes Wesen sein, daß es vielmehr eine ebenso große Unvollkommenheit wäre, wie andererseits der Mangel einer Indifferenz zwischen dem Handeln und Nichthandeln, bis die Entscheidung des Willens erfolgt, eine solche sein würde. Ein Mann hat die Freiheit, seine Hand bis an seinen Kopf zu erheben, oder sie ruhig liegen zu lassen, beides ist ihm gleich gut möglich, und es wäre eine Unvollkommenheit an ihm, wenn ihm die Macht dazu fehlte, wenn ihm diese Indifferenz entzogen wäre. Aber es würde eine ebenso große Unvollkommenheit sein, wenn er dieselbe Gleichgültigkeit dagegen hätte, ob er die Erhebung seiner Hand oder ihr ruhiges Liegenbleiben vorziehen solle, falls er dadurch seinen Kopf oder seine Augen gegen einen voraussichtlichen Schlag schützen könnte; es ist ebensogut eine Vollkommenheit, daß das Verlangen oder das Vermögen etwas vorzuziehen durch das Gute bestimmt werde, als daß das Vermögen zu handeln durch den Willen bestimmt werde, und je gewisser dieses Bestimmtwerden ist, um so größer ist die Vollkommenheit. Ja, wenn wir durch irgend etwas anderes bestimmt würden als durch das Endergebnis, wozu unser eigener Geist gelangt, indem er die guten oder bösen Seiten einer Handlung beurteilt, dann wären wir nicht frei, weil der Endzweck unserer Freiheit gerade darin besteht, daß wir das von uns gewählte Gut erlangen. Und deshalb steht jeder vermöge seiner Natur als intelligentes Wesen unter der Notwendigkeit, in seinem Wollen durch seine eigenen Gedanken und sein Urteil zu dem bestimmt zu werden, was für ihn das Beste zu thun ist, sonst würde er der Bestimmung durch einen anderen als ihn selbst unterliegen, was ein Mangel an Freiheit wäre. Und leugnen, daß der Wille eines Menschen bei jedem Bestimmtwerden seinem eignen Urteil folge, heißt behaupten, daß sein Wollen und Handeln auf einen Endzweck gerichtet seien, den er zu eben der Zeit, wo er ihn will und demgemäß handelt, nicht erreichen wolle. Denn, wenn er ihn in seinem gegenwärtigen Denken jedem anderen vorzieht, so ist klar, daß er ihn jetzt höher schätzt und lieber erreichen will, als jeden anderen, es wäre denn, daß er ihn zu gleicher Zeit erreichen und nicht erreichen, wollen und nicht wollen könnte; ein offenbar unzulässiger Widerspruch!
§ 49. Die freiesten der handelnden Wesen sind auf solche Weise bestimmt. – Wenn wir auf jene höheren Wesen über uns hinblicken, die vollkommenes Glück genießen, so können wir mit Grund annehmen, daß sie bei ihrer Wahl des Guten fester bestimmt sind als wir, und doch haben wir keine Ursache, sie für weniger glücklich oder weniger frei zu halten als uns selbst. Und wenn es sich für solche arme endliche Geschöpfe, wie wir sind, geziemte, ein Urteil darüber auszusprechen, was die unendliche Weisheit und Güte thun könne, so denke ich dürften wir sagen, daß Gott selbst nicht wählen könne, was nicht gut sei; die Freiheit des Allmächtigen hindert nicht, daß er durch das, was am besten ist, bestimmt werde.
§ 50. Darin, daß wir beständig zum Streben nach Glück bestimmt sind, liegt keine Schmälerung der Freiheit. – Um aber diesen mißverstandenen Teil der Freiheit in das rechte Licht zu stellen, möchte ich fragen: würde wohl irgend jemand deshalb ein Dummkopf sein wollen, weil ein solcher weniger durch weise Überlegungen bestimmt wird, wie ein kluger Mann? Verdient es den Namen der Freiheit, daß es einem unbenommen ist, den Narren zu spielen, und sich selber Schande und Unglück zuzuziehen? Wenn die Freiheit darin besteht, sich der Leitung durch die Vernunft zu entziehen, und der Beschränkung durch Prüfung und Urteil entledigt zu sein, die uns davon abhält, das Schlimmere zu wählen oder zu thun, wenn das die wahre Freiheit ist, dann sind Tolle und Narren die einzigen freien Leute; allein ich glaube keiner, der nicht schon toll ist, wird um einer solchen Freiheit willen wünschen, toll zu werden. In dem beständigen Verlangen nach Glück und in der Notwendigkeit, die es uns auferlegt, um dessentwillen thätig zu werden, sieht, denke ich, niemand eine Schmälerung der Freiheit, oder wenigstens keine beklagenswerte. Der allmächtige Gott selbst muß notwendigerweise glücklich sein, und je mehr dies auch für ein intelligentes Wesen gilt, um so näher kommt es der unendlichen Vollkommenheit und Glückseligkeit. Damit wir kurzsichtigen Kreaturen uns in diesem Stande der Unwissenheit nicht über das wahre Glück irren, ist uns die Kraft verliehen, jedes besondere Verlangen zu suspendieren und davon abzuhalten, den Willen zu bestimmen und uns in Handlungen zu verwickeln. Das heißt stillstehen, wo wir über den Weg nicht hinlänglich sicher sind; überlegen heißt soviel wie einen Führer zu Rate ziehen. Wenn der Wille sich nach vorgängiger Untersuchung entscheidet, so folgt er der Anweisung des Führers, und in wessen Macht es steht, der Leitung einer solchen Entscheidung gemäß zu handeln oder nicht zu handeln, der ist ein mit Freiheit thätiges Wesen; ein solches Bestimmtwerden schmälert die Macht nicht, worin die Freiheit besteht. Wenn jemandem seine Fesseln abgenommen, und die Gefängnispforten geöffnet werden, so ist er vollkommen in Freiheit gesetzt, weil er entweder fortgehen oder bleiben kann, wie es ihm am besten gefällt, obgleich er wegen der Dunkelheit der Nacht, oder schlechten Wetters, oder des Mangels einer anderen Unterkunft sich bestimmt fühlen mag, das Bleiben vorzuziehen. Er hört nicht auf, frei zu sein, obgleich das Verlangen nach einer dort zu habenden Bequemlichkeit seine Wahl schlechthin bestimmt, und ihn veranlaßt, in seinem Gefängnisse zu bleiben.
§ 51. Die Notwendigkeit, nach wahrem Glück zu streben, ist die Grundlage der Freiheit. – Wie deshalb die höchste Vollkommenheit der intellektuellen Natur in einem sorgfältigen und unablässigen Streben nach wahrem und dauerhaftem Glück liegt, so ist die Sorgfalt, womit wir uns selbst davor hüten, nicht ein eingebildetes Glück für das wirkliche zu halten, die notwendige Grundlage unserer Freiheit. Je fester wir an das unveränderliche Streben nach Glück im allgemeinen gebunden sind, was unser größtes Gut ist, und worauf als solches unsere Wünsche beständig gerichtet sind, um so freier sind wir von irgend welchem notwendigen Bestimmtwerden unseres Willens zu einer einzelnen Handlung, und von einer notwendigen Nachgiebigkeit gegen unser auf ein einzelnes Gut, was augenblicklich den Vorzug zu verdienen scheint, gerichtetes Verlangen, bis wir hinlänglich geprüft haben, ob es zu unserm wirklichen Glücke beitragen kann, oder damit unvereinbar ist; und deshalb sind wir so lange, bis wir aus dieser Untersuchung so viel Aufklärung gewonnen haben, wie das Gewicht der Sache und die Natur des Falles erfordern, durch die Notwendigkeit, das wahre Glück als unser größtes Gut vorzuziehen und zu erstreben, gezwungen, die Befriedigung unserer Begierden in einzelnen Fällen aufzuschieben.
§ 52. Weshalb sie das ist. – Dies ist der Angelpunkt, worauf sich die Freiheit intellektueller Wesen bei ihrem unausgesetzten Bemühen und beständigen Streben nach wahrem Glücke dreht, daß sie dieses Bestreben in den einzelnen Fällen so lange suspendieren können, bis sie sich umgesehen und darüber unterrichtet haben, ob das besondere Ding, welches augenblicklich vorgestellt oder begehrt wird, auf dem Wege zu ihrem Hauptziele liegt, und wirklich einen Teil von dem ausmacht, worin ihr größtes Gut besteht; denn die Neigung und das Streben ihrer Natur zum Glücke ist eine Nötigung und ein Beweggrund für sie, sich vor Irrtümern darüber oder seinem Verfehlen zu hüten, und veranlaßt sie somit notwendig zur Vorsicht, Überlegung und Sorgfalt bei der Leitung ihrer einzelnen Handlungen, die das Mittel zu seiner Erreichung bilden. Jede Notwendigkeit, die uns bestimmt, nach wahrer Glückseligkeit zu streben, eben dieselbe veranlaßt mit gleicher Kraft Aufschub, Überlegung und Untersuchung eines jeden der aufeinander folgenden Wünsche, ob nicht seine Befriedigung unser wahres Glück beeinträchtigen und uns von dem Wege dazu ableiten werde. Hierin scheint mir das große Vorrecht der endlichen intellektuellen Wesen zu bestehen, und ich wünschte, es würde wohl erwogen, ob nicht die Hauptquelle und die Betätigung aller Freiheit, die die Menschen besitzen, deren sie fähig sind, und die ihnen von Nutzen sein kann, und das, wovon der Gang ihrer Handlungen abhängt, darin zu finden ist, daß sie ihre Begehrungen suspendieren und sie an der Bestimmung ihres Willens zu irgend einer Handlung so lange verhindern können, bis sie die guten und bösen Folgen derselben hinlänglich und redlich in dem Maße geprüft haben, wie das Gewicht der Sache es erforderlich macht. Dazu sind wir imstande, und wenn wir dies gethan haben, so haben wir unsere Pflicht erfüllt, und alles gethan, was in unserer Macht steht, wie auch in der That alles, was nötig ist. Denn da der Wille ein Wissen voraussetzt, um seine Wahl zu lenken, und wir nicht mehr thun können, als unseren Willen unentschieden zu erhalten, bis wir das Gute und Üble in unserem Begehren geprüft haben, so erfolgt alles, was weiterhin geschieht, in einer Kette von aneinander geknüpften Konsequenzen, die alle von der letzten Entscheidung unseres Urteils abhängen, und es steht in unserer Macht, ob diese auf einen hastigen und eilfertigen Überblick oder auf eine gehörige und reifliche Prüfung hin eintreten soll, da die Erfahrung uns zeigt, daß wir in den meisten Fällen die sofortige Befriedigung irgend eines Verlangens aufzuschieben imstande sind.
§ 53. Die Beherrschung unserer Leidenschaften ist der wahre Fortschritt in der Freiheit. – Wenn aber (wie das zuweilen vorkommt) eine ungewöhnlich starke Aufregung unser ganzes Gemüt ergreift, z. ,B. wenn der Schmerz der Folter, ein stürmisches Unbehagen wie aus Liebe, Zorn, oder irgend einer anderen heftigen Leidenschaft, die mit uns durchgeht, uns keine Freiheit der Überlegung gestattet, und wir über unsern eignen Geist nicht Herrschaft genug besitzen, um gründlich zu erwägen und unparteiisch zu prüfen, so wird Gott, der unsere Gebrechlichkeit kennt, mit unserer Schwäche Mitleid hat, und von uns nicht mehr verlangt, als in unseren Kräften steht, und sieht, was wir vermochten und was nicht, wie ein gütiger und barmherziger Vater urteilen. Da jedoch die rechte Führung unseres Lebenswandels zum wahren Glücke davon abhängt, daß wir es vermeiden, unsern Wünschen zu rasch nachzugeben, und unsere Leidenschaften mäßigen und im Zügel halten, so daß unser Verstand frei prüfen, und die Vernunft unbefangen ihr Urteil abgeben könne, so sollten wir dies zu dem hauptsächlichsten Gegenstande unserer Sorge und Anstrengung machen. Hiebei sollten wir uns Mühe geben, den Geschmack unseres Gemütes dem wahren inneren Wert oder Unwert der Dinge anzupassen, und nichts, was ein großes und schwer wiegendes Gut anerkanntermaßen ist, oder vielleicht sein mag, unsern Gedanken entfallen lassen, ohne daß ein Geschmack dafür, ein Verlangen danach zurückbliebe, bis wir durch gehörige Erwägung seines wahren Wertes in unserem Gemüt ein dementsprechendes Verlangen erweckt haben, und uns der Mangel seines Besitzes oder die Furcht seines Verlustes unbehaglich geworden sind. Und wie weit dies in eines jeden Macht steht, kann jeder leicht erproben, indem er für sich selbst Beschlüsse solcher Art faßt, daß er sie innehalten kann. Auch möge niemand sagen, daß er seine Leidenschaften nicht beherrschen und sie nicht daran hindern könne, auszubrechen und ihn zur That fortzutreiben, denn, was er vor einem Fürsten oder einer hochgestellten Person thun kann, das kann er auch, wenn er nur will, für sich allein oder in der Gegenwart Gottes.
§ 54. Wie es zugeht, daß die Menschen verschiedene Wege einschlagen. – Aus dem Gesagten ist es leicht, Auskunft darüber zu erteilen, wie es zugeht, daß der Wille der Menschen, obgleich alle nach Glück verlangen, sie nach so entgegengesetzten Richtungen hin führt, und folglich einige von ihnen zu dem, was übel ist. Und hierüber sage ich, daß aus der Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit dessen, was die Menschen in dieser Welt wählen, nicht folgt, daß sie nicht alle nach dem Guten strebten, sondern daß dieselbe Sache nicht für jedermann gleichmäßig gut ist. Diese Mannigfaltigkeit der Bestrebungen zeigt, daß nicht jedermann sein Glück in dieselbe Sache setzt, oder denselben Weg dazu einschlägt. Wenn alle Interessen des Menschen auf dieses Leben beschränkt wären, dann würde der Grund dafür, weshalb der eine dem Studium und der Wissenschaft, der andere der Falkenbeize und der Hetzjagd obläge, weshalb der eine Luxus und Ausschweifung, der andere Mäßigkeit und Wohlhabenheit vorzöge, nicht darin liegen, daß nicht jeder von ihnen sein eigenes Glück im Auge hätte, sondern darin, daß sie ihr Glück in verschiedene Dinge setzten. Und somit war es eine richtige Antwort, die der Arzt seinem Patienten mit schlimmen Augen gab: »wenn Sie mehr Vergnügen an dem Geschmack des Weines finden als an dem Gebrauch Ihres Gesichts, dann ist der Wein gut für Sie; ist aber das Vergnügen des Sehens für Sie größer als das des Trinkens, dann taugt der Wein nichts.«
§ 55. Es giebt einen verschiedenen Geschmack für das Gemüt sowohl wie für den Gaumen, und der Versuch, alle Menschen durch Reichtum oder Ruhm (worin doch manche ihr Glück setzen) zu erfreuen, würde ebenso vergeblich sein wie der, den Hunger aller Menschen mit Käse oder Hummern zu stillen, die zwar für manche eine sehr angenehme und köstliche Speise abgeben, für andere dagegen äußerst ekelhaft und widerlich sind; und viele Leute würden mit gutem Grunde das Kneifen eines hungrigen Magens solchen Gerichten vorziehen, die ein Festschmaus für andere sind. Daher kam es, denke ich, daß die Philosophen des Altertums vergebens untersuchten, ob das summum bonum in Reichtümern oder in sinnlichen Genüssen, oder in der Tugend, oder im Nachdenken bestehe. Und es wäre ebenso vernünftig gewesen, wenn sie darüber disputiert hätten, ob Äpfel, Pflaumen oder Nüsse am besten schmeckten, und sich nach ihrem Urteil hierüber in Schulen geteilt hätten. Denn, wie die Annehmlichkeit von Geschmacksempfindungen nicht auf den Dingen selbst beruht, sondern darauf, daß sie diesem oder jenem besonderen Gaumen zusagen, wobei große Mannigfaltigkeit besteht, so liegt das größte Glück in dem Besitz solcher Dinge, die am meisten Vergnügen machen, und in der Abwesenheit solcher, die irgendwie Unruhe oder Schmerz verursachen. Das aber sind für verschiedene Leute sehr verschiedene Dinge. Wenn die Menschen also nur in diesem Leben auf etwas hoffen, nur in diesem Leben etwas genießen können, so ist es nicht seltsam oder unvernünftig, daß sie ihr Glück zu erreichen suchen, indem sie alle Dinge vermeiden, die ihnen hier Unbehagen verursachen, und alle erstreben, die ihnen Vergnügen machen; und es ist nicht zu verwundern, wenn sich dabei Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit ergiebt. Denn, wenn es keine Aussicht über das Grab hinaus giebt, so ist der Schluß gewiß richtig: »laßt uns essen und trinken«, laßt uns genießen, was uns erfreut, »denn morgen sind wir tot«. Dies, meine ich, kann dazu dienen, uns den Grund zu zeigen, weshalb die Wünsche der Menschen, obgleich sie alle auf das Glück gerichtet sind, doch nicht von demselben Gegenstande angezogen werden. Die Menschen mögen verschiedene Dinge wählen und doch alle eine richtige Wahl treffen, wenn wir sie nur wie eine Schar armer Insekten betrachten, wovon einige Bienen sind, die sich an Blumen und deren Süßigkeit erfreuen, andere Mistkäfer, die sich an anderen Speisearten erquicken, und die, nachdem sie den Genuß hievon einen Sommer über gehabt haben, ihr Dasein beschließen und für immer aufhören zu existieren.
§ 56. Wie die Menschen dazu kommen, schlecht zu wählen. – Wohl erwogen, werden uns diese Dinge, glaube ich, einen klaren Einblick in den Stand der menschlichen Freiheit gewähren. Klar ist, daß die Freiheit in einer Macht besteht, etwas zu thun oder nicht zu thun, zu handeln oder das Handeln zu unterlassen, je nachdem wir wollen. Das läßt sich nicht leugnen. Weil dies aber nur die Handlungen eines Menschen zu betreffen scheint, die auf sein Wollen erfolgen, so wird weiter gefragt: »ob er die Freiheit habe, zu wollen oder nicht zu wollen?« Und hierauf haben wir geantwortet, daß er in den meisten Fällen nicht die Freiheit habe, jedes Wollen zu unterlassen, er muß einen Willensakt ausüben, wodurch die vorgestellte Handlung ausgeführt wird oder unvollzogen bleibt. Gleichwohl giebt es einen Fall, worin der Mensch hinsichtlich des Wollens Freiheit hat, nämlich bei der Wahl eines noch fernliegenden Gutes als eines zu verfolgenden Endzwecks. Hier kann er den Akt seiner Wahl, wobei er für oder gegen die vorgestellte Sache bestimmt wird, so lange aufschieben, bis er geprüft hat, ob sie wirklich an sich und durch ihre Folgen von der Beschaffenheit ist, daß sie ihn glücklich machen werde oder nicht. Denn, wenn er sie einmal gewählt hat, und sie dadurch ein Teil seines Glückes geworden ist, so erregt sie Verlangen, und das verursacht ihm ein seiner Stärke entsprechendes Unbehagen, wodurch sein Wille bestimmt und er dazu angetrieben wird, bei jeder sich darbietenden Gelegenheit den Gegenstand seiner Wahl thatsächlich zu erstreben. Und hier können wir einsehen, wie es zugeht, daß jemand mit Recht in Strafe verfallen mag, obgleich es gewiß ist, daß bei allen einzelnen von ihm gewollten Handlungen sein Wille auf das gerichtet ist und notwendig gerichtet sein muß, was er jederzeit für gut hält. Denn, obgleich sein Wille immer durch das bestimmt wird, was nach dem Urteil seines Verstandes gut ist, so entschuldigt ihn dies doch nicht, weil er durch eine übereilte, aus eigenem Antrieb vollzogene Wahl sich selbst falsche Maßstäbe für gut und schlecht aufgedrängt hat, die, so falsch und trügerisch sie auch sein mögen, doch auf sein ganzes künftiges Verhalten denselben Einfluß äußern, als wenn sie die wahren und richtigen wären. Er hat seinen eigenen Gaumen verdorben und trägt selbst die Verantwortung dafür, wenn Krankheit und Tod darauf folgen. Das ewige Gesetz und die Natur der Dinge dürfen keine Abänderung erleiden, um seiner schlecht geleiteten Wahl zu entsprechen. Wenn die Vernachlässigung oder der Mißbrauch der ihm vergönnten Freiheit, zu prüfen, was thatsächlich und wahrhaft zu seinem Glück beitragen könne, ihn irre führt, so sind die daraus sich ergebenden üblen Folgen seiner eigenen Wahl zuzuschreiben. Er hatte die Macht, seine Entscheidung aufzuschieben; sie war ihm gegeben, damit er prüfen, für sein eigenes Glück Sorge tragen, und sich vor Täuschungen hüten möge. Und in einer Sache von so großem und naheliegendem Interesse konnte er niemals das Urteil fällen, daß es besser sei, getäuscht als nicht getäuscht zu werden.
Aus dem Gesagten wird uns auch der Grund davon erkennbar, weshalb die Menschen in dieser Welt verschiedene Dinge vorziehen, und das Glück auf entgegengesetzten Wegen zu erreichen suchen. Weil jedoch die Menschen da, wo es sich um Glück und Unglück handelt, immer beharrlich sind und es ernsthaft meinen, so bleibt noch die Frage übrig, wie sie oft dazu kommen, das Schlechtere dem Besseren vorzuziehen und das zu wählen, was sie ihrem eigenen Geständnis zufolge unglücklich gemacht hat?
§ 57. Um uns die mannigfachen und entgegengesetzten Wege zu erklären, die von den Menschen eingeschlagen werden, obwohl das Ziel aller ist, glücklich zu sein, müssen wir den Ursprung der verschiedenen Arten des Unbehagens in Betracht ziehen, die den Willen bei dem Vorzug jeder willkürlichen Handlung bestimmen.
1. Aus körperlichem Leiden. – Einige davon entspringen aus Ursachen, die nicht in unserer Macht stehen, wozu häufig die körperlichen Schmerzen aus Mangel, Krankheit oder äußeren Verletzungen wie durch die Folter etc. gehören, die, wenn sie gegenwärtig und heftig sind, meistens gewaltsam auf den Willen einwirken, und den Lebenslauf der Menschen von Tugend, Frömmigkeit und Religion und allem, was sie früher als einen Weg zum Glücke ansahen, ablenken, indem keiner den Versuch macht, oder aus Mangel an Übung keiner imstande ist, durch die Betrachtung eines entfernten und zukünftigen Gutes in sich ein Verlangen danach zu erregen, was stark genug wäre, das von ihm bei jenen körperlichen Qualen empfundene Unbehagen aufzuwiegen, und seinen Willen standhaft bei der Wahl solcher Handlungen zu erhalten, die zu künftiger Glückseligkeit hinleiten. Ein benachbartes Land ist vor kurzem ein tragischer Schauplatz gewesen, von dem wir Beispiele hernehmen könnten, wenn es deren noch bedürfte, und die Welt nicht in allen Ländern und zu allen Zeiten Belege genug zur Bestätigung der landläufigen Bemerkung: necessitas cogit ad turpia darböte, so daß wir vielen Grund zu der Bitte haben: »führe uns nicht in Versuchung.«
2. Aus verkehrten Begierden, die aus falschen Urteilen entspringen. – Andere Arten des Unbehagens entspringen aus unserem Verlangen nach einem abwesenden Gute, welches Verlangen stets von dem Urteil, das wir darüber fällen, und dem Geschmack, den wir dafür haben, abhängt und im Verhältnis zu diesen steht, während wir geneigt sind, in beiden auf verschiedene Art und zwar durch unsere eigene Schuld mißleitet zu werden.
§ 58. Unser Urteil über ein gegenwärtiges Gut oder Übel ist immer richtig. – An erster Stelle will ich die von den Menschen über ein künftiges Gut oder Übel gefällten falschen Urteile in Betracht ziehen, wodurch ihre Begierden verleitet werden. Denn, was das gegenwärtige Glück oder Unglück anbelangt, so trifft, wenn dies allein in Betracht kommt, und alle Folgen außenvor bleiben, niemals jemand eine unrechte Wahl; er weiß, was ihm am besten gefällt, und das zieht er thatsächlich vor. In ihrem gegenwärtigen Genuß sind die Dinge, was sie zu sein scheinen; das scheinbare und das wirkliche Gut sind in diesem Falle immer eins und dasselbe. Denn da der Schmerz oder die Freude gerade so groß sind, wie sie gefühlt werden, und nicht größer, so ist das gegenwärtige Gut oder Übel thatsächlich so groß, wie es zu sein scheint. Wäre deshalb jede unserer Handlungen in ihr selbst abgeschlossen, und zöge keine Folgen nach sich, so würden wir uns zweifellos bei unserer Wahl des Guten niemals irren, wir würden stets unfehlbar das Beste vorziehen. Wenn die Beschwerden eines ehrlichen Fleißes und des Verhungerns und Erfrierens uns zusammen vor die Augen gestellt wären, so würde niemand zweifeln, welche er zu wählen habe; wenn die Befriedigung einer Lust und die Freuden des Himmels jemandem gleichzeitig als gegenwärtiger Besitz dargeboten wären, so würde er bei seiner Wahlentscheidung nicht schwanken oder irren.
§ 59. Weil aber unsere willkürlichen Handlungen nicht alles Glück und Unglück, was von ihnen abhängt, unmittelbar bei ihrer Vollziehung mit sich führen, sondern die voraufgehenden Ursachen von Gutem und Üblem sind, was sie nach sich ziehen und uns zuführen, wenn sie selbst vergangen sind und aufgehört haben da zu sein: so blicken unsere Wünsche über unsere gegenwärtigen Genüsse hinaus, und leiten das Gemüt weiter auf das abwesende Gute hin gemäß dem Grade, in dem wir es für notwendig halten, um unser Glück zu begründen oder zu vermehren. Unsere Meinung von dieser Notwendigkeit ist es, die ihm seine Anziehungskraft giebt; ohne sie werden wir durch ein abwesendes Gut nicht bewegt. Denn bei dem beschränkten Maß von Empfänglichkeit, woran wir hier gewöhnt, und dessen wir uns nur bewußt sind, was uns den Genuß von nicht mehr als einer Freude zur Zeit gestattet, die, wenn alles Unbehagen beseitigt ist, so lange sie dauert, genügt, uns glauben zu machen, daß wir glücklich seien, wirkt nicht jedes entfernte Gut auf uns ein, selbst wenn es augenscheinlich ist, weil wir, da die gegenwärtige Schmerzlosigkeit und Freude für unser augenblickliches Glück genügen, keinen Wechsel zu riskieren wünschen, indem wir wegen unserer Zufriedenheit denken, daß wir schon glücklich seien, und das genug ist; denn wer zufrieden ist, der ist glücklich. Sobald aber, wie irgend ein neues Unbehagen sich einstellt, ist dieses Glück gestört, und wir werden von neuem auf der Jagd nach Glück in Thätigkeit gesetzt.
§ 60. Aus einem falschen Urteil darüber, was einen notwendigen Teil ihres Glückes ausmache. – Ihre Geneigtheit zu dem Schlusse, daß sie ohnedem glücklich sein könnten, ist deshalb eine Hauptursache dafür, daß die Menschen zu dem Verlangen des größten abwesenden Gutes nicht angeregt werden. Denn, während sie von diesem Gedanken beherrscht werden, bringen die Freuden eines künftigen Zustandes sie nicht in Bewegung, sie kümmern sich wenig darum, und machen sich deshalb keine Sorge, und der von solchen Wünschen nicht bestimmte Wille beschränkt sich auf die Verfolgung näherliegender Genüsse und die Beseitigung des Unbehagens, was er wegen des Mangels dieser und des Verlangens nach ihnen empfindet. Man verändere jedoch die Ansichten eines Menschen über diese Dinge, man lasse ihn einsehen, daß Tugend und Religion zu seinem Glücke notwendig sind, man verschaffe ihm einen Blick in den künftigen Zustand der Seligkeit oder Verdammnis, und lasse ihn dort Gott sehen als den gerechten Richter, der bereit ist, »jedem das zu geben, was seinen Thaten entspricht, denen, die durch geduldiges Verharren in gutem Wandel nach Ruhm, Ehre und Unsterblichkeit streben, ewiges Leben, dagegen jeder Seele, die Böses thut, Zorn und Grimm, Qual und Angst«: dann, sage ich, werden für den, dem sich die Aussicht auf den verschiedenen Zustand vollkommenen Glückes oder Elends eröffnet hat, der alle Menschen nach diesem Leben erwartet, und von ihrem Betragen hier abhängt, die Maßstäbe für gut und übel, die seine Wahl lenken, gewaltig verändert. Denn, da nichts von den Freuden und Leiden dieses Lebens sich mit der ewigen Seligkeit oder dem maßlosen Elend einer unsterblichen Seele hernach irgendwie in Vergleich stellen läßt, so wird den in seiner Macht stehenden Handlungen ihr Vorzug nicht mehr gemäß den vergänglichen Freuden oder Leiden zu teil werden, die sie hier begleiten oder ihnen nachfolgen, sondern je nachdem sie dazu dienen, jenes vollkommen dauerhafte Glück hernach sicherzustellen.
§ 61. Eine genauere Auskunft über falsche Urteile. – Um aber über das Elend, das die Menschen ungeachtet des ernstlichen Strebens aller nach Glück oft auf sich ziehen, genauere Auskunft zu geben, müssen wir erwägen, wie es zugeht, daß sich die Dinge unserem Begehren unter allerhand täuschendem Anschein darstellen, und das geschieht, weil unser Urteil sich verkehrt über sie ausspricht. Um zu erkennen, wie weit sich dies erstreckt, und was die falschen Urteile verursacht, müssen wir bedenken, daß die Dinge in einem doppelten Sinne für gut oder schlecht erklärt werden.
1. Im eigentlichen Sinne gut oder schlecht sind einzig und allein Freude oder Schmerz.
2. Weil aber nicht nur gegenwärtige Freuden und Schmerzen, sondern auch alles, was durch seine Wirksamkeit oder seine Folgen uns solche späterhin zuziehen kann, ein geeignetes Objekt für unsere Wünsche bildet, und ein mit Voraussicht begabtes Wesen zu bewegen vermag, deshalb werden auch Dinge, die Freude und Schmerz nach sich ziehen, als gut und übel betrachtet.
§ 62. Das verkehrte Urteil, welches uns irreführt, und den Willen oft nach der schlimmeren Seite greifen läßt, besteht in einem falschen Bericht über die mancherlei Vergleichungen jener Dinge. Das verkehrte Urteil, von dem ich hier rede, ist nicht die Meinung, die der eine über den Entschluß eines anderen haben mag, sondern das, dessen Verkehrtheit jeder selbst einräumen muß. Denn, da ich es als ausgemacht betrachte, daß jedes intelligente Wesen thatsächlich nach seinem Glücke strebt, was in dem Genuß von Freude ohne irgendwie beträchtliche Beimischung von Unbehagen besteht, so ist es nur durch ein verkehrtes Urteil möglich, daß jemand freiwillig in seinen eigenen Trank eine bittere Zuthat setzen, oder etwas in seiner Macht Stehendes unterlassen sollte, was zu seiner Befriedigung und zur Vervollständigung seines Glückes gereichen würde. Ich will hier von keinem solchen Mißgriff reden, der die Folge eines unvermeidlichen, den Namen eines falschen Urteils kaum verdienenden Irrtums ist, sondern von einem derartig verkehrten Urteil, daß jeder selbst es dafür erkennen muß.
§ 63. Beim Vergleich des Gegenwärtigen und Zukünftigen. – Wenn demnach, wie gesagt worden, bei gegenwärtigen Freuden und Schmerzen das Gemüt sich niemals darüber irrt, was wirklich gut oder übel ist, so ist auch die größere Freude oder der größere Schmerz thatsächlich gerade so, wie er erscheint. Obgleich aber gegenwärtige Freuden und Leiden ihren Unterschied und ihre Abstufungen so deutlich zeigen, daß für einen Irrtum kein Raum übrigbleibt, so fällen wir doch, wenn wir gegenwärtige Freuden oder Leiden mit künftigen vergleichen (was bei den wichtigsten Willensentscheidungen gewöhnlich der Fall ist), über sie oft verkehrte Urteile, indem wir sie von Stellungen in verschiedener Entfernung aus abmessen. Objekte, die unserm Auge nahe sind, werden leicht für größer gehalten als andere von größerem Umfange, die sich in weiterer Entfernung befinden, und ebenso verhält es sich mit Freuden und Leiden; das Gegenwärtige bekommt leicht die Oberhand und alles Entferntere befindet sich bei der Vergleichung im Nachteil. So sind die meisten Menschen wie verschwenderische Erben geneigt, ein Weniges in der Hand für besser zu halten als die Aussicht auf eine große Summe, und verzichten deshalb gegen den Besitz geringfügiger Dinge auf den Anfall von viel bedeutenderen. Daß dies ein falsches Urteil ist, muß jedermann zugeben, sein Vergnügen möge bestehen, worin es wolle, weil das Zukünftige sicher gegenwärtig werden, und sich dann, wenn ihm der Vorteil der Nähe ebenfalls zukommt, in seiner vollen Größe zeigen, und den selbst verschuldeten Irrtum dessen aufdecken wird, der es nach ungleichem Maßstabe beurteilte. Wäre das Vergnügen des Trinkens in demselben Augenblick, worin jemand sein Glas absetzt, von dem kranken Magen und dem schmerzenden Kopfe begleitet, die bei manchen Leuten wenige Stunden hernach sicher folgen, so glaube ich, würde niemand, so viel Freude ihm seine Becher auch machen mögen, unter diesen Bedingungen jemals Wein seine Lippen berühren lassen, den er gleichwohl täglich verschluckt, indem die schlimme Seite nur wegen der Täuschung durch einen kleinen Zeitunterschied gewählt wird. Wenn aber Freude oder Schmerz durch einen Abstand von nur wenigen Stunden so vermindert werden können, wie viel mehr wird das durch eine größere Entfernung für jemanden geschehen, der nicht durch ein richtiges Urteil das thun will, was die Zeit bewirkt, nämlich sich das Entfernte nahe bringen, es als gegenwärtig betrachten, und so seine wahre Größe ermessen. Dies ist der Weg auf dem wir uns mit Rücksicht auf Freude und Schmerz überhaupt oder auf die wahren Grade des Glückes oder Elends gewöhnlich selbst täuschen; das Zukünftige verliert sein rechtes Verhältnis, und das Gegenwärtige erlangt den Vorzug als das Größere. Ich gedenke hier nicht des verkehrten Urteils, wobei das Abwesende nicht bloß verkleinert, sondern völlig auf nichts zurückgeführt wird; wenn die Menschen genießen, was sie augenblicklich genießen können, und sich dessen versichern in der falschen Voraussetzung, daß sich nichts Übles daraus ergeben werde. Denn das besteht nicht in einer Vergleichung der Größe von zukünftigem Guten und Üblen, worüber wir hier reden, sondern in einer anderen Art von verkehrtem Urteilen, was sich auf das Gute und Üble bezieht, insofern es als die Ursache und Veranlassung von Freude oder Leid betrachtet wird, die sich aus ihm ergeben werden.
§ 64. Die Ursache davon. – Die Ursache davon, daß wir falsch urteilen, wenn wir unsere gegenwärtigen Freuden und Leiden mit zukünftigen vergleichen, scheint mir in der schwachen und beschränkten Konstitution unseres Gemütes zu liegen. Wir können nicht gut zwei Freuden zu gleicher Zeit genießen, geschweige denn überhaupt irgend ein Vergnügen, während wir mit Schmerz beladen sind. Die gegenwärtige Freude, wenn sie nicht sehr matt und fast gleich Null ist, erfüllt unsere beschränkten Seelen, und nimmt das ganze Gemüt dergestalt ein, daß sie kaum irgend einen Gedanken an abwesende Dinge darin verbleiben läßt; oder, wenn es unter unseren Freuden noch einige giebt, die nicht stark genug sind, die Erwägung entfernter Dinge auszuschließen, so haben wir doch vor dem Schmerz einen so großen Abscheu, daß ein bißchen davon alle unsere Freuden auslöscht; ein wenig Bitterkeit in unseren Becher eingemischt läßt keinen Geschmack des Süßen übrig. Daher kommt es, daß wir um jeden Preis das gegenwärtige Übel los zu werden wünschen, dem – wie wir zu glauben geneigt sind – nichts Abwesendes gleich kommen kann, weil wir unter dem Druck des gegenwärtigen Übels uns auch nicht für den geringsten Grad von Glück empfänglich finden. Die täglichen Klagen der Menschen beweisen dieses laut genug; der Schmerz, den jemand thatsächlich fühlt, ist immer der schlimmste von allen, und mit Angst rufen sie aus: »Alles andere lieber als dieses; nichts kann so unerträglich sein, als was ich gegenwärtig erdulde!« Und deshalb sind alle unsere Bemühungen und Gedanken darauf gerichtet, vor allen Dingen das gegenwärtige Übel los zu werden als erste notwendige Bedingung für unser Glück, möge hernach kommen, was da wolle. Nichts kann, wie wir leidenschaftlich glauben, das Unbehagen, was so schwer auf uns lastet, übertreffen oder ihm auch nur gleich kommen. Und da der Verzicht auf ein gegenwärtig sich darbietendes Vergnügen ein Schmerz ist, ja oftmals ein sehr großer, wenn das Verlangen durch ein nahes und verführerisches Objekt angefacht wird, so ist es kein Wunder, daß er in derselben Weise wie ein Schmerz wirkt, und das Zukünftige in unseren Gedanken verkleinert, und uns so nötigt, uns ihm Dem Vergnügen oder dem Verlangen danach. gleichsam blindlings in die Arme zu werfen.
§ 65. Dazu kommt noch, daß ein abwesendes Gut oder, was dasselbe ist, eine zukünftige Freude, zumal wenn sie einer uns unbekannten Art angehören, selten fähig sind, irgend einem gegenwärtigen Unbehagen aus Schmerz dem Verlangen das Gegengewicht zu halten. Denn, da ihre Größe das nicht übertreffen kann, was, wenn der Genuß stattfindet, wirklich geschmeckt wird, so sind die Menschen hinlänglich zu dessen Herabsetzung geneigt, damit es irgend einem gegenwärtigen Verlangen den Platz räume, und bei sich zu denken, es werde, wenn es zur Probe komme, möglicherweise dem Ruf oder der Meinung nicht entsprechen, die allgemein davon gangbar seien, weil sie oft gefunden haben, daß nicht nur, was andere gerühmt hatten, sondern sogar, was sie selbst zu einer Zeit mit viel Vergnügen und Freude genossen hatten, sich zu einer anderen als fade oder widerlich zeigte; und deshalb sehen sie nichts darin, um dessentwillen sie auf einen gegenwärtigen Genuß verzichten sollten. Daß dies aber in der Anwendung auf das Glück eines anderen Lebens eine falsche Weise zu urteilen ist, müssen sie einräumen, es wäre denn, sie wollten behaupten, »daß Gott die nicht glücklich machen könne, die er dazu ausersehen hat«. Denn, da dasselbe für einen Zustand der Glückseligkeit bestimmt ist, so muß es sicherlich für jedermanns Wunsch und Verlangen annehmlich sein; dürften wir voraussetzen, daß der Geschmack dort ebenso verschieden sei wie hier, so würde doch das himmlische Manna jedermanns Gaumen zusagen. So viel über das verkehrte Urteil, was wir über gegenwärtige und zukünftige Freuden und Leiden fällen, wenn sie miteinander verglichen werden, und somit das Abwesende als zukünftig betrachtet wird.
§ 66. Bei der Betrachtung der Folgen von Handlungen. – Über die Dinge als gut oder schlecht um ihrer Folgen willen und wegen der in ihnen liegenden Möglichkeit, uns in Zukunft Gutes oder Übles zuzuziehen, urteilen wir auf verschiedene Weise verkehrt.
1. Wenn wir urteilen, daß thatsächlich nicht soviel Übles von ihnen abhänge, als in Wahrheit der Fall ist.
2. Wenn wir urteilen, daß die Folgen, obgleich ihr Gewicht so groß sei, doch nicht so gewiß eintreten würden, sondern daß die Sache anders ausfallen könne, oder sich den Folgen durch gewisse Mittel vorbeugen lasse, z. ,B. durch Eifer, Gewandtheit, Bekehrung, Reue etc.
Die Verkehrtheit dieser Art von Urteilen wäre leicht in jedem Punkte nachzuweisen, wenn ich sie einzeln ausführlich prüfen wollte; ich will jedoch nur soviel im allgemeinen bemerken, nämlich daß es ein sehr verkehrtes und unvernünftiges Verfahren ist, ein größeres Gut für ein geringeres wegen unsicherer Vermutungen aufs Spiel zu setzen, bevor eine gehörige Prüfung angestellt worden, die dem Gewicht der Sache und unserem Interesse an der Vermeidung von Irrtümern entspricht. Das, denke ich, muß jeder zugeben, zumal wenn er die gewöhnlichen Ursachen der falschen Urteile dieser Art in Betracht zieht, wozu unter anderen die folgenden gehören.
§ 67. Ursachen davon. – I. Unwissenheit. Wer urteilt, ohne sich vorher, so gut er irgend vermag, zu unterrichten, kann sich nicht von falschen Urteilen freihalten.
II. Unachtsamkeit. Wenn jemand sogar das übersieht, was ihm bekannt ist. Dies ist eine scheinbare und augenblickliche Unwissenheit, die unser Urteil ebenso oft irreführt wie die andere. Urteilen heißt gleichsam die Bilanze einer Rechnung ziehen und ermitteln, auf welcher Seite der Überschuß liegt. Wenn deshalb jede der beiden Seiten eilfertig zusammengehudelt wird, und einige von den Summen, die in Rechnung gezogen werden mußten, übersehen und ausgelassen werden, so verursacht diese Übereilung ein ebenso falsches Urteil, als wenn an ihrer Stelle völlige Unwissenheit obgewaltet hätte. Die gewöhnlichste Ursache davon ist das Vorherrschen einer gegenwärtigen Lust oder Unlust, gesteigert durch unsere schwache leidenschaftliche Natur, auf die das Gegenwärtige am stärksten einwirkt. Um dieser Übereilung zu wehren, sind uns Verstand und Vernunft gegeben, wenn wir nur rechten Gebrauch von ihnen machen wollen, um erst nachzuforschen und zuzusehen und dann daraufhin zu urteilen. Ohne Freiheit würde der Verstand zwecklos sein, und ohne Verstand hätte die Freiheit (wenn sie bestehen könnte) keine Bedeutung. Wenn jemand einsähe, was ihm nützen oder schaden könne, was ihn glücklich oder unglücklich machen werde, ohne daß er imstande wäre, einen Schritt daraufhin oder davonab zu thun, was hülfe ihm dann die Einsicht? Und wenn jemand die Freiheit hätte, in vollkommener Finsternis umherzuschweifen, wie viel besser wäre eine solche Freiheit, als wenn er wie eine Schaumblase von der Kraft des Windes auf und ab getrieben würde? Ob man durch einen blinden Antrieb von innen oder von außen bewegt wird, macht wenig Unterschied. Deshalb ist der erste und große Nutzen der Freiheit, blinde Übereilung zu verhindern; die hauptsächlichste Ausübung der Freiheit liegt darin, still zu stehen, die Augen zu öffnen, sich umzuschauen und die Folgen dessen, was wir zu thun im Begriff sind, so viel wie die Bedeutung der Sache erfordert, in Betracht zu ziehen. Wie viel Trägheit und Nachlässigkeit, Hitze und Leidenschaft, die Herrschaft der Mode oder angelernte Abneigungen an ihrem Teile gelegentlich zu diesen verkehrten Urteilen beitragen, will ich hier nicht näher untersuchen. Ich will nur noch ein anderes falsches Urteil hinzufügen, dessen Erwähnung ich für notwendig halte, weil es, obwohl von großem Einfluß, doch vielleicht wenig beachtet wird.
§ 68. Falsches Urteil darüber, was zu unserem Glücke nötig ist. – Alle Menschen verlangen nach Glück, das ist außer Zweifel; wie aber schon bemerkt worden, sind sie, wenn sie frei von Leid sind, geneigt, jedes Vergnügen, was zur Hand, oder ihnen durch Gewohnheit lieb geworden ist, zu ergreifen und sich daran genügen zu lassen; und weil sie somit glücklich sind, bis ein neues Verlangen, was ihnen Unbehagen verursacht, dieses Glück stört und ihnen zeigt, daß sie es nicht sind, so sehen sie sich nicht weiter um, und ihr Wille wird zu keiner Handlung bestimmt, um ein anderes bekanntes und augenscheinliches Gut zu erstreben. Denn, da wir finden, daß wir nicht alle Arten des Guten genießen können, vielmehr eins das andere ausschließt, so richten wir unser Verlangen nicht auf jedes offenbar größere Gut, wenn wir es nicht für nötig zu unserem Glücke halten; wenn wir glauben, daß wir ohne dasselbe glücklich sein können, dann bewegt es uns nicht. Dies ist eine andere Ursache, weshalb die Menschen verkehrt urteilen, wenn sie etwas zu ihrem Glücke nicht für nötig halten, was es in der That ist. Dieser Irrtum mißleitet uns sowohl bei der Wahl des Gutes, was wir erstreben, als auch sehr oft hinsichtlich der Mittel dafür, wenn es ein entferntes Gut ist. In welcher Weise es aber auch geschehen möge, sei es, daß wir unser Glück in eine Sache setzen, worin es nicht wirklich besteht, oder daß wir die Mittel als nicht notwendig dafür vernachlässigen, so wird doch jeder, der sein großes Ziel, das Glück, verfehlt, zugeben, daß er nicht richtig geurteilt hat. Was zur Entstehung dieses Irrtums beiträgt, ist die wirkliche oder vermeinte Unannehmlichkeit der Haltungen, die das Mittel zum Ziele sind, indem es den Menschen ein so widersinniges Verhalten zu sein scheint, sich unglücklich zu machen, um glücklich zu werden, daß sie sich nicht leicht dazu entschließen.
§ 69. Wir können die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit der Dinge ändern. – Die letzte unser Thema betreffende Frage ist also: ob es in unserer Macht steht, die Lust und Unlust, die irgend eine Art der Thätigkeit begleiten, umzuwandeln? Und was dies betrifft, so ist klar, daß wir es in vielen Fällen vermögen. Die Menschen können und sollen ihren Gaumen verbessern und demjenigen Geschmack geben, was entweder wirklich oder ihrer Meinung nach keinen hat. Der Geschmack des Gemütes ist ebenso mannigfach wie der leibliche, und kann gleichwie dieser auch verändert werden, und es ist ein Irrtum, zu meinen, daß die Menschen den unangenehmen oder gleichgültigen Charakter von Handlungen nicht in etwas Erfreuliches oder Wünschenswertes umwandeln könnten, wenn sie nur thun wollten, was in ihren Kräften steht. Gehörige Überlegung wird es in einigen Fällen thun und Übung, Anstrengung und Gewohnheit in den meisten. Brot oder Tabak mögen, wenn ihre Nützlichkeit für die Gesundheit nachgewiesen ist, aus Gleichgültigkeit oder Mißfallen an ihrem Geschmack vernachlässigt werden; Vernunft und Überlegung empfehlen zuerst den Versuch und lassen ihn beginnen, und der Gebrauch findet oder die Gewohnheit macht sie angenehm. Daß es sich mit der Tugend ebenso verhält, ist ganz gewiß. Handlungen sind entweder an und für sich angenehm oder unangenehm, oder insofern sie als die Mittel zu einem größeren und wünschenswerteren Endzweck betrachtet werden. Das Essen eines wohlgewürzten, unserem Gaumen zusagenden Gerichtes kann bloß durch den Genuß, den es mit sich bringt, ohne Rücksicht auf einen anderen Zweck das Gemüt bewegen, wozu die Betrachtung der in Gesundheit und Kraft (denen jene Speise dienlich ist) liegenden Freude einen neuen Gusto hinzufügen mag, der uns befähigt, einen schlecht schmeckenden Trank hinunter zu schlucken. Letzterenfalls wird eine Handlung mehr oder weniger angenehm gemacht nur durch die Betrachtung des Endzwecks und durch die geringere oder größere Überzeugung davon, daß sie auf diesen Zweck gerichtet ist, oder in notwendiger Verbindung mit ihm steht; die Freude an der Handlung selbst aber wird am besten durch Übung und Gewohnheit erworben und vermehrt. Die Erprobung söhnt uns oft mit dem aus, worauf wir in der Entfernung mit Widerwillen hinblickten, und gewöhnt uns durch Wiederholung, an dem Gefallen zu finden, was uns vielleicht bei dem ersten Versuch mißfiel. Gewohnheiten üben einen mächtigen Reiz aus, und verleihen dem, woran wir uns gewöhnen, so starke Anziehungskräfte des Behagens und Vergnügens, daß wir Handlungen, die uns durch gewohnheitsmäßige Ausübung zur anderen Natur und dadurch annehmlich geworden sind, nicht unterlassen, oder uns doch bei ihrer Unterlassung nicht behaglich fühlen können. Obgleich dies klar vor Augen liegt, und jedermanns eigene Erfahrung ihm zeigt, daß er dazu imstande ist, so bildet es doch in der auf ihr Glück abzielenden Lebensführung der Menschen einen bis zu dem Grade vernachlässigten Teil, daß es möglicherweise als ein Paradoxon aufgenommen werden wird, wenn ich sage, daß die Menschen die Dinge oder Handlungen für sich selbst mehr oder weniger angenehm machen, und dadurch dem abhelfen können, worauf man mit Recht einen großen Teil ihrer Verirrungen zurückführen darf. Da die Mode und die gemeine Meinung falsche Begriffe, und die Erziehung und Angewöhnung schlechte Sitten eingebürgert haben, so werden die wahren Werte der Dinge verschoben und der Geschmack der Menschen verdorben. Man sollte sich Mühe geben, diesen zu verbessern, und entgegengesetzte Gewohnheiten sollten unsere Genüsse umwandeln und dem, was für unser Glück notwendig oder nützlich ist, Wohlgeschmack geben. Jeder muß zugeben, daß er hiezu imstande ist, und wenn das Glück verloren gegangen ist und Unglück über ihn kommt, dann wird er einräumen, daß er unrecht daran gethan hat, es zu vernachlässigen, und sich selbst deshalb verurteilen; und ich frage jedermann, ob er das nicht oftmals gethan hat?
§ 70. Das Laster der Tugend vorziehen, ist ein offenbar verkehrtes Urteil. – Ich will mich jetzt über die falschen Urteile und die Vernachlässigung des in ihrer Macht Stehenden, wodurch die Menschen sich selbst irre führen, nicht weiter verbreiten. Das würde einen ganzen Band erfordern und gehört nicht zu meiner Aufgabe. Wie oft aber auch falsche Begriffe oder eine schmähliche Vernachlässigung des in ihrer Macht Stehenden die Menschen von ihrem Wege zum Glück ableiten und in so verschiedene Lebensläufe zerstreuen mögen, wie wir sehen, so bleibt es doch gewiß, daß die fest auf ihre wahren Grundlagen gestellte Moralität unfehlbar die Wahl eines jeden bestimmen muß, der nur überlegen will, und wer nicht soweit ein vernünftiges Wesen sein will, daß er ernstlich über unendliches Glück und Elend nachdenkt, der muß notwendig sich selbst verurteilen als einen, der seinen Verstand nicht so gebraucht, wie er sollte. Die Belohnungen und Strafen in einem anderen Leben, die der Allmächtige festgesetzt hat, um die Befolgung seiner Gesetze zu erzwingen, sind gewichtig genug, um gegenüber jeder Lust und jedem Leide, die in diesem Leben zu finden sind, die Wahl zu bestimmen, wenn auch nur die bloße Möglichkeit eines ewigen Zustandes in Betracht gezogen wird, woran niemand irgendwie zweifeln kann. Wer zugiebt, daß ausgesuchte und endlose Glückseligkeit nur die mögliche Folge eines guten Lebens hienieden, und der entgegengesetzte Zustand der mögliche Lohn eines schlechten sein könne, muß eingestehen, daß er sehr verkehrt urteile, wenn er nicht zu dem Schlusse kommt, daß ein tugendhaftes Leben mit der sicheren Erwartung ewig dauernder Seligkeit, die kommen mag, einem lasterhaften mit der Furcht jenes schrecklichen Zustandes von Elend vorzuziehen sei, das leicht möglicherweise über den Schuldigen kommen mag, oder bestenfalls der schrecklichen unsicheren Hoffnung auf Vernichtung. Dies verhält sich augenscheinlich so, wenn auch das tugendhafte Leben hier nichts als Leid enthielte, und das lasterhafte fortwährendes Vergnügen, womit es doch meistens ganz anders bestellt ist, indem böse Menschen, selbst was ihren gegenwärtigen Besitz anbetrifft, sich keines großen Vorzugs zu rühmen haben, ja sie sich, denke ich, alles wohl erwogen, auch hier im Nachteil befinden. Wenn aber unendliches Glück in die eine Wagschale gelegt wird, gegen unendliches Elend in der anderen, wenn das Schlimmste, was dem frommen Menschen zu teil wird, falls er sich irrt, das Beste ist, was der böse erlangen kann, wenn er Recht hat: wer will es daraufhin wagen, wenn er nicht den Verstand verloren hat? Wer würde, so lange er bei Sinnen ist, es vorziehen, in die Möglichkeit unendlichen Elends zu geraten, falls, selbst wenn er diesem entgeht, bei solchem Wagnis nichts zu gewinnen ist? Wohingegen andererseits der verständige Mann gegen den möglichen Gewinn unendlicher Glückseligkeit nichts aufs Spiel setzt, falls seine Erwartung nicht zutreffen sollte. Wenn der gute Mensch recht hat, so wird er ewig glücklich; wenn er sich irrt, so wird er doch nicht unglücklich, sondern fühlt nichts. Andererseits, wenn der böse Mensch recht hat, so wird er nicht glücklich; wenn er sich irrt, so wird er unendlich elend. Muß es nicht ein augenscheinlichst verkehrtes Urteil sein, was nicht sofort sieht, welche Seite in diesem Falle den Vorzug verdient? Ich habe es vermieden, irgend etwas über die Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Zustandes zu sagen, weil ich beabsichtigte, hier das verkehrte Urteil nachzuweisen, daß, wie jeder zugeben muß, auf Grund seiner eigenen Prinzipien, man mag sie nehmen, wie man will, derjenige fällt, der nach irgend welcher Überlegung die kurzen Freuden eines lasterhaften Lebens vorzieht, während er weiß und wissen muß, daß ein künftiges Leben wenigstens möglich ist.
§ 71. Rekapitulation. Um mit dieser Untersuchung über die menschliche Freiheit zum Abschluß zu kommen, so fürchtete ich von Anfang an, daß dieselbe, so wie sie früher lautete, einen Irrtum enthalten möge, und nach ihrer Veröffentlichung vermutete das auch einer meiner Freunde, ein sehr urteilsfähiger Mann, obgleich er ihn mir nicht speciell nachweisen konnte, was mich zu einer genauen Revision dieses Kapitels veranlaßte. Dabei stieß ich auf einen sehr leichten und kaum bemerkbaren Fehler, den ich begangen hatte, indem ich ein scheinbar gleichbedeutendes Wort für ein anderes setzte, und diese Entdeckung führte mich zu meiner gegenwärtigen Ansicht, die ich hier in dieser zweiten Ausgabe der gelehrten Welt zur Beurteilung vorlege, und die kurz gesagt folgende ist: Freiheit ist die Macht, zu handeln oder nicht zu handeln, je nach der Entscheidung des Gemütes. Die Kraft, die Handlungsfähigkeit in den einzelnen Fällen zur Bewegung oder zur Ruhe zu bestimmen, nennen wir den Willen. Das, was in dem Zuge unserer willkürlichen Handlungen den Willen zu einem Wechsel in der Thätigkeit veranlaßt, ist irgend ein gegenwärtiges Unbehagen, was aus einem Verlangen entspringt, oder wenigstens immer von einem solchen begleitet ist. Das Verlangen wird immer durch ein Übel angeregt, dem wir entfliehen möchten, weil völlige Freiheit von Schmerz immer einen notwendigen Teil unseres Glückes ausmacht, dagegen erregt nicht jedes Gut, sogar nicht jedes größere Gut, stets ein Verlangen, weil es keinen notwendigen Teil unseres Glückes auszumachen oder nicht dafür zu gelten braucht. Denn alles, was wir verlangen, ist nur glücklich zu sein. Obgleich aber dieses allgemeine Verlangen nach Glück beständig und unwandelbar wirksam ist, kann doch die Befriedigung jedes besonderen Verlangens von der Bestimmung des Willens zu zweckdienlichen Handlungen solange abgehalten werden, bis wir reiflich geprüft haben, ob das einzelne vor Augen liegende Gut, wonach wir gerade verlangen, einen Teil unseres wahren Glückes ausmacht, oder ob es mit diesem verträglich oder nicht verträglich ist. Das Ergebnis unseres auf diese Prüfung gestützten Urteils bestimmt schließlich den Menschen, der nicht frei sein könnte, wenn sein Wille durch etwas anderes als sein eigenes von seinem eigenen Urteil geleitetes Verlangen bestimmt würde. Bekanntlich wird die Freiheit von manchen in eine der Entscheidung seines Willens voraufgehende Indifferenz des Menschen gesetzt. Ich möchte nun wünschen, daß die, welche auf eine solche voraufgehende Indifferenz, wie sie die Sache nennen, so großes Gewicht legen, uns deutlich sagten, ob diese vorausgesetzte Indifferenz ebensowohl dem Denken und Urteilen des Verstandes voraufgehe wie der Entscheidung des Willens. Denn sie zwischen beiden stattfinden zu lassen, d. h. unmittelbar nach dem Urteil des Verstandes und vor der Entscheidung des Willens, hat seine Schwierigkeit, weil die Entscheidung des Willens unmittelbar auf das Urteil des Verstandes folgt Unter »Entscheidung des Willens« versteht Locke hier und einige Zeilen weiterhin den Entschluß: »ich will so handeln oder nicht handeln«, der auf das Urteil des Verstandes: »es ist für mich am besten, so zu handeln oder nicht zu handeln«, folgt. Allein, wenn die Ausführung dieses Entschlusses noch ausgesetzt bleibt, ist er in Wahrheit kein Willensakt, sondern nur ein Akt des Verstandes (Intellektes), er sagt nicht mehr als: »ich werde handeln oder nicht handeln«, d. h. »ich werde wollen oder nicht wollen«, denn das wirkliche Wollen ist identisch mit dem Handeln, es ist das in diesem enthaltene bewegende Prinzip und überhaupt kein Gedanke (vgl. die Anmerkungen zu §§ 4 und 23 dieses Kapitels). In der Ausführung des negativen Entschlusses: »ich will nicht so handeln«, liegt nur dann eine Aktivität des Willens, wenn dieser vermöge der Macht, die er bei dem Menschen über den Intellekt besitzt (vgl. Anmerkung zu Kapitel X, § 10), die in letzterem auftauchenden Motive zum Handeln unterdrückt.; die Freiheit aber in eine dem Denken und Urteilen des Verstandes voraufgehende Indifferenz setzen, das heißt, wie mir scheint, sie in einen Zustand der Dunkelheit setzen, worin wir nichts von ihr sehen noch sagen können; wenigstens wird sie einem ihrer unfähigen Subjekt beigelegt, da kein wirkendes Wesen anders der Freiheit für fähig gehalten wird, als infolge von Denken und Urteilen. Ich bin nicht wählerisch in den Ausdrücken und deshalb bereit mit denen, die gerne so reden wollen, zu sagen, daß die Freiheit in einer Indifferenz besteht; aber das ist eine Indifferenz, die nach dem Urteil des Verstandes, ja sogar nach der Entscheidung des Willens übrigbleibt, eine Indifferenz nicht des Menschen, (denn, nachdem er einmal geurteilt hat, was das beste sei, zu thun oder zu unterlassen, ist er nicht länger indifferent;) sondern eine Indifferenz der Thatkraft des Menschen, die, weil sie gleichermaßen nach wie vor der Entscheidung des Willens fähig ist wirksam zu werden oder nicht, sich in einem Zustande befindet, der, wenn man will, Indifferenz genannt werden kann; und soweit, wie diese Indifferenz reicht, ist der Mensch frei, aber nicht weiter; z. B. ich bin imstande meine Hand zu bewegen oder sie ruhen zu lassen, jene Thatkraft ist indifferent gegen das Bewegen oder Nichtbewegen meiner Hand; in dieser Hinsicht bin ich dann vollkommen frei. Mein Wille bestimmt die Thatkraft ruhig zu bleiben; ich bin gleichwohl frei, weil die Indifferenz dieser meiner Thatkraft gegen das Handeln oder Nichthandeln noch fortdauert; die Kraft meine Hand zu bewegen, ist durch den Beschluß meines Willens, der zur Zeit Ruhe befiehlt, ganz und gar nicht vermindert; die Indifferenz jener Kraft, zu handeln oder nicht zu handeln, ist genau dieselbe wie vorher, was sich zeigen wird, wenn der Wille sie auf die Probe stellt, indem er das Gegenteil befiehlt. Wenn aber meine Hand während ihrer Ruhe von einer plötzlichen Lähmung ergriffen wird, dann ist die Indifferenz jener Thatkraft dahin und mit ihr meine Freiheit; ich habe in dieser Beziehung keine Freiheit mehr, sondern befinde mich in der Notwendigkeit, meine Hand ruhen zu lassen. Andererseits, wenn meine Hand durch einen Krampf in Bewegung gesetzt wird, so ist die Indifferenz jener Thatkraft durch diese Bewegung aufgehoben, und meine Freiheit ist in solchem Falle verloren, denn ich befinde mich in der Notwendigkeit, meine Hand sich bewegen zu lassen. Ich habe dies hinzugefügt, um zu zeigen, in welcher Art von Indifferenz die Freiheit mir zu bestehen scheint und in keiner anderen, weder einer thatsächlichen noch einer eingebildeten.
§ 72. Richtige Begriffe über die Natur und den Umfang der Freiheit sind von so großer Bedeutung, daß man mir hoffentlich diese Abschweifung verzeihen wird, wozu mein Bestreben, sie zu erläutern, mich geführt hat. Die Ideen des Willens, des Wollens, der Freiheit und der Notwendigkeit kamen mir in diesem Kapitel über die Kraft von selbst in den Weg. In einer früheren Ausgabe dieser Abhandlung gab ich über meine sie betreffenden Gedanken gemäß der Einsicht Rechenschaft, die ich damals besaß, und jetzt räume ich, als ein Freund der Wahrheit und kein Verehrer meiner eigenen Lehren, eine gewisse Veränderung meiner Ansicht ein, wofür ich glaube Grund gefunden zu haben. Bei dem zuerst Geschriebenen folgte ich mit unbefangener Parteilosigkeit der Wahrheit, wohin ich glaubte, daß sie mich leite. Da ich aber weder eitel genug bin, um mich für unfehlbar zu halten, noch unredlich genug, um aus Furcht vor einer Beschädigung meines Rufes meine Irrtümer zu verbergen, so habe ich in demselben aufrichtigen Streben nach Wahrheit allein mich nicht gescheut, das zu veröffentlichen, was eine genauere Untersuchung mir gezeigt hat. Es ist nicht unmöglich, daß manche Leute meine früheren Gedanken für richtig halten, und andere (wie ich schon erfahren habe) diese neueren, und noch andere keine von beiden. Über diese Verschiedenheit in den Ansichten der Menschen werde ich mich gar nicht wundern, weil unparteiische Folgerungen aus Vernunftgründen über bestrittene Punkte so selten, und exakte über abstrakte Begriffe nicht eben leicht sind, besonders, wenn sie eine gewisse Länge haben. Und deshalb würde ich mich für nicht wenig verpflichtet halten gegen jeden, der auf diesen oder anderen Grundlagen mit allen Schwierigkeiten, die bei diesem Thema der Freiheit noch übrig sein mögen, reinlich aufräumen wollte.
Bevor ich dieses Kapitel schließe, wird es vielleicht zweckdienlich sein und dazu helfen, uns von der Kraft klarere Vorstellungen zu geben, wenn wir unsere Gedanken einen etwas genaueren Blick auf das werfen lassen, was Thätigkeit heißt. Ich habe oben gesagt, daß wir nur von zwei Arten der Thätigkeit Ideen hätten, nämlich von der Bewegung und dem Denken. Indessen werden diese, obwohl sie zu den Thätigkeiten gerechnet und so genannt werden, sich doch bei näherer Betrachtung nicht immer völlig als solche erweisen. Denn, wenn ich nicht irre, giebt es von beiden Arten Beispiele, die bei gehöriger Erwägung eher als ein Leiden wie als eine Thätigkeit erscheinen, und folglich insofern bloß als Wirkungen passiver Kräfte in den Subjekten, die doch um ihrentwillen als thätige Wesen angesehen werden. Denn in diesen Fällen empfängt die Substanz, die sich bewegt oder denkt, den Eindruck, wodurch sie in diese Thätigkeit versetzt wird, bloß von außen, sie bethätigt sich also lediglich durch ihre Fähigkeit, solch einen Eindruck von einem äußeren Agens zu empfangen, und solche Kraft ist nicht eigentlich eine aktive Kraft, sondern bloß eine passive Fähigkeit des Subjektes. Zuweilen versetzt die Substanz oder das wirksame Wesen sich selbst durch seine eigene Kraft in Thätigkeit, und das ist in eigentlichem Sinne aktive Kraft. Jede Modifikation, die sich an einer Substanz vorfindet, und wodurch sie eine Wirkung hervorbringt, nennen wir Thätigkeit; z. B. eine solide Substanz wirkt durch ihre Bewegung auf eine andere oder verändert deren wahrnehmbare Ideen, und deshalb nennen wir diese Modifikation der Bewegung Thätigkeit. Gleichwohl ist diese Bewegung an jener soliden Substanz, recht betrachtet, nur ein leidender Zustand, wenn sie dieselbe nur von einem äußeren Agens empfangen hat. So daß die aktive Kraft der Bewegung sich an keiner Substanz findet, die nicht, während sie sich in Ruhe befindet, eine Bewegung in sich selber oder in einer anderen Substanz beginnen lassen kann. Ebenso wird beim Denken die Kraft, Ideen oder Gedanken durch die Einwirkung einer äußeren Substanz zu empfangen, eine Kraft des Denkens genannt, allein das ist nur eine passive Kraft oder Fähigkeit. Dagegen, nach eigenem Belieben außer Sicht befindliche Ideen vor die Augen zu bringen und sie zu vergleichen, wie man es für passend hält, das ist eine aktive Kraft. Diese Erwägung kann in gewissem Maße dazu dienen, uns vor Irrtümern über Kräfte und Tätigkeiten zu bewahren, wozu wir durch die Grammatik und den gewöhnlichen Bau der Sprachen leicht verleitet werden können, indem das, was durch die von den Grammatikern aktiv genannten Verba bezeichnet wird, nicht immer eine Thätigkeit ist; z. B. obgleich der Satz: »ich sehe den Mond oder einen Stern,« oder: »ich fühle die Wärme der Sonne,« ein aktives Verbum enthält, so bezeichnet er doch keinerlei Thätigkeit in mir, wodurch ich auf jene Substanzen einwirke, sondern die Aufnahme der Ideen von Licht, runder Gestalt und Wärme, wobei ich nicht aktiv, sondern rein passiv bin, und in der gegebenen Stellung meiner Augen oder meines Körpers nicht umhin kann, sie aufzunehmen. Wenn ich aber meine Augen einer anderen Richtung zuwende, oder meinen Körper aus dem Sonnenschein entfern, so bin ich in eigentlichem Sinne aktiv, weil ich mich nach eigener Wahl vermittelst einer mir innewohnenden Kraft in Bewegung setze. Solch eine Thätigkeit ist das Produkt aktiver Kraft.
§ 73. Somit habe ich in kurzen Zügen einen Überblick über unsere ursprünglichen Ideen gegeben, wovon alle übrigen abgeleitet sind, und aus denen sie bestehen; wollte ich diese philosophisch betrachten und prüfen, aus welchen Ursachen sie entspringen, und woraus sie gebildet sind, so glaube ich, sie ließen sich alle auf folgende sehr wenige primäre und ursprüngliche zurückführen, nämlich: Ausdehnung, Solidität, Beweglichkeit oder das Vermögen bewegt zu werden, die wir vermittelst unserer Sinne von den Körpern erhalten; Verstand (perceptivity) oder das Vermögen wahrzunehmen und zu denken, Wille (motivity) oder die Kraft zu bewegen, die wir durch Selbstbeobachtung von unserem Geiste erhalten. Ich bitte um die Erlaubnis, diese beiden neuen Wörter zu gebrauchen, um der Gefahr zu entgehen, bei dem Gebrauche zweideutiger Ausdrücke mißverstanden zu werden. Wenn wir diesen noch Dasein, Dauer, Zahl, die beiden – den einen wie den anderen D. h. sowohl den durch Sinneswahrnehmung wie den durch Selbstbeobachtung gewonnenen Ideen. – angehören, hinzufügen, so haben wir vielleicht alle ursprünglichen Ideen, auf denen die übrigen beruhen. Denn aus diesen würde sich meiner Meinung nach die Natur der Farben, Töne, Geschmacksarten, Gerüche und aller unserer anderen Ideen erklären lassen, wenn unsere Sinne nur scharf genug wären, um die in verschiedener Weise modifizierten Gestalten und Bewegungen der kleinen Körperchen wahrzunehmen, die jene mancherlei Sinnesempfindungen in uns hervorbringen. Da meine gegenwärtige Aufgabe aber nur darin besteht, die Kenntnis der Dinge zu untersuchen, die der Geist aus den Ideen und Erscheinungen gewinnt, zu deren Entnahme aus den Dingen Gott ihn befähigt hat, und die Art und Weise, wie der Geist zu dieser Kenntnis gelangt, nicht aber deren Nämlich der Ideen und Erscheinungen. Ursachen oder Entstehungsweise, so werde ich mich nicht im Widerspruch mit dem Zwecke dieser Abhandlung darauf einlassen, die eigentümliche Beschaffenheit der Körper und die Konfiguration ihrer Teile philosophisch zu untersuchen, wodurch sie die Kraft haben, die Ideen ihrer sinnlichen Eigenschaften in uns hervorzubringen; ich werde in diese Erörterung nicht weiter eingehen, da es für meinen Zweck genügt zu bemerken, daß Gold oder Safran die Kraft hat, die Idee von gelb, und Schnee oder Milch, die Idee von weiß in uns hervorzubringen, die wir bloß durch unser Gesicht gewinnen können, ohne das Gewebe der Teile jener Körper zu untersuchen, oder die eigentümlichen Figuren oder die Bewegung der Teilchen, die von ihnen zurückprallen, um in uns jene eigentümliche Sinneswahrnehmung zu verursachen; obgleich, wenn wir über die bloßen Ideen in unserem Bewußtsein hinausgehen, und nach ihren Ursachen forschen wollten, wir uns in keinem sinnlich wahrnehmbaren Objekt irgend sonst etwas, wodurch es mannigfache Ideen in uns hervorbrächte, vorhanden denken können als die verschiedene Größe, Gestalt, Textur und Bewegung seiner unsichtbaren Teilchen.